Rezension zu Nur die Bodenhaftung nicht verlieren (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Annemarie Jost
Thema und Zielgruppe
Miriam K. Sarnecki beleuchtet – auch im Vergleich mit anderen
psychischen Störungen – die Psychodynamik der
Borderline-Persönlichkeitsstörung und die Therapie aus
psychoanalytischer Sicht. Die Autorin zeigt empathisch auf, welche
Leistung Betroffene erbringen, um trotz der gravierenden
psychischen Störung möglichst leistungs- und kontaktfähig zu
bleiben, und geht auf Analogien zwischen der
Borderline-Persönlichkeitsstörung und der heutigen postmodernen
Gesellschaft ein. Das Buch richtet sich in erster Linie an
TherapeutInnen.
Autorin
Miriam K. Sarnecki ist Hebamme, psychotherapeutische Psychologin
und Analytikerin und studierte darüber hinaus Theologie und
Judaistik. Sie promovierte im Fach Jüdische Studien und publiziert
auch in diesem Gebiet. Sie ist freiberuflich als analytische
Therapeutin tätig.
Aufbau
Das knapp gehaltene Buch gliedert sich – neben einem Vorwort von
Stavros Mentzos, der Einleitung und einer Zusammenfassung – in fünf
Kapitel und ein ausführliches Glossar:
1. Definition der Borderline-Persönlichkeitsstörung laut DSM V
(kurz)
2. Entstehung und Psychodynamik der
Borderline-Persönlichkeitsstörung
3. Situierung der Borderline-Persönlichkeitsstörung zwischen
Schizophrenie, Narzissmus und Neurose
4. Analogien zwischen der Borderline-Persönlichkeitsstörung und der
spätmodernen Leistungsgesellschaft
5. Psychoanalytische Behandlung der
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Inhalt
Im zweiten Kapitel führt die Autorin die Entstehung der
Borderline-Persönlichkeitsstörung auf Grenzüberschreitungen, frühe
Traumatisierungen, Vernachlässigung und mangelnde Empathie der
Bezugspersonen in der frühen Eltern-Kind Beziehung zurück. Hierbei
geht sie – ausgehend von einer eigenen Bedürftigkeit oder sozialen
Belastung – unter anderem auf die mangelnden Fähigkeiten der
empathischen Kommunikation und der Markierung der Bezugspersonen
ein, welche traumatische Erfahrungen des Kindes potenzieren können:
Die Markierung meint eine leichte Veränderung der gespiegelten
Affekte durch die Bezugsperson, in dem Sinn, dass sich zum
ängstlichen Gesichtsausdruck z. B. eine Note von Zuversicht und
Zärtlichkeit gesellt. Darüber hinaus fehle bei der Bezugsperson oft
eine Verfasstheit der inneren Sicherheit und Zuversicht. Eine
weitere Form des Scheiterns der Kommunikation besteht in Reaktionen
der Bezugspersonen, die zum kindlichen Affekt nicht kongruent sind.
Resultat dieser gescheiterten Kommunikation ist dann die
Unmöglichkeit von Bezugsperson und Kind, den kindlichen Affekt zu
kontrollieren. Hinzu kommen oft gravierende Traumatisierungen, die
dann in der Entwicklung abgespalten werden müssen. Durch die
Abspaltung unverarbeiteter Erlebnisse wird beim Aufbau des
Selbstbildes und bei der Entwicklung des Bildes vom geliebten
Objekt eine Integration negativer Erfahrungen verhindert. Dies
geschieht, um unerträgliche Spannungen abzuwenden. Nicht nur bei
Traumatisierungen in der Kindheit, sondern auch beim emotionalen
oder sexuellen Missbrauch entsteht die Gefahr einer Fragmentierung
des Selbst. Das Kind wird entweder intrusiv vereinnahmt oder mit
seinen Affekten weitgehend allein gelassen und muss durch
Abwehrmechanismen sein Selbst stabilisieren, um in Kontakt zu
seinen wichtigen Objekten (Bezugspersonen) bleiben zu können. Neben
der Abspaltung unerträglichen Erlebens werden projektive
Identifizierung, Verleugnung, Idealisierung und Entwertung
erläutert und in Beziehung zu den Symptomen nach DSM V gesetzt.
Im dritten Kapitel vergleicht die Autorin die
Borderline-Persönlichkeitsstörung mit der Schizophrenie, dem
pathologischen Narzissmus und sogenannten reiferen Neurosen.
»Während es bei der reifen neurotischen Abwehr um Selbstwertfragen
hinsichtlich des Bestehens vor dem eigenen Gewissen geht, zielt die
Abwehr bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung auf die
Verhinderung einer Zerstörung des Selbst.«
Im vierten Kapitel thematisiert die Autorin den gesellschaftlichen
Kontext: Das spätmoderne Individuum hält sich alle Optionen offen,
so dass leicht eine reine von Vergangenheit und Zukunft
abgeschnittene Gegenwart entsteht, in der sich die Suche nach Sinn
und innerer Übereinstimmung als Hindernis erweisen kann. Die
gesellschaftlichen Anforderungen wie Vielfalt, Flexibilität und
Diskontinuität korrelieren mit psychopathologischen Mechanismen wie
Dissoziation, Diffusion und Fragmentierung. Die
Spaltungsmechanismen bei Menschen mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung können so als ichschwache
Reaktion auf den gesellschaftlichen Anpassungsdruck erscheinen.
Allerdings gibt die Autorin zu bedenken, dass die Menschen mit
Borderline-Persönlichkeitsstörung aus einem inneren Druck und einer
Notwendigkeit heraus handeln und nicht primär aus einer freien
Anpassung.
Die psychoanalytische Behandlung thematisiert Miriam Sarnecki im
fünften Kapitel: Hierbei geht sie zunächst von der
Mentalisierungstheorie aus: Unter Mentalisierung wird die Fähigkeit
verstanden, Gefühle, Gedanken, Wünsche und Überzeugungen sowohl bei
sich als auch bei anderen wahrzunehmen und zwischen ihnen und der
äußeren Realität unterscheiden zu können. Gelingt der
Mentalisierungsprozess nicht, so kommt es zu schweren
Entwicklungsdefiziten, die therapeutisch relevant werden: Bei der
psychischen Äquivalenz kann nicht zwischen realem Geschehen und den
dahinterliegenden Absichten der Handelnden unterschieden werden. So
werden in unangenehmen Situationen den anderen absichtlich
kränkende Absichten unterstellt oder rigide Überzeugungen
entwickelt, was der andere fühlt. Das Gegenteil ist der Als ob
Modus: Hierbei kann das intellektuell Verstandene nicht mit der
eigenen emotionalen Situation verknüpft werden. Es entsteht eine
Diskrepanz zwischen anspruchsvoller Reflexion und mangelnder
emotionaler Beteiligung.
Vom Therapeuten verlangen die Kommunikationsprobleme von Menschen
mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ein besonders kohärentes,
verlässliches Umfeld und eine besonders empathische
affektfokussierte Technik. Analytische Deutungen, bevor der Patient
mentalisieren kann, sind weniger sinnvoll. Besonders wichtig seien
die persönliche Reife des Therapeuten und die Fähigkeit, die Abwehr
empathisch aus der inneren Notlage des Patienten heraus zu
verstehen. Insbesondere der Umgang mit der projektiven
Identifizierung erfordert spezielle Kompetenzen vom Therapeuten und
das Wissen, dass Patienten aus ihrer Notlage heraus die Deutungen
nicht immer annehmen können.
Im weiteren Verlauf des Kapitels geht die Autorin zunächst auf
Kernbergs Expressive Psychotherapie ein, arbeitet jedoch heraus,
dass sein konfrontatives Vorgehen ihrer Meinung nach angesichts der
Fragilität des Selbst der Patientengruppe eine Überforderung
darstellen kann. So stellt sie noch ausführlicher das Verfahren von
Volkan – ergänzt durch Ansätze Ihres Supervisors Stavros Mentzos –
dar: Hiernach vollzieht sich die jahrelange Analyse in sechs
Stufen:
1. Die Annäherungsphase, bei der aktuelle Konflikte noch im
Vordergrund stehen und zunächst einmal eine Vertrauensbasis
aufgebaut wird
2. Vorbereitung auf die Regression mit starken Spaltungen und
Wechselbädern des Patienten und Minikonfrontationen durch den
Analytiker
3. Verschmelzung in der Regression mit Verringerung der
Realitätsprüfung und vorübergehenden psychotischen Symptomen mit
dem Ziel der Introjektion eines stabilen guten Objektes
4. Neuordnung guter und böser Selbst- und Objektrepräsentanzen mit
einer Verbindung positiver und negativer Aspekte in einer
Person
5. Aufbau einer integrierten Vater- und Mutterinstanz, reifere
Übertragungsneurose und Entwicklung eines gutartigen Überichs
6. Verselbständigung und Ablösung
In der Zusammenfassung betont Miriam Sarnecki noch einmal, wie
fruchtbar eine derart langdauernde und tiefgreifende analytische
Behandlung bei Patienten mit Bereitschaft zur Ausdauer und
durchschnittlicher bis überdurchschnittlicher Intelligenz sein kann
und kritisiert oberflächliche Effizienzbetrachtungen mit mangelnder
Nachhaltigkeit.
Im Anhang findet sich ein 14-seitiges Glossar mit ausführlichen
Begriffsklärungen aus psychoanalytischer Sicht.
Diskussion
Es gelingt Miriam K. Sarnecki in verständlicher und zugleich
differenzierter Art und Weise, wesentliche Aspekte des
psychoanalytischen Entstehungsmodells der
Borderline-Persönlichkeitsstörung zu vermitteln und mit der
Klassifikation nach DSM V sowie mit gesellschaftlichen Aspekten zu
verknüpfen. Sie geht allerdings kaum auf neurobiologische
Erkenntnisse ein: So thematisiert sie nicht die
Verwechslungsmöglichkeiten zwischen
Borderline-Persönlichkeitsstörung und Fetalem Alkoholsyndrom.
Insbesondere beim Vergleich mit der Schizophrenie fällt auf, dass
neurobiologische und genetische Forschungen kaum beachtet werden.
Ihre Schlussfolgerung »Hirnorganisch finden sich bei beiden
Personengruppen Veränderungen. Sie haben weniger genetische als
psychodynamische Ursachen, da das Gehirn … ein plastisches Organ
ist, dessen Struktur durch Erlebnisse und Bindungserfahrungen
geformt wird.« (S. 104) Dies erscheint im Blick auf die
Schizophrenie einseitig, die Schizophrenie ist jedoch nicht das
Thema des Buches.
Das Kapitel vier mit seinen interessanten gesellschaftlichen
Bezügen hätte auch noch ausführlicher sein können, was die Autorin
selber im Schlusskapitel anmerkt. Insbesondere der knappe Verweis
auf die gesellschaftlich unterstützten Erziehungsstile (S. 60)
hätte beispielsweise noch genauer ausgearbeitet werden können.
Eindrucksvoll ist das Kapitel fünf. Hier wird das analytische
Behandlungsgeschehen deutlich und gut nachvollziehbar, und die
Autorin stellt zahlreiche Verknüpfungen zu den ersten Kapiteln her.
Die Praxisbeispiele sind sehr knapp gehalten. Dennoch werden sowohl
die methodischen Kernelemente als auch die therapeutische
Grundhaltung deutlich: Letztere ist neben unbedingter
Verlässlichkeit von Empathie, geistiger Beweglichkeit und dem Mut
geprägt, die therapeutische Regression nicht zu scheuen.
Fazit
In diesem kurz gehaltenen Buch wird die Psychodynamik der
Borderline-Persönlichkeitsstörung zu den markanten Symptomen nach
DSM V in Bezug gesetzt und in ihrer Funktion – das
fragmentationsgefährdete Selbst zu stabilisieren und in Kontakt mit
wichtigen Objekten (Bezugspersonen) zu bleiben – gut verstehbar
dargelegt. Die Autorin geht nach einem gesellschaftlichen Exkurs
ausführlich auf die psychoanalytische Behandlung ein und integriert
hierbei Aspekte der Mentalisierungstheorie, Kernbergs Expressive
Therapie und die Behandlungszyklen nach Volkan und Mentzos. Sie
arbeitet eindrucksvoll eine empathische und geistig bewegliche
Grundhaltung für die therapeutische Beziehung heraus. Ein
lesenswertes Buch für TherapeutInnen jeglicher Ausrichtung!
Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 16.08.2016 zu: Miriam K. Sarnecki:
Nur die Bodenhaftung nicht verlieren. Die
Borderline-Persönlichkeitsstörung – eine kreative und fatale
Kompensation psychosenaher Beeinträchtigung. Psychosozial-Verlag
(Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2552-4. In: socialnet Rezensionen,
ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/20891.php,
Datum des Zugriffs 09.12.2016.
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