Rezension zu Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit

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Rezension von Dr. Petra Gregusch

Thema

Wer Beratung in Aus- und Weiterbildung lehrt, ist vertraut mit dem Umstand, dass Studierende in erster Linie daran interessiert sind zu lernen, wie Beratung durchzuführen ist. Der Wunsch nach beratungsmethodischem Wissen ist groß und umso stärker, wenn die Anforderung besteht, über Beratung institutionelle Ziele zu erreichen. Das Buch thematisiert in diesem Zusammenhang zwei Problem- bzw. Aufgabenstellungen für die Beratung sozialwissenschaftlicher Provenienz: erstens die Aufgabe, einem – in der Terminologie Foucaults -»regierenden« Beratungsformat entgegenzuwirken und damit zusammenhängend, zweitens, die Aufgabe, klinische bzw. psychotherapeutische Modelle der Beratung zu überwinden. Die Autorin stellt hierfür die Bedeutung von Beratungswissenschaft und Beratungskritik in den Mittelpunkt. Unter Zugrundelegung von Beratungsverständnissen der Sozialen Arbeit, Pädagogik und Supervision geht es ihr darum, ein sozialwissenschaftlich fundiertes Prozessmodell der Beratung zu entwickeln.

Autorin

Prof. Dr. Katharina Gröning ist Professorin an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Bielefeld. U.a. leitet sie die Frauenstudien und den Masterstudiengang Supervision und Beratung. Sie hat im Bereich Beratungs- und Supervisionsforschung mehrfach veröffentlicht.

Aufbau und Inhalt

Der Band ist nebst Einleitung in fünf Kapitel gegliedert.

Die »Einleitung« führt in die Problemstellung ein, die der Zielsetzung des Buches zugrunde liegen. Sorge bereitet Gröning, dass die Beratungsformate in der Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit »zunehmend als Instrument der normalistischen Anpassung« (S. 9) verstanden werden. Ausbildungen verstärkten dies, wenn sie vornehmlich auf das Erlernen von Beratungsmethoden setzten, die wissenschaftliche Fundierung von Beratung jedoch vernachlässigten. Gröning konstatiert insbesondere für lösungsorientierte und systemische Beratungsformate den Verbleib »auf der Ebene der Methode, häufig abgeleitet aus der Therapie« (S.11).

Kapitel 1 »Beratungswissenschaft und Beratungskritik« (S. 17-64) steht im Dienste der Untermauerung der These von Beratung als Instrument der normalistischen Anpassung, worüber Gröning die Dringlichkeit der sozialwissenschaftlichen Fundierung der Beratung begründet. Auf dem Hintergrund des Konzepts der Gouvernementalität (Foucault) sowie des Normalismus (Link) wird die Entwicklung von Beratung von den 1960/70er bis in die 1990er Jahre als – dem Zeitgeist folgende – Wegbewegung von ihren ursprünglichen Zielen der Reflexivität, Selbstbestimmung und Mündigkeit hin zur Praxis mit »pastorale Tendenzen« (S. 17) hin und schließlich zu einer »neuen gouvernementalen Praxis« (S.23) beschrieben. Diese zeichne sich durch »Anrufungen« zur Selbstoptimierung (S.31) aus. Gemäß Gröning stellen Coaching, systemische Beratung, lösungsorientierte Beratung und NLP gouvernementale Beratungsformate dar. Die Formate werden in einem nächsten Schritt unter Rückgriff auf die sozialwissenschaftliche Beratungskritik analysiert und kritisch bewertet. Im Anschluss macht sie auf beratungswissenschaftliche Kernaufgaben aufmerksam. Gröning vertritt den Standpunkt, dass Beratung erst dann zu einer eigenständigen Identität findet und ihren rein methodischen, psychotechnischen Charakter überwindet, wenn eine Beratungswissenschaft sich den Fragen nach sozialtheoretischer und professionsethischer Fundierung der Beratung stellt und sich mit der Geschichte und Entwicklungslinien der Beratung auseinandersetzt. »Hier sind Antworten zu finden, um die Spannungen zwischen Institution und Profession in Beratungssituationen genauer zu verstehen und die Frage aufzuklären, warum es innerhalb der Beratung immer wieder dazu kommt, das sich der ›gute Rat‹ in eine Machttechnik, sei es klinischer, sei es amtlicher oder politischer Art wandelt« (S.63). Die aktuelle Beratungswissenschaft sei davon weit entfernt.

Im Kapitel 2 »GründerInnen der Beratung und Supervision in der Bundesrepublik und ihr methodisches und professionelles Verständnis« (S.65-104) unternimmt Gröning einen ersten Schritt zur Rekonstruktion der Entwicklung von Beratung als »eigenständiges professionelles Handeln«. Vorgestellt werden (kommentierte) Auszüge aus Interviews, die Gröning mit Anne Frommann, Hans Thiersch, Kurt Aurin und Gerhard Leuschner als Pionierin bzw. Pioniere der Beratung bzw. Supervision (Leuschner) im Bereich der Erziehungswissenschaften geführt hat. In einer ersten Zusammenfassung, die sich auf Beiträge der ersten drei Interviewpartner bezieht, fokussiert Gröning auf Gemeinsamkeiten hinsichtlich des methodologischen Verständnisses professioneller Beratung. Diese beschreibt sie a) als Ablehnung eines »distinktiven Habitus«, an dessen Stelle eine »Anerkennungsbeziehung« tritt (S.86) und b) als Ablehnung eines »klinisch distinktiven Blicks«, an dessen Stelle die Konzeption des »Beziehungsraums pädagogischer Beratung als Raum, in dem es um ein ethisches Tun geht (…)« tritt (S.87). Als weitere Gemeinsamkeit sieht sie die Konzeption von Beratungsprozess und Beratungskunst und stellt zudem fest, dass zwischen den Pionierinnen der Beratung keine Vernetzung stattgefunden hat. Das Interview mit Leuschner, der maßgeblich zur Supervision als demokratisches Beratungsformat beigetragen hat, stellt Gröning prominent heraus, wohl deswegen, weil dieser sich auch um eine Supervision als eigenständige Profession verdient gemacht hat. Gröning strukturiert das Interview entlang des Leuschner’schen Handlungsmodells, dessen tragende Elemente u. a. das Konzept des Verhandlungsraumes und des Dreieckskontrakts sind.

Kapitel 3 »Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik« (S.105-118) thematisiert schließlich Merkmale von Professionen, die mit dem Titel bereits genannt sind. Inhaltlich vertritt Gröning in Anlehnung an Micha Brumlik nebst einer wissenschaftlichen Ausbildung und der Fähigkeit zum Fallverstehen auf dem Hintergrund natur- oder sozialwissenschaftlichen Wissen die Etablierung einer Professionsethik, die sich an der Vorstellung »vom guten menschlichen und gerechten Leben« orientiert und in der Lage ist, »mit der Macht, die sie notwendig durch ihre moralische Autorität hat, richtig umzugehen« (S. 105). Wieder in Anlehnung an Brumlik bezeichnet Gröning eine solche Ethik als advokatorische Ethik oder Grundhaltung, die sich bezogen auf Beratung dadurch auszeichnet, dass diese konsequent am Einzelfall ansetzt und nicht an einer Ordnungsfunktion. Die Relevanz einer solchen Ethik stellt Gröning in den Kontext der »Identifizierung des ›giftigen Potenzials‹ gouvernementaler Beratungsformate« (S.106), welches seine Anfänge in der Terminologie Foucaults in der Form einer Pastoralmacht nimmt und in gouvernementalen Beratungsformaten in Überforderung mündet: »Sie wollen nicht Schuld und Geständnis hervorlocken, sondern erzeugen Druck. Nicht die individualisierte Erkennung, sondern die aggressive Konfrontation wird zur Interventionsstrategie. Damit verschwindet das wissenschaftliche Verstehen aus der Beratung« (S. 109). Scham und Bloßstellung werde auf diese Weise zur Begleitung der Beratung (S. 109ff.). Sozusagen als Gegengift fordert Gröning die Einlösung eines anerkennungs- und diskurstheoretischen Rahmens der Beratung ein und bezieht sich hier auf Axel Honneth: Die Zusammenarbeit als Rechtssubjekte, Zustimmung und Verstehen, die den Beratenden einen Möglichkeitsraums eröffnen sowie die Wertschätzung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Zielvorstellungen bildeten zentrale Dimensionen der wissenschaftlichen Begründung von Beratung und seien gleichzeitig die Grundlage einer beraterischen Ethik und Professionalität (S. 113).

Kapitel 4 »Beratung als wissenschaftlicher Prozess« (S.119-146) befasst sich mit der Phase der Diagnose im Beratungsprozess. Gröning diskutiert zuerst die professionalisierungskritische, antiberatungswissenschaftliche Haltung u. a. von Thiersch sowie die Kritik an Diagnosen in der Sozialpädagogik. Hieran anknüpfend verdeutlicht sie ihre professionalisierungsbejahende Position und plädiert dafür, »Diagnose in der Beratung im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik zu entwickeln« (S.119). Zum einen geht es ihr dabei darum, das Verstehen in der Beratung aus der »subjektiven Engführung« (S.15) vieler psychotherapeutischer Konzepte herauszulösen, zum anderen – und grundsätzlicher – sozialwissenschaftliche Methoden als praktische Instrumente zum Verstehen und Diagnostizieren zu nutzen. Damit macht Gröning deutlich, dass es für eine wissenschaftlich begründete Beratung nicht hinreichend ist, wenn ein wissenschaftliches Wissen lediglich als Hintergrundwissen für die Diagnose besteht. Vielmehr bedarf eine solche einer methodologischen Begründung. Qualitative Methoden der Sozialforschung hält sie – in für Beratungssituation modifizierter Form – für Beratung geeignet, da diese im Unterschied zu Testdiagnosen sowohl einen objektivierenden als auch verstehenden Zugang zur Lebenswelt der Ratsuchenden ermöglichten. Das Zuhören und das Sequenzieren zwecks Nachvollziehen der Fallstrukturgesetzlichkeit stellt Gröning als Kernoperationen der Beratung heraus. Im Weiteren werden Deutungsmusteranalyse, Habitusanalyse, Lebenslaufstrukturanalyse, Lebenslagenanalyse und der Umgang mit Rollen vorgestellt und der Nutzen für Beratung anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht.

Das abschließende Kapitel 5 »Beratungskunst« (S. 147-160) beschreibt den Beratungsprozess aus dem Verständnis der Beratung als Eröffnung von Möglichkeitsräumen und die dafür elementaren Bestimmungsstücke wie den Beziehungsaufbau, die Kontraktethik, das Verstehen und Erkennen sowie Schritte der Intervention und Raterteilung. Aufmerksam wird gemacht auf Herausforderungen im Beratungsprozess. Probleme der »amtlichen Beratungssituationen« (S.150) werden diskutiert und Anforderungen an professioneller Beratung in diesem Kontext skizziert.

Diskussion

Das Buch greift ein viel diskutiertes Problem im Kontext professioneller Beratung auf. Nicht zuletzt hat sich eine Beratungswissenschaft zu etablieren begonnen, um zu zeigen, dass Beratung mehr als eine Methode ist und theoretischen und empirischen Anspruch hat. Erklärtes Ziel dieses Beratungsdiskurses ist es, den Status als trivialisierte Therapie zu überwinden. Daran, dass dies gelingen könnte bzw. sich ein angemessenes Format professioneller Beratung in psychosozialen Professionen durchsetzt, scheint Gröning unter Bezugnahme auf die derzeit dominierenden Aus- und Weiterbildungsangebote zu zweifeln. Auf diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, wenn Gröning einen großen Teil des Buches der Beratungskritik widmet. Hier gelingt es ihr nachvollziehbar zu zeigen, welche Gefahren die Orientierung von Beratung in sozialen Professionen an Psychotherapieformaten bergen. Vieles ist bereits aus der Geschichte der Einzelfallhilfe in der Sozialen Arbeit und ebenso aus der Phase ihrer Therapeutisierung bekannt. Auch hier galt die Kritik den allein am Individuum ausgerichteten methodischen Orientierungen, die dazu verführen, die gesellschaftliche Dimension menschlicher Probleme aus dem Blick zu verlieren, mit den Folgen der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme oder der Stabilisierung einer problemerzeugenden Gesellschaft. Was Gröning klar macht, ist, dass sich diese Probleme im Zeitgeist des Neoliberalismus, in dem der Mensch quasi auf ein »unternehmerische Selbst« (S. 59) reduziert wird, verstärkt haben. Darin, dass die diskutierten Beratungsformate dies nicht erkennen – sie nicht mehr Inklusion und Integration, sondern Steigerung von Wachstum der Leistung und Motivation anstrebten (Gröning 2016, S.34) – liegt der Kern der Kritik Grönings. Dieser Kritik lässt sich ohne Weiteres folgen, wenn es um die einfache Übertragung dieser psychologischen Konzepte in psychosoziale Professionen geht. Kritisch anzumerken ist hier, dass Weiterentwicklungen der Beratungsformate nicht aufgegriffen werden.

Auf aktuelle Literatur wird kaum zurückgegriffen. Zudem stellen die Konzepte im psychotherapeutischen Kontext durchaus positiv zu bewertende Neuerungen dar. Gerade mit der Betonung historischer Entwicklungen hätte hier fairerweise mindestens ein Hinweis erfolgen können.

Der Beratungswissenschaft wird ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, ohne dass klargestellt wird, dass es diese faktisch noch gar nicht gibt, sondern allenfalls Bestrebungen dazu im Gange sind. Eher wäre daher den Erziehungswissenschaften, der Pädagogik oder der Sozialarbeitswissenschaft der Vorwurf zu machen, dass sie ihre Aufgaben in Bezug auf Beratung nicht erfüllt haben. Wenn dies nun nachgeholt wird, kann sich möglicherweise eine Beratungswissenschaft entwickeln, worauf Befürworter einer solchen Wissenschaft und Disziplin hingewiesen haben.

Das Buch kann insofern als erziehungswissenschaftlicher Beitrag zur Konzeption von Beratung verstanden werden. Festgehalten wird an einer reflexiven und advokatorischen Funktion der Beratung in psychosozialen Professionen und dies als ethisch normative Anforderung psychosozialer Professionen begründet. Aufgefordert wird zur Nutzung sozialwissenschaftlicher Konzepte im Kontext des Fallverstehens oder sozialer Diagnostik, um damit die angestrebten Funktionen zu gewährleisten. Dies stellt zweifelsfrei eine Möglichkeit zu einem angemessenen Zugang zu einer Beratungsdiagnostik dar. Befremdlich wirkt jedoch, dass die in der Sozialen Arbeit seit geraumer Zeit bestehenden intensiven Bemühungen zum Fallverstehen und sozialer Diagnostik und dazu vorliegende Ergebnisse keine Erwähnung finden. So brach, wie Gröning es darstellt, liegen die Bemühungen um professionelle Beratung sozialwissenschaftlicher Provenienz dann keineswegs. Die im Buch festgestellte mangelhafte Vernetzung der PionierInnen der Beratung scheint sich somit über Nichtkenntnisnahme aktueller Entwicklungen weiter fortzusetzen.

Fazit

Das Buch regt allgemein an, das eigene Beratungsverständnis kritisch zu überdenken und ist in diesem Sinne für BeraterInnen nichttherapeutischer Professionen geeignet, die prüfen wollen, ob sie ihrem Kerngeschäft nachgehen oder dieses bereits verlassen haben. Für Studierende der Sozialen Arbeit scheint mir der Band wenig geeignet. Zu wenig wird auf den aktuellen Stand der Fachdiskussion eingegangen.

Zitiervorschlag
Petra Gregusch. Rezension vom 02.09.2016 zu: Katharina Gröning: Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2508-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/20449.php, Datum des Zugriffs 06.12.2016.

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