Rezension zu Körper sein und Körper haben
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Rezension von Bettina Zehetner
Der Körper als Organwelt – Den Schmerz zur Sprache bringen
Reinhard Plassmann ist einer der Pioniere der psychosomatischen und
psychotherapeutischen Medizin in Deutschland. Mit seinem
psychoanalytischen Blick erhellt er das Beziehungsgeschehen
zwischen Patient_in und Psychotherapeut_in und verdeutlicht die
Vielfalt der Bedeutungen, für die der Körper mit seinen kreativen
Symptomen stehen kann. Mangelnde Symbolisierungsfähigkeit lässt
Menschen ihren Körper als Symbol für unbewusste Konflikte einsetzen
und die unterschiedlichsten Beschwerden und Schmerzen ausbilden.
Eine sehr häufige und quälende Produktion ist der Kopfschmerz, dem
der Autor den Mittelteil (das Herzstück?) des vorliegenden
Sammelbandes von Artikeln aus den 80er- und 90er-Jahren widmet. Die
Texte haben nichts an Aktualität verloren und sind lebendig zu
lesen durch die sehr persönlich geschilderten Fallgeschichten. Eine
Stärke dieser Fallvignetten ist der behutsame und selbstkritische
Blick des Analytikers, der immer wieder bereit ist, bestehende
Theorien in der konkreten Arbeit mit Patient_innen einer Prüfung zu
unterziehen. So stark die psychoanalytische Perspektive in ihrer
Wirksamkeit herausgearbeitet ist, so blass bleibt leider die
philosophische Basis hermeneutischer, anthropologischer und
phänomenologischer Theorien zum Leib. Merleau-Ponty, den »Schöpfer«
des modernen Leib-Konzepts hier nicht zu erwähnen und keinen Nutzen
aus seinen Schriften zur chiastischen Verschränkung von Leib und
Sprache, der »intercorporéité«, dem Zur-Welt-Sein des Leibes in
seiner sozialen und kulturellen Dimension zu ziehen bildet ein
Manko in dem ansonsten dichten und spannenden Werk.
Eine besondere Herausforderung an Berater_innen und
Psychotherapeut_innen stellen das selbstverletzende Verhalten und
die sogenannten artifiziellen Krankheiten dar (sich vom Patienten/
von der Patientin selbst zugefügte Schädigungen bis hin zum
Münchhausen-Syndrom, bei dem immer wieder neue Lebens- und
Krankheitsgeschichten erfunden werden). Berührend ist immer wieder
die Erkenntnis, wie ein Symptom – und sei es noch so befremdlich in
seiner selbstschädigenden Qualität – einen Selbstheilungsversuch
darstellt, um »Schlimmeres« (Dekompensation, Suizid) zu verhindern.
Die Lebendigkeit des Blutes kann sich selbst ritzende Personen vor
Gefühlstaubheit oder Psychose bewahren. Der notwendige Rückzug beim
Kopfschmerzanfall kann vor völliger Reizüberflutung bewahren, die
zuvor als Abwehr gegen unerträgliche aggressive Regungen und das
Gefühl der Hilflosigkeit eingesetzt wurde. Die Symptombildungen
werden verstehbar, die Konflikte in langfristiger therapeutischer
Arbeit spürbar, benennbar und kommunizierbar – eine oft zähe und
schwierige, immer wieder auch befreiende und befriedigende
Arbeit.
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