Rezension zu Frühe Kindheit unter Optimierungsdruck
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Rezension von Prof. Dr. Andrea Kleeberg-Niepage
Thema
Im vorliegenden Sammelband werden aus soziologischer,
psychologischer, medizinischer und pädagogischer Perspektive das
zugleich hoch relevante und hoch sensible Thema der frühkindlichen
Entwicklung sowie deren Voraussetzungen und mögliche Förderwege
diskutiert. Als zentraler Ausgangspunkt der Beiträge fungiert der
Befund, dass sich die gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen
der letzten Jahrzehnte im Umgang mit der Lebensphase der Frühen
Kindheit dergestalt niederschlagen, dass verstärkt Normierungs-und
Optimierungsansprüche an sie gestellt werden. Die im Band
versammelten AutorInnen thematisieren aus wissenschaftlicher und
therapeutisch-praktischer Perspektive die vielfach benötigten
Unterstützungen für Kinder und Familien einerseits und die diese
Hilfen stets begleitenden normativen Setzungen bezogen auf eine
gute Kindheit und Entwicklung andererseits.
Herausgeberin
Die Herausgeberin Inken Seifert-Karb, die zudem einen eigenen
Beitrag im Band verantwortet, studierte Diplompädagogik und ist
ausgebildete Psychoanalytische Paar- und Familientherapeutin. Sie
gründete und leitet eine Beratungsstelle für Eltern mit Säuglingen
und Kleinkindern und ist auch in eigener Praxis tätig. Zudem ist
sie Dozentin und Supervisorin am Institut für Psychoanalyse und
Psychotherapie in Gießen und lehrt seit 2013 auch an der
Phillips-Universität Marburg.
Entstehungshintergrund
Bei den Texten handelt sich um die ausgearbeiteten und vertieften
Beiträge der TeilnehmerInnen der 18. Jahrestagung der Gesellschaft
für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit (GAIMH), welche
2013 in Oberursel bei Frankfurt a. M. unter dem Titel »Frühe
Kindheit unter Optimierungsdruck – nie mehr Zeit für Bullerbü«
stattfand.
Aufbau, Vorwort und Einleitung
Nach einem Vorwort von Mechthild Papoušek und der Einleitung der
Herausgeberin gliedert sich der Band in fünf Kapitel, in denen sich
jeweils ein bis vier Beiträge versammeln:
1. »Frühe Kindheit und Gesellschaft«
2. »Zeit für Beziehung – Raum für Fantasie – Zeit für
Entwicklung«
3. »Frühkindliche Bildung und Gesundheit«
4. »Diagnostik und medizinische Versorgung – unter
Optimierungsdruck?«
5. »Frühe Hilfen und Kinderschutz«
Im Anhang des Bandes befinden sich die Grußworte zur oben benannten
Tagung.
Im Vorwort skizziert Mechthild Papoušek das gegenwärtig
wahrnehmbare Spannungsverhältnis zwischen den deutlich verbesserten
gesellschaftlichen Unterstützungssystemen für Familien und Kinder
(z.B. Elterngeld, Recht auf einen Kindergartenplatz) einerseits und
einer zunehmenden Überforderung und eines verstärkten
Belastungserlebens von Eltern sowie auffallenden psychischen und
Verhaltensproblemen von Kindern anderseits. Auf der Suche nach
Antworten für diesen scheinbaren Widerspruch konstatiert sie, dass
die »gute« Beziehungszeit in der familiären und sozialen
Interaktion, i.S. eines Einander-Zuhörens und Aufeinander-Eingehens
im Schwinden begriffen ist und eine gelingende intuitive
Kommunikation zwischen Eltern und dem kleinen Kind als
Voraussetzung einer stabilen Entwicklung aufgrund von Zeitnot und
Hektik aber auch unter dem gestiegenen Druck, alles richtig machen
und besser als andere sein zu wollen bzw. zu müssen, kaum zu
realisieren ist.
An die Bedeutung von genügend »guter« Beziehungszeit gerade in der
frühen Kindheit schließt auch Inken Seifert-Karb in ihrer
Einleitung an: In Berufung auf Ergebnisse aus Psychoanalyse und
Bindungstheorie, der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung
sowie den Neurowissenschaften sieht sie in emotional sicheren
Beziehungen die Grundvoraussetzung sowohl für die seelische
Gesundheit als auch die frühkindliche Bildung und das Fundament für
die auch aus sozialer Perspektive hochrelevanten Kompetenzen wie
Mitgefühl und Kooperationsbereitschaft, konstruktive
Konfliktfähigkeit und Solidarität.
Zu 1.
Im ersten Kapitel »Frühe Kindheit und Gesellschaft« betont Klaus
Hurrelmann die Bedeutung des Wechselspiels zwischen den
individuellen Voraussetzungen und Ressourcen einerseits und den
gesellschaftlichen Um- und Zuständen andererseits für die Erhaltung
von Gesundheit und die Entstehung von Krankheiten. Aufgrund der
gesellschaftlichen Veränderungen und deren Folgen für individuelle
Biographien (Stichwort: Ent-Strukturierung von Lebensläufen)
konstatiert er vor allem für Kinder und Jugendliche steigende
Anforderungen an die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Diese
können in Abhängigkeit von vorhandenen Ressourcen (z.B.
resultierend aus dem sozialen Status) eine Quelle von Belastungen
und letztlich Krankheiten darstellen, aber auch Chancen für
Neuorientierungen und Kreativität bieten. In der Befähigung von
Kindern und Jugendlichen zur Entwicklung eines produktiven
Bewältigungsverhaltens in der Auseinandersetzung mit komplexer
gewordenen Entwicklungsaufgaben sieht Hurrelmann die Hauptaufgabe
von Prävention und Therapie, für die er eine Gesamtstrategie
einfordert.
Zu 2.
Das zweite Kapitel »Zeit für Beziehung – Raum für Fantasie – Zeit
für Entwicklung« vereint vier psychoanalytische bzw.
familiendynamische Perspektiven, die auf die Bedeutung der
elterlichen Primärerfahrungen für den Aufbau einer sicheren
Beziehung zum Kind fokussieren.
Ute Auhagen-Stephanos (Die Bindung beginnt vor der Zeugung. Der
Mutter-Embryo-Dialog) ergänzt die mittlerweile gesicherten
Erkenntnisse um die Bedeutung der Pränatalzeit für die kindliche
Entwicklung um die Bedeutung der Zeit vor der Zeugung. An
Beispielen aus ihrer Arbeit mit ungewollt kinderlosen Frauen, die
sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen, zeigt sie, dass
eine positive Beziehung zum Kind bereits vor der Schwangerschaft
beginnen muss, um eine solche überhaupt erst zu ermöglichen.
Dagmar Brandi (»Ausgeträumt« – der Traum vom Familiennest.
Verklärung und Trauma oder Möglichkeit zur Entwicklung?)
verdeutlicht anhand eines Falls aus der entwicklungspsychologischen
Beratungspraxis »Von Anfang an. Hilfe und Beratung für Eltern mit
Kindern von null bis drei Jahren«, bei dem der Traum von einer
Familie unversehens zum Alb-Traum wird, wie groß oft der Graben
zwischen dem gewünschten Ideal der Kleinfamilie und der gelebten
Realität ist und wie er zum Wohle aller Beteiligten verringert
werden kann.
Terje Neraal (»Wenn der Akku leer läuft – Burn-out der Familie«.
Familiendynamische Ursachen und frühkindliches Erleben und
Vernachlässigung) zeigt in einer familiendynamischen Perspektive,
wie die eigene emotionale Vernachlässigung als Kind sowie die
Zurückstellung eigener Bedürfnisse zu vernachlässigenden
Familiensituationen beitragen. Hier wird deutlich, dass eine solche
Vernachlässigung grundsätzlich in allen sozialen Schichten möglich
ist, obgleich materielle Ressourcen zumindest zeitweilig einen
kompensatorischen Charakter haben können. Neraal stellt außerdem
die Rolle der HelferInnen und deren Gegenübertragungen für ein
Gelingen des Beratungsprozesses heraus.
Anhand eines Fallbeispiels aus der Beratungsstelle »Elternberatung
Oberursel« plädiert Inken Seifert-Karb (Verstehen, wie es anfängt.
Triadische Interaktion und unbewusste Familiendynamik – Szenen
einer psychoanalytisch-familientherapeutischen
Eltern-Säuglings-Behandlung) dieses Kapitel abschließend dafür,
Störungen in der frühen Kindheit immer in der
Säugling-Mutter-Vater-Triade zu verorten. Mittels einer
Video-Interaktionsdiagnostik werden die verschiedenen
Beziehungsebenen in der Triade erschließbar und tragen zum
Verstehen der Anfänge belastender Verhaltensweisen eines kleinen
Kindes in seinem familiären Beziehungsgefüge bei.
Zu 3.
In den drei Beiträgen des dritten Kapitels »Frühkindliche Bildung
und Gesundheit« verhandeln die AutorInnen die Frage, wie
Krippenpädagogik jenseits von Ökonomisierungs- und Bildungsdruck
gelingen kann und diskutieren psychoanalytisch-pädagogische und
bindungstheoretische Konzepte für eine Verbesserung der
Beziehungsqualität in Betreuungs- und Bildungsinstitutionen.
Zum Auftakt dieses Kapitels argumentiert Thilo Maria Neumann
(Ökonomisierungsdruck? Eine andere Pädagogik ist möglich!)
eindrücklich sowohl gegen eine entgrenzte Arbeitswelt, in der
Kinder – in entsprechenden Einrichtungen und auch sonst – vorrangig
funktionieren sollen als auch gegen eine durch
Ökonomisierungsbestrebungen und Förderwahn gekennzeichnete
pädagogische Praxis. Eine »andere Pädagogik« insbesondere im
Krippenbereich wäre Neumann zufolge durch a) emotionale Sicherheit,
b) feinfühlige Elternkontakte und c) die Konstruktion als
affektfreundlicher Übergangsraum gekennzeichnet, was allerdings
auch stabile und gesunde Arbeitsbedingungen für die PädagogInnen
voraussetze.
Wie eine solche feinfühlige Elternarbeit aussehen könnte
illustrieren Regina Studener-Kuras, Marai Fürstaller und Antonia
Funder (Elternarbeit im Kindergarten. Psychoanalytisch-pädagogische
Perspektiven zur Begleitung von Eltern in der Phase der
Eingewöhnung) dann auf der Basis eines Pilotprojektes zur
entsprechenden Weiterbildung von ErzieherInnen.
Im Anschluss stellen Jeanette Hollerbach und Karl Heinz Brisch
(Sekundäre Prävention von emotionalem Problemverhalten) durch
»B.A.S.E.® – Babywatching gegen Aggression und Angst zur Förderung
von Sensitivität und Empathie«) das Programm B.A.S.E.® zur
Verbesserung von Feinfühligkeit und Empathiefähigkeit bei
3-16-Jährigen Kindern und Jugendlichen in Kindergärten und Schulen
vor.
Zu 4.
Die Beiträge des vierten Kapitels »Diagnostik und medizinische
Versorgung – unter Optimierungsdruck?« befassen sich mit dem
Niederschlag gesellschaftlicher Veränderungen in einer
familien-psychosomatischen und einer geburtshilflichen Station in
zwei deutschen Universitätskliniken sowie der kinderärztlichen
Praxis und mit den Herausforderungen, die für das Personal daraus
resultieren.
Burkhard Brosig, Robert Wanke, Stefan Rauch, Lena Becker und
Klaus-Peter Zimmer (»Das macht mir Bauchschmerzen« Gesundheit bei
Kindern und Jugendlichen im Kontext von Leistungsdruck und
existentieller Unsicherheit) zeigen anhand statistischer Daten
sowie eines Falles von chronischen Bauschmerzen eines 16-Jährigen,
wie die Aufstiegs- und Absicherungswünsche von Eltern der sozialen
Mittelschicht, die zugleich beruflich und emotional hochbeansprucht
sind, sich beim Kind auf somatischer Ebene ausdrücken.
Christiane Prüßmann, Anne Junghans, Daniela Stindt und Ute Thyen
(GuStaF – Guter Start in die Familie. Fortbildungsprogramm für
begleitende Familienunterstützung und Vernetzung rund um die
Geburt) betonen die Notwendigkeit, medizinisches Fachpersonal zu
befähigen, besondere Belastungssituationen bei (werdenden) Eltern
rechtzeitig zu erkennen und auch entsprechend zu handeln. Sie
diskutieren zudem die mit solchen präventiven Eingriffen verbundene
Gefahr, bestimmte so genannte Risikogruppen per se als belastet zu
stigmatisieren und schlagen statt dessen ein niederschwelliges
Angebot für alle Familien vor.
Dieses Kapitel abschließend zeigt Rhea Seehaus (Normierung des
Kinderkörpers – Formierung der Elternsorge?! Ergebnisse einer
empirischen Studie) anhand der Vorsorgeuntersuchungen im
Kindesalter, wie den Körper und die Fähigkeiten von Kindern
betreffende Normen auch das elterliche Verhalten dahingehend
normieren und bewerten, inwieweit es als entwicklungsförderlich
gelten kann.
Zu 5.
Das fünfte und letzte Kapitel »Frühe Hilfen und Kinderschutz«
befasst sich mit Symptomen frühkindlicher Vernachlässigung und
Misshandlung sowie mit Modellen zur Früherkennung und
Prävention.
Philomena Wohlfarth (Kindesmisshandlung: Selbstzweifel und
Selbsthass, die sich gegen das eigene Kind richten. Die
transgenerationale Weitergabe von Gewalterfahrungen in der
Kindheit) plädiert für eine stärkere Fokussierung auf die Ursachen
der transgenerationalen Weitergabe von Gewalterfahrungen in
Prävention und Therapie. Anstatt betroffenen Eltern das Gefühl zu
vermitteln, sie kontrollieren zu müssen, was den innerfamiliären
Druck meist noch verstärkt, kann ein Bewusstsein für die oft
belasteten eigenen Biografien zu besserer Unterstützung, z.B. in
Form einer stärkeren Entlastung, führen.
Auch bei ihrer Vorstellung und Diskussion eines psychosozialen
Präventionsprogramms zur frühzeitigen Vermeidung von
Kindeswohlgefährdung thematisieren Manfred Cierpka und Oliver Evers
(»Keiner fällt durchs Netz«. Wie eng muss dieses Netz geknüpft
werden?) den häufig schwierigen Zugang zu potentiell bedürftigen
Familien, da jene solchen Angeboten oft misstrauisch und ablehnend
gegenüber stünden.
Die enormen fachlichen, personellen, aber auch finanziellen
Herausforderungen einer nachhaltigen Unterstützung von bereits
verhaltensauffälligen Kindern und deren Familien im Kontext
großstädtischer Brennpunktkieze zeigen Christian Ludwig-Körner,
Karsten Krauskopf und Ulla Stegemann (Förderung der
Eltern-Kind-Beziehung im Kindergarten. Die mögliche Rolle
spezialisierter Fachkräfte vor Ort). Zudem werden mögliche
Kontrast- und Konfliktlinien in der interkulturellen
Auseinandersetzung darüber, was einer guten kindlichen Entwicklung
zuträglich ist, deutlich.
Mit ihrer Perspektive auf den ökonomischen Ertrag Früher Hilfen
thematisieren Inga Wagenknecht und Uta Meier-Gräwe (Auf- und Ausbau
Früher Hilfen in Zeiten knapper öffentlicher Kassen) abschließend
einen oft wenig diskutierten Aspekt sozialer Arbeit. Denn die
Kosten Früher Hilfen, die wiederkehrend Gegenstand diverser
Kürzungsdebatten sind, sind in der Betrachtung der ansonsten zu
erwartenden Folgekosten im Bildungs-, Gesundheits- und Justizsystem
deutlich geringer.
Diskussion
Die in diesem Band zusammengeführten Beiträge machen die große
Bandbreite der möglichen Zugänge und Schwerpunktsetzungen bezogen
auf den Themenbereich »Frühe Kindheit« deutlich. Die Fokussierung
der bereits in Titel und Einleitung formulierten Frage nach der
Bedeutung von Optimierungsansprüchen für diese Lebensphase erfolgt
höchst unterschiedlich: Während einige Beiträge explizit auf
gesellschaftliche Normierungen abheben (z.B. Hurrelmann; Neumann;
Seehaus), zu denen sich Kinder, Jugendliche und Eltern verhalten
müssen und zu denen sie auch selbst beitragen, stellen andere
AutorInnen biografisch inspirierte intrapsychische Prozesse zentral
(z.B. Auhagen-Stephanos; Brandi, Neraal; Seifert-Karb), die
Belastungssituationen befördern, welche – so viel wird bereits aus
den eindrücklichen Fallvorstellungen deutlich – auch nicht
losgelöst von gesellschaftlichen Verhältnissen (z.B. soziale
Ungleichheit) zu verstehen sind. Besonders in den Texten, die sich
mit konkreten Angeboten Früher Hilfen für potentiell belastete
Familien befassen (z.B. Wohlfahrt; Cierpka & Evers; Ludwig-Körner,
Krauskopf & Stegemann) wird zudem deutlich, dass jegliche
Unterstützung – so geboten sie uns auch erscheinen mag – weder
standpunktfrei noch anormativ erfolgt.
Bereits die Feststellung zunehmender Verhaltensauffälligkeiten bei
Kindern oder abnehmender Erziehungskompetenzen von Eltern geht von
bestimmten Normvorstellungen bezüglich kindlichen oder elterlichen
Verhaltens aus und läuft Gefahr, sich an den kritisierten
Optimierungstendenzen zu beteiligen. Insbesondere die stark
psychodynamisch orientierten Beiträge könnten noch stärker in die
Diskussion derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse eintreten, in
deren Kontext sich psychische Dynamiken ja auch entfalten und z.B.
in der Arbeit mit ungewollt kinderlosen Frauen (Auhagen-Stephanos)
nach der Bedeutung des gesellschaftlichen Mutter-Ideals für das
individuelle Leid fragen oder in der Arbeit mit Migrantenfamilien
(Brandi) relevante Ablehnungs- und Diskriminierungserfahrungen
mitdenken.
Auf der Basis der stark bindungstheoretisch argumentierenden
Beiträge (z.B. Hollerbach & Brisch) wäre es auch denkbar, gerade
vor dem Hintergrund kulturell und sozial zunehmend heterogener
Gesellschaften die Frage nach der Reichweite bindungstheoretischer
Setzungen (z.B. das Konzept der »Feinfühligkeit«) zu diskutieren.
Am deutlichsten wird die Ambivalenz zwischen dem eigenen Anspruch
zu helfen und den daraus resultierenden Gefahren für die
»Betroffenen« (Stigmatisierung, Erhöhung des Drucks) in denjenigen
Texten, die sich mit der Unterstützung so genannter Risikogruppen
befassen (z.B. Prüßmann, Junghans, Stindt & Thyen; Cierpka &
Evers).
Insgesamt bieten die versammelten Beiträge m.E. eine sehr gute
Möglichkeit, um über die verbreitete Illusion einer »Störungsfreien
Entwicklung« zu reflektieren, die an gängige Risikodiskurse
anschließt, welche jegliche Verhaltensweisen jenseits einer rigiden
westlichen Mittelschichtsnorm als potentielle Gefahr für die
kindliche Entwicklung im Einzelnen und für die Gesellschaft als
Ganzes werten.
Fazit
Der vorliegende Sammelband liefert fundierte Einblicke in aktuelle
Wissensbestände über die frühkindliche Entwicklung aus
verschiedenen Disziplinen und ermöglicht ein vielschichtiges
Verstehen der Bedeutung von gesellschaftlich vermittelten und
individuell wirksamen Optimierungsbestrebungen für die Lebensphase
der »Frühen Kindheit«. Anhand diverser Fallbeispiele erfolgen
Einsichten in psychoanalytische und familiendynamische Modelle und
Arbeitsweisen. Die Vorstellung von Programmen zur Förderung von
Eltern, Kindern und Familien sind erhellend und regen ihrerseits
zur Diskussion über unser aller Vorstellungen von guter Kindheit,
guter Erziehung, guten Beziehungen und notwendiger Förderung an.
Die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven ergänzen sich
hierbei wechselseitig und geben durch so unterschiedliche Zugänge
wie Falldarstellungen oder die Vorstellung wissenschaftlicher
Begleitstudien einen breiten Einblick in die Vielschichtigkeit der
Betrachtungsmöglichkeiten der »Frühen Kindheit«. Damit stellt der
Band einen guten Ausgangspunkt für Forschende und PraktikerInnen
für eine weitere Reflexion der eigenen Positionen im ambivalenten
Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit von Unterstützung in
hochbelasteten Situationen bzw. bei verstärkter Unsicherheit von
Eltern oder der potentiellen Gefährdung von Kindern einerseits und
der eigenen Mitwirkung an Normierungs- und Optimierungsprozessen
andererseits dar.
Zitiervorschlag
Andrea Kleeberg-Niepage. Rezension vom 05.08.2016 zu: Inken
Seifert-Karb (Hrsg.): Frühe Kindheit unter Optimierungsdruck.
Entwicklungspsychologische und familientherapeutische Perspektiven.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2355-1. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/19744.php, Datum des Zugriffs
09.12.2016.
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