Rezension zu Die enthemmte Mitte
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Rezension von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Thema
Seit 2002 untersucht die Leipziger Arbeitsgruppe um Brähler und
Decker im Zwei-Jahres-Rhythmus mittels durch Fragebögen erhobene
Daten rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Die jetzt
vorgelegte Untersuchung zeigt seit einigen Jahren eine verstärkte
Artikulierung von antidemokratischen Ideologien, eine Polarisierung
und einen Legitimationsverlust demokratischer Strukturen.
Autoritäre Einstellungen mit entsprechenden Aggressionen, vor allem
gegenüber Migranten, seien weit verbreitet und bildeten eine
Herausforderung für den Rechtsstaat. Das Ziel der Veröffentlichung
ist, eine gesellschaftspolitische Debatte zum Thema anzuregen.
Insgesamt haben 15 Autoren die Beiträge verfasst.
Herausgeber
Oliver Decker ist Leiter des »Forschungsbereichs Sozialer und
Medizinischer Wandel« und Vorstandssprecher des »Kompetenzzentrums
für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung« an der Universität
Leipzig.
Johannes Kiess ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Lehrstuhl für
vergleichende Kultursoziologie und politische Soziologie Europas«
an der Universität Siegen.
Elmar Brähler war bis 2013 Leiter der »Abteilung für Medizinische
Psychologie und Medizinische Soziologie« der Universität Leipzig
und ist Gastwissenschaftler an der Klinik für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in zwei Teile.
1. Der erste Abschnitt »Die enthemmte Mitte – Rechtsextreme und
autoritäre Einstellung 2016« enthält die Untersuchungsergebnisse
2012-2016 zu den Themen Rechtsextremismus, Wahlverhalten,
Polarisierung und Radikalisierung der Gesellschaft;
2. der zweite Abschnitt »Zum Stand der Zivilgesellschaft« befasst
sich mit der AFD, Pegida, dem NSU-Prozess und dem rechten Terror
gegen Flüchtlinge.
Zum 1. Abschnitt
Decker & Brähler stellen im ersten Kapitel unter dem Thema
»autoritäre Dynamiken« kurz die Ergebnisse und Fragestellung der
bisherigen »Mitte-Studien« im Verlauf vor. Das Ergebnis ist
einerseits eine zunehmende Stärkung der Zivilgesellschaft,
andererseits eine Entwicklung von antidemokratischen Milieus. (S.
11-21).
Decker, Kiess, Brähler und die Psychologin Eggers referieren im
zweiten Kapitel die Methodik (Fragebogen und Repräsentativerhebung)
und die Ergebnisse in Bezug auf rechtsextreme Einstellungen:
Befürwortung einer rechtsextremen autoritären Diktatur,
Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus,
Sozialdarwinismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus (im
Vergleich zwischen West/Ost, Geschlecht, Bildung, Erwerbsstatus,
Wahlverhalten, Kirchenzugehörigkeit und Mitgliedschaft in einer
Gewerkschaft), graphisch dargestellt im Langzeitverlauf. Im
Abschnitt »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«, differenziert
nach Akzeptanz der Demokratie, Deprivation, Autoritarismus,
Gewaltbereitschaft und Sexismus werden weitere Fragebogenerhebungen
vorgestellt, und in »Das Vertrauen in die Institutionen« die
Verschwörungs-Mentalität, u.a. Einstellung zu den Medien und zur
Pegida-Bewegung (S. 23-66).
Brähler, Kiess und Decker befassen sich im 3. Kapitel mit dem Thema
»Politische Einstellungen und Parteipräferenz: Die Wähler/innen,
Unentschiedene und Nichtwähler 2016« fokussiert auf Bildung/Abitur,
Alter, Geschlecht, Konfession und Haushaltseinkommen. Die
Ergebnisse werden zusammengefasst einmal unter den Stichworten
Zustimmung zu einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus,
Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und
Verharmlosung des Nationalsozialismus; zum anderen unter den
Stichworten Zustimmung zu Demokratie, differenziert nach der
Verfassung und ihrem tatsächlichen Funktionieren, Einstellung zu
Muslimen und Asylbewerbern, Fremdheitsgefühl im eigenen Land,
Problemen mit Sinti und Roma, Homosexualität, Pressekritik,
Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft. Ein Ergebnis: Die Klientel
der AfD besteht zu zwei Dritteln aus Männern, sie ist
unterdurchschnittlich gebildet, hat ein eher
unterdurchschnittliches Einkommen und ist jünger als der
Durchschnitt der Bevölkerung. Im Vergleich zu 2014 zeigt sich eine
zunehmende Radikalisierung in allen Dimensionen rechtsextremer
Einstellungen, einschließlich der Gewaltakzeptanz und
Gewaltbereitschaft. (S. 67-94)
Decker und Brähler gehen im 4. Kapitel »Ein Jahrzehnt der
Politisierung: Gesellschaftliche Polarisierung und gewaltvolle
Radikalisierung in Deutschland zwischen 2006 und 2016« Bezug
nehmend auf die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen seit 2005, die
Finanzmarktkrise und die globale Migrationsbewegung auf die
Radikalisierung und Polarisierung in verschiedenen politischen
Milieus (modernes, konformes, ressentimentgeladenes, latent
antisemitisch-autoritäres, ethnozentrisch-autoritäres,
rebellisch-autoritäres) in Deutschland ein und stellen anhand von
Tabellen dar, wie sehr sich die Milieus verändert haben
insbesondere in Bezug auf latente und manifeste Ressentiments
gegenüber als fremd oder abweichend wahrgenommenen Gruppen; weniger
Vorurteile finden sich nur im »Modernen Milieu«. (S. 95-136)
Der Soziologe Alexander Yendell, Decker und Brähler gehen im 5.
Kapitel der Frage nach: »Wer unterstützt Pegida und was erklärt die
Zustimmung zu den Zielen der Bewegung?« Die Grafiken zeigen, dass
die manifest-rechtsextreme Einstellung zwar partiell eher
abgenommen, aber die Pegida-Befürwortung und Islamfeindschaft
zugenommen hat. Außer bei den Pegida-Anhängern gab es 16,4 %
Zustimmung bei den CDU/CSU und SPD-Wählern. Die geringste
Zustimmung zeigten Wähler mit Abitur oder einem abgeschlossenen
Studium. Die Zustimmung ist danach abhängig von einer
rechtsextremen und islamfeindlichen Einstellung und weniger von
anderen Faktoren wie u.a. Ohnmacht, politische und soziale
Deprivation. Weitere Faktoren der Zustimmung seien
Gewaltbereitschaft und Ablehnung der Demokratie. (S. 137-152)
Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Paul L. Plener und der ärztliche Direktor der Klinik für Kinder-
und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm Jörg
M. Fegert thematisieren im 6. Kapitel »Unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge in Deutschland: Eine vulnerable Gruppe trifft auf die
›WiIlkommenskultur‹«. In Deutschland waren 2015 31,1 % der
Flüchtlinge unter 18 Jahre alt. Es handelt sich meist um männliche,
durch den Verlust der Familie und die lebensbedrohliche Flucht
traumatisierte Jugendliche mit den Symptomen einer
posttraumatischen Belastungsstörungen in ca. 50% der Fälle. Eine
Untersuchung zur Aufnahmebereitschaft (einschließlich beruflicher
und schulischer Integration) und Bereitschaft zur Abschiebung
zeigte, dass eine weitere Aufnahme nur von einem 1/5 der Befragten
unterstützt wurde; eine Abschiebung wurde jedoch überwiegend bei
Flüchtlingen aus den Balkanstaaten befürwortet. Eine Schul- und
Berufsausbildung fanden breite Zustimmung verbunden mit einem
Bleiberecht nach erfolgreicher Ausbildung. Eine Verschärfung der
Abschiebung nach dem Asylpaket II sei aus jugendpsychiatrischer
Sicht problematisch. (S. 153-163)
Zum 2. Abschnitt
Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes
»Rechtsextremismus/Neonazismus« an der Hochschule Düsseldorf
Alexander Häusler berichtet im 7. Kapitel über »Die AfD als
rechtspopulistischer Profiteur der Flüchtlingsdebatte«, die sich
das Einwanderungsthema politisch zu Nutze mache wie auch die
Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und
Sachen-Anhalt gezeigt hätten. Außenseiterstatus, behaupteter
Sachverstand und Besitz der Wahrheit wirkten offensichtlich
anziehend auf bestimmte Wählergruppen. Die weitere Entwicklung
hänge davon ab, wie der AfD inhaltlich politisch begegnet werde und
sozioökonomische Ursachen aktiv angegangen würden. (S. 167-178)
Der Soziologe Thorsten Mense, der Philosoph und
Politwissenschaftler Franz Schubert und der Politikwissenschaftler
und Informatiker Gregor Wiedemann thematisieren »Von ›besorgten
Bürgern‹ zu Widerstandskämpfern? – Pegida und die Neue Rechte«.
Nach einem historischen Exkurs über die Neue Rechte in Deutschland
und die Annäherung an die Protest- und Diskursintervention (Pegida
und Legida) wird auf die Entstehung von Feindbildern »Wir gegen die
Anderen« eingegangen, auf den Verlust von nationalstaatlicher
Souveränität und den »Widerstand als Bürgerpflicht«. Die
Bürgerbewegungen würden von der Neuen Rechten benutzt nicht in,
sondern gegen die parlamentarische Demokratie zu intervenieren. (S.
179-200)
Die Juristin Kati Lang beschreibt unter dem Titel »Die ›Härte‹ des
Rechtsstaates« das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis im
polizeilichen Erfassungssystem und den Übergang vom Staatsschutz
zum Menschenrechtsschutz in den 1990er Jahren. Der Aufbau von
politisch motivierter Kriminalität (PMK) nimmt Bezug auf rechte und
linke Kriminalität, Ausländer und Sonstige. Themenfelder, dass z.B.
Fundamentalismus nur dem Islamismus zugeordnet wird und nicht auch
anderen religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen, könnten zu
einem verkürzten Blick und Erkenntnisdefiziten führen und zu
falschen praktischen Konsequenzen bei der polizeilichen
Ermittlungstätigkeit (z.B. der NSU-Prozeß). Da es keine
übergeordnete Verlaufsstatistik für Straftaten, denen
menschenverachtende Motive zugrunde lägen, von Polizei und Justiz
gebe, bestünden Defizite bei der Ahndung vorurteilsmotivierter
Hasskriminalität.
Diskussion
Interessant ist im Zeitverlauf die stärkere Befürwortung einer
rechts-autoritären Diktatur in Ostdeutschland, die Einstellung zum
Staat und zur Pegida-Bewegung die m.E. nicht mit
Deprivationserfahrungen (S. 47), eher vielleicht mit immer noch
vorhandenen autoritären Erziehungsstilen und illusionären
Erwartungen (S. 54) zu tun haben. Das sind Fragen der
Interpretation der vorgestellten Untersuchungsergebnisse, die
selbstverständlich auch die Meinung der Autoren wiedergeben, denen
man, das ist auch nicht die Absicht der Veröffentlichung, nicht
unbedingt folgen muss. Vielmehr ist das Buch so angelegt, dass die
vorgelegten Untersuchungsergebnisse zu kritischem Nachdenken
anregen und ein buntes und sehr gemischtes Bild – keineswegs nur
negatives wie der vielleicht etwas reißerische Titel suggeriert –
von autoritären und rechtsextremen Einstellungen in Deutschland
zeichnet. Die möglicherweise diesen Einstellungen zugrunde
liegenden realistischen Ängste und unrealistischen Phantasien sind
ein Untersuchungsfeld, das mich ganz persönlich als
Psychotherapeutin interessiert, aber über die Fragestellung, die
den Ist-Zustand beschreibt, hinaus geht.
Ich habe das Buch mit Interesse gelesen und denke, dass es Stoff
zum weiteren Nachdenken und zur Diskussion bietet. Es gehört zu
einem demokratischen Klima, das auch kritische und abweichende
Meinungen vertreten und artikuliert werden können und man sich mit
ihnen beschäftigen muss. Die Toleranz endet dort, wo Gewalt im
Spiel ist und eine offene Diskussion über sehr persönliche Motive,
wie z.B. Neid, Ressentiments und unverarbeitete Kränkungen,
verweigert wird.
Fazit
Wie der Aufbau zeigt, handelt es sich um ein inhalts- und
facettenreiches Buch, das durch die vorgestellten
Untersuchungsergebnisse reichlich Material zum Nachdenken und zur
Diskussion bietet. Im einzelnen muss jeder Leser prüfen, in wie
weit er den Interpretationen der Autoren folgt.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 29.08.2016 zu: Oliver Decker,
Johannes Kiess, Elmar Brähler (Hrsg.): Die enthemmte Mitte.
Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2630-9. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/21015.php, Datum des Zugriffs
07.12.2016.
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