Rezension zu Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Georg Auernheimer
Autor
Carlo Strenger, geboren 1958 in Basel, hat eine Professur für
Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv inne und
ist Mitglied des Seminars für Existentielle Psychoanalyse an der
Universität Zürich. Außerdem ist er im akademischen Beirat der
Sigmund Freud Stiftung in Wien tätig und Senior Research Fellow am
Institut für Terrorforschung an der City University of New York. In
Israel hat er sich als regierungskritischer politischer Publizist
profiliert. Die von ihm konzipierte Existentielle Psychoanalyse
geht wie die Experimentelle Existenzielle Psychologie (EEP) von
Grundgedanken der Existenzphilosophie aus.
Thema
Grundlegend für die Existentielle Psychoanalyse wie für die EEP ist
die Annahme, dass das meist verdrängte Wissen um die Endlichkeit
unseres Lebens unser Dasein bestimmt. Deshalb sind wir bestrebt,
unserem Leben einen Sinn, eine Bedeutung zu geben.
Ausgangsüberlegung des vorliegenden, zuerst in den USA
erschienenen, Buches ist die Frage, wie sich die Individuen im
Kontext der Globalisierung Bedeutung (significance) verschaffen
wollen und können. Während bspw. einen Anwalt in einer Stadt wie
Basel früher die Anerkennung seiner Mitbürger befriedigen konnte,
vergleichen sich seine Nachfolger möglicherweise mit international
agierenden Zunftgenossen, wobei die problematische Tendenz zu
quantitativen Vergleichsmaßstäben besteht. Der »globalisierte
Mensch« ist für Strenger zumindest in der Gefahr »Teil des globalen
Infotainment-Systems« zu werden (8). Für ihn gebe es nur zwei
Ziele: Berühmtheit bzw. Bekanntheit oder finanziellen Erfolg
(ebd.). Generell geht es um den eigenen Marktwert.
Aufbau und Inhalt
An die kritische Zeitdiagnose schließt Strenger philosophische und
psychologische, teils auf therapeutische Fallbeispiele gestützte,
Theorien darüber an, wie wir in der heutigen Situation unser Leben
sinnvoll gestalten können.
Das Buch ist in drei Teile und neun Kapitel gegliedert.
1. Den Inhalt von Teil I verrät schon die Überschrift »Die
Niederlage des Geistes«.
2. In Teil II »Von der Verfügbarkeit des ›Ichs‹ als Handelsware zum
Drama der Individualität« geht der Vf. von der Zeitdiagnose zur
Darstellung seiner existenzpsychologischen Konzeption über.
3. Und in Teil III wechselt der Vf. zwischen politisch kritischen
Einwänden, vor allem gegen political correctness, und
philosophischen, psychologischen und pädagogischen
Vorstellungen.
Im ersten Kapitel erläutert der Vf. die Philosophie der
existenziellen Psychologie und prangert dann das
»Quantifizierungsfieber« im globalen Kapitalismus an, wo Rankings
und Ratings nicht nur Unternehmen und Staaten, sondern auch
Personen in einen Wettbewerb drängen, der Grundlage ihrer
Vermarktung ist.
Im zweiten Kapitel kritisiert der Vf., anknüpfend an den
Werbespruch »Just do it«, der jedem die Illusion grenzenloser
Möglichkeiten vermittelt, vor der Folie seines Menschenbildes die
Versuchungen des Infotainment. Das Selbst werde zum
»Design-Projekt«.
Im dritten Kapitel werden »die boomende Selbsthilfe-Kultur« (12)
und die Pop-Spiritualität analysiert, die mit inkohärenten
Weltsichten und banalen Lebensregeln aufwarten und zur Sinnstiftung
ungeeignet sind.
Das vierte Kapitel soll zeigen, dass – entgegen dem »Just do it« –
jeder in eine Kultur und ein soziales Umfeld hineingeboren ist und
mit den damit gesetzten Grenzen und Spannungen umgehen muss.
Dieser Argumentationsstrang wird fortgeführt im fünften Kapitel,
dessen zentrale Botschaft ist, dass eine der großen
Herausforderungen für jede/n von uns darin besteht, unsere eigenen
Stärken und Schwächen kennenzulernen und uns so zu akzeptieren.
Das sechste Kapitel thematisiert den Jugendwahn und die
Produktivität der Midlife Crisis, was allerdings die Akzeptanz
unserer Sterblichkeit voraussetzt.
Im siebten Kapitel attackiert Strenger das Gebot der politischen
Korrektheit, weil es seines Erachtens die intellektuelle
Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Weltanschauungen
unterbindet und letztlich eine friedliche, zivilisierte Koexistenz
gerade verhindert.
Seine provokativ formulierte Alternative zu PC erläutert er an
Beispielen im achten Kapitel. Er nennt es »zivilisierte
Verachtung«, was missverständlich ist, wie seine Beispiele
zeigen.
Das neunte Kapitel enthält »ein Plädoyer für Weltbürgerschaft und
eine Koalition offener Weltanschauungen« zur Rettung des Planeten,
den Strenger bedroht sieht. Die andere Gefahr sieht er in den
Fundamentalismen.
Diskussion
Adressaten des Buches waren ursprünglich Leser/innen in den USA.
Darauf deuten zahlreiche Bezugnahmen auf dortige politische
Entwicklungen und Konflikte hin (z.B. 101ff., 218, 229), was der
deutschsprachige Leser bei der Lektüre in Rechnung stellen sollte,
wenn der Vf. zum Beispiel Seitenhiebe auf den Kreationismus
austeilt. Aber adressiert ist das Buch unverkennbar auch an
Menschen der Mittel- und Oberschicht oder m.a.W. »die globale
Schicht der Kreativen« (32, 99), aus der offenbar vorwiegend auch
Strengers Patienten kommen. Die »kleinen Leute« werden sich weniger
darum sorgen, ob es ihnen gelingt, mit ihren Taten und Werken
später »eine Spur zu hinterlassen« (61).
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die anthropologischen
Grundannahmen von Strenger nicht unbemerkt dem Weltbild der
bürgerlichen Gesellschaft des Westens verhaftet bleiben, so gewiss
auch universell gültige Vorstellungen darunter sein mögen. So hält
der Vf. die Neigung, »sich ständig mit anderen zu vergleichen«, für
einen menschlichen Grundzug (42). Überhaupt kann man zweifeln, ob
die Individualität im Sinne persönlicher Bedeutung nicht
überbewertet wird. Kollektivität wird vom Vf. gering bewertet,
wenngleich in ihrer Bedeutung versteckt bestätigt, wenn die
Einbindung in eine Kultur oder eine Gruppe für bedeutsam erklärt
wird (z.B. 61).
Widersprüchlich und missverständlich sind Strengers Urteile über
den interkulturellen, speziell den interreligiösen Dialog, den er
schlicht für sinnlos erklärt (207f.), obwohl er mindestens ein
positives Beispiel für dessen Ermöglichung vorstellt (213). Das von
ihm verworfene Postulat der Anerkennung des anderen ist
missverstanden, wie die positiven Beispiele aus seiner eigenen
Praxis zeigen. Dass der Respekt gegenüber anderen Weltanschauungen
irrationale, fundamentalistische Bewegungen ermuntere und fördere,
kann man nur behaupten, wenn man die geopolitischen Konflikte der
Gegenwart ausblendet. Im Übrigen differenziert der Vf. nicht
zwischen kulturspezifischen Weltbildern, Religionen und
Ideologien.
Die Kulturkritik des Vf. klammert Mechanismen des
Wirtschaftssystems und wirtschaftliche Interessen aus. Kapitalismus
ist eine bloße Chiffre, und die Globalisierung bildet einen
dunstigen Beobachtungshorizont.
Die Einwände entwerten nicht das Buch als Bildungslektüre, die
Anstöße zum Nachdenken über die eigenen Lebensziele liefern kann.
Die Widersprüchlichkeit in Puncto Dialogizität mag gerade zur
produktiven Auseinandersetzung mit eigenen Normvorstellungen
anregen.
Fazit
Für jede und jeden, zumindest für alle, die anspruchsvollere
Literatur lesen, eine anregende Lektüre, obwohl es sein mag, dass
gerade sie sich weniger dem Infotainment ausliefern und sich
seltener am Schluss sagen müssen: Du musst dein Leben ändern.
Empfehlenswert auf jeden Fall, wenn nicht ein »Must« für
therapeutische und pädagogische Berufe.
Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 04.08.2016 zu: Carlo Strenger: Die
Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten
Welt sinnvoll gestalten. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN
978-3-8379-2499-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/21091.php, Datum des Zugriffs
09.12.2016.
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