Rezension zu Psychoanalyse und Gymnastik (PDF-E-Book)
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Heft 56, 2/2015
Rezension von Arkadi Blatow
Die Herausgabe unveröffentlichter Manuskripte klassischer
Psychoanalyse ist stets begrüßenswert, unabhängig von ihrer
schwankenden Qualität, welche nicht selten zur ursprünglichen
Nicht-Veröffentlichung beigetragen hat. Im Falle von Freuds
»Entwurf einer Psychologie« (1950 [1895]) wurden wir beschenkt um
eine wesentliche Quelle, welche seit ihrem Erscheinen eine große
Bereicherung psychoanalytischen Denkens darstellt. Hingegen über
das wieder aufgetauchte metapsychologische Manuskript Ȇbersicht
der Übertragungsneurosen « (1985 [1915]) konnten sich nur jene
bedenkenlos freuen, welche Freuds und Ferenczis Lamarckschen
Gedankenspielen ohnehin nicht abgeneigt waren. Im vorliegenden Fall
handelt es sich weder um einen verschollenen großen Wurf noch um
eine philosophische Peinlichkeit, sondern um eine sehr gelungene,
frühe Annäherung an die Frage der Wechselwirkungen zwischen
physischen und psychischen Hemmungen, einschließlich der Suche nach
Möglichkeiten derer Auflösung.
Der erste Teil der Arbeit ist allgemein gehalten und hätte die
Überschrift »Zur Psychoanalyse des Sports« verdient. Fenichel
erkennt in jedem Turnen, in Anlehnung an Sadger, eine Muskelonanie,
in welcher »[…] eine gewisse Menge prägenitaler Libido auf sozial
erlaubte Weise motorisch abgeführt, der Druck der verdrängten
infantilen Sexualität, der nötige Gegenbesetzungsaufwand
entsprechend verringert wird […]«. Der Nachteil läge in der
Regressionsgefahr, »dass jede prägenitale Befriedigung prägenitale
Fixierungen setzt oder verstärkt, somit die für den gesunden
Erwachsenen nötige genitale Position schwächt« (S. 23). So verhelfe
Gymnastik und Ähnliches zwar zu einer Stärkung eines von
Schuldgefühlen freien Narzissmus, zugleich stelle sie ein
Hindernis für die unsublimierbare Genitallibido dar, welche
abgesehen von neurotischen Pfaden nur direkte Abfuhr erlaubt. Eine
Erkenntnis, die zum Verständnis der heute so verbreiteten
Sportfreaks beiträgt, welche sich deswegen immer maßloserer
Ertüchtigung widmen, weil das Moment der erhofften Befriedigung
auf diesem Weg ein illusorisches bleibt. Ungewohnt prüde liest
sich Fenichels Feststellung, das Turnen sei ein geeignetes Mittel
zur Masturbationsbekämpfung, ganz so, als gehöre diese bekämpft.
Dergestalt verkleinert sich freilich der Handlungsspielraum der
Genitallibido auf reale Objektliebe, welche zu erlangen, den
Subjekten doch sehr unterschiedlich schwer fällt. Auch Freud
schwankte bezüglich der Frage »wohin denn, mit der befreiten
(Genital) Libido?«. In späteren Jahren verlangte er von den
»Sublimierungen« und »Verurteilungen« mehr als sie leisten konnten.
Der jüngere (52-jährige) Freud dagegen machte noch
unmissverständlich klar: »Ein gewisses Maß direkter sexueller
Befriedigung scheint für die allermeisten Organisationen
unerläßlich […]« (Freud, 1908d, GW VII, S. 151).
In der Folge geht Fenichel ausführlicher auf die Gindlersche
Gymnastik ein, welche an zwei nicht ausreichend gewürdigten
Tatsachen ansetze, dem Hypertonus (Verkrampfung) und dem Hypotonus
(Schlaffheit), welche in unserem Kulturkreis so verbreitet seien.
Dieser in der Summe als »Dystonus« zu bezeichnende Missstand sei
bereits von Homburger angemessen als »Defekt der Ökonomisierung und
Rationalisierung der Motorik« beschrieben worden. Psychoanalytisch
ausgedrückt handle es sich um Hemmungen, um
»Funktionseinschränkungen des Ichs«. Dass Neurotiker tendenziell
verkrampft sind, sei offenkundig, dass der Krampf sich auflöst,
wenn die Neurose aufgelöst wird, ebenso. Bei der Gymnastik komme
umgekehrt durch die körperliche Lockerung eine analoge psychische
Katharsis zustande, »grundloses Weinen« oder »plötzlicher
Erzählzwang« bezeugten, dass zuvor verwehrte Affekte zur Abfuhr
gelangt sind. Der Dystonus selbst, so Fenichels Hauptthese, werde
funktionell verständlich als »Mittel, Verdrängtes in der
Verdrängung zu halten, ein physisches Korrelat des
Besetzungsaufwandes« (S. 30).
Unter dem Gesichtspunkt der narzisstischen Körperlibido
(Organlibido) setzt Fenichel seine Überlegungen fort: Dystonische
Muskeln seien, ganz analog dem Verdrängungsvorgang, unzweckmäßig
libidinös gebunden. Es handle sich mitnichten um ein rein
narzisstisches Problem, da gestaute Organlibido sowohl das
Verhältnis zur Innen- wie zur Außenwelt störe. Daher gelinge durch
die Beseitigung der Stauung »nicht nur eine zweckmäßigere
Verteilung der Libido im Ich, sondern auch eine zwischen Ich und
Objekten […], indem Triebhandlungen ermöglicht werden« (S. 47).
Sowohl die Psychoanalyse als auch die Gymnastik strebten
letztendlich eine Erweiterung des Machtbereichs des Ichs an. Die
Gymnastik erreiche diese nicht nur über die Motorik, sondern
vielmehr über eine modifizierte Sensibilität. »Es gehört dazu die
bewusste Aufnahme des geänderten Körper- und Allgemeingefühls, das
bei lokaler Entspannung in dem entspannten Organ entsteht. Nur dem,
der dies Gefühl kennt, es als zu seinem Ich gehörig erfasst hat,
dem steht die Möglichkeit zu zweckmäßigeren Innervationen offen,
dem steht der Gebrauch des Organs willkürlich zur Verfügung« (S.
56).
Als alternative oder gar äquivalente Psychotherapie empfiehlt
Fenichel die Gymnastik nicht. Ihre Wirkweise könne zwar mit der
Katharsis verglichen werden, aber die Übertragungen würden nicht
aufgelöst und daher die befreite Libido dem Ich nicht zur
Verfügung gestellt. Auch parallele Anwendungen verneint Fenichel,
da die Übertragung in der Analyse gebraucht werde und daher nicht
zur Gymnastik getragen werden dürfe. Sukzessive Anwendungen
dagegen könnten in einigen »leichteren« Fällen sehr günstig
ausfallen. Die Gymnastik selbst wüsste ohne die Psychoanalyse
nicht zu begreifen, wozu sie fähig ist. Sie bediene sich zwar
passagèrer Regressionen, vermöge jedoch, »reelle Arbeit an
Verdrängungsaufwänden, Libidoverteilung und Wirkungsbereich des
Ichs« (S. 67) zu leisten.
Der Umfang des Bandes wurde verdreifacht durch eine ausführliche
Einleitung des Herausgebers, eine Vielzahl zumeist sinnstiftender
Kommentare und kontextbereichernder Anhänge. Besonders
hervorzuheben ist die von Reichmayr und Giefer vollständig
überarbeitete und mitgelieferte Gesamtbibliographie Fenichels,
welche den Grinstein’schen »Index of Psychoanalytic Writings« um
geschlagene 200 (!) Veröffentlichungen bereichert. Die
Entscheidung, dem Band einen knackigeren Titel zu verpassen, vermag
zwar das Anliegen des Herausgebers zu unterstützen, Fenichel
nachträglich als einen der Väter der analytischen Körpertherapie zu
etablieren, legt jedoch zugleich eine Augenhöhe beider
Therapieformen nahe, welche dem ursprünglichen Titel der
Abhandlung »Psychoanalytische Untersuchungen über die
Wirkungsweisen der Gymnastik« nicht abzulesen ist. Erfreulich und
selten ist, dass der Psychosozial-Verlag diesem Werk einen
auffällig schönen und stabilen Einband geschenkt hat. Eine Kauf-
und Leseempfehlung, ohne Wenn und Aber.