Rezension zu Die enthemmte Mitte
Leipziger Internet Zeitung
Rezension von Ralf Julke
1. Teil: Wie sich die Milieus der Bundesrepublik seit 2006 massiv
verschoben haben
Natürlich steht in der neuesten Veröffentlichung der Leipziger
Arbeitsgruppe um Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler
mehr, als dass sich die sogenannte »Mitte« enthemmt. Eigentlich
steht sogar drin, dass es gar keine »Mitte« mehr gibt und dass die
Leute, die sich dafür halten, alles Mögliche sind, nur nicht die
Mitte der Gesellschaft.
Das ist ja eines der großen Probleme der beiden Volksparteien, die
sich noch vor wenigen Jahren regelrecht geprügelt haben um diese
seltsame »Mitte«. In der – lange Zeit gültigen – Annahme, die
meisten Bundesbürger würden sich mit ihren politischen Ansichten
genauso wie mit ihren Einkommen in einer großen, leicht
konservativen Mitte verorten. Wer bestehende Verhältnisse bewahren
wollte, wählte konservativ, also eher CDU und CSU. Wer nur leichte,
sozial abgefederte Veränderungen wollte, wählte SPD. Es gab eine
Art stillschweigendes Abkommen – das aber in den vergangenen Jahren
mehrfach aufgekündigt wurde. Von der CDU/CSU in den 1980er Jahren,
als sie auf einen neoliberalen Wirtschaftskurs einschwenkte und
damit den Anfang machte beim Abbau der stabilen Verhältnisse.
Und bei der SPD spätestens unter Kanzler Gerhard Schröder, der mit
seiner »Agenda 2010« den Konsens mit der Wählerschaft der SPD
aufkündigte. Es ist also nicht unbedingt das Volk, das den Parteien
weggelaufen ist. Es sind eher die von goldenen
Dollar-Mark-und-Euro-Zeichen geblendeten Parteien, die dem Volke
entwischt sind. Und das ist alles schon »so lang her« und so
verinnerlicht, dass die heutigen Spitzenpolitiker dieser Parteien
oft gar nicht mehr begreifen, was da passiert ist, und sich nur
wundern, wie ihnen die Wählerbasis davonschwimmt.
Wenn man nur untersucht, was mit diesen geflüchteten Wählern
passiert, wie sie sich scheinbar radikalisiert haben in den
vergangenen drei Jahren und nun zum großen Wählerreservoir einer
nationalistischen und chauvinistischen Partei wie der AfD geworden
sind, der sieht nur die Hälfte des Bildes. Der bekommt natürlich
den Eindruck, dass sich immer größere Teile der Bevölkerung
radikalisieren.
Radikale Einstellungen haben sich nicht vermehrt
Aber das war ja schon eine der Überraschungen, die die Autoren der
»Mitte«-Publikation am 15. Juni bei der Vorstellung ihrer neuen
Studie in Berlin präsentieren konnten: Die radikalen Einstellungen
haben sich überhaupt nicht vermehrt – nicht einmal im PEGIDA-Jahr
2014 und auch nicht im Jahr der rassistischen Angriffe auf
Asylbewerber 2015. Im Gegenteil: Die radikalen Milieus
schrumpfen.
Und da ist man bei einem wesentlichen Kern dieser Studie. Denn mit
Partei-Präferenzen allein bildet man heutzutage nicht mehr ab, aus
welchen Milieus die Wähler eigentlich kommen. Das war mal so ganz
zu Anfang der Bundesrepublik. Diese klassischen Milieus der
Arbeiter, Beamten, kleinen Angestellten usw. aber haben sich längst
aufgelöst. Der Prozess ist seit den 1970er Jahren im Gange – was ja
der Grund dafür war, dass CDU und SPD begannen, nach möglichen
neuen Wählerschichten Ausschau zu halten.
Doch das haben sie sichtlich falsch angepackt.
Und das macht die Studie erstmals so deutlich, wie es bisher noch
keine Milieustudie getan hat. Das Material hat ja die Leipziger
Forschungsgruppe parat. Es sind die seit 2002 regelmäßig erhobenen
Fragebögen und Datensätze der »Mitte«-Studien, die sich eigentlich
zu »Rechts«-Studien entwickelt haben. 2002 war es noch ein Schock
für die Öffentlichkeit, dass viele Aspekte rechtsradikaler
Einstellungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft und auch in
die Wählerschaft aller demokratischen Parteien verbreitet waren.
Mal stärker, mal schwächer.
Man konnte die Parteien durchaus sauber einsortieren nach dem
Prozentanteil jener Wähler, die durchaus rechte und rechtsextreme
Ansichten pflegten. Diese Ansichten sind ja nicht lebendig, weil
überall an der Ecke ein Propagandabüro der Neonazis existiert,
sondern weil sie als Vorurteile im Denken vieler Menschen präsent
sind. Und nicht nur da: Auch demokratische Politiker und Medien
haben einige dieser Vorurteile immer wieder bedient – mal die
deutsche Großmannssucht, mal den Wunsch nach einer autoritären
Führung, mal die Ängste gegenüber Minderheiten und
Migrantengruppen.
Aufarbeitung? Fehlanzeige.
All das hat Geschichte. Auch eine der nicht bewältigten autoritären
Vergangenheit. Denn weder wurden die mentalen Folgen des
Nazi-Reiches wirklich transparent aufgearbeitet (beide deutsche
Staaten stahlen sich mehr oder weniger aus der Schusslinie), noch
erfolgte eine solche Aufarbeitung nach dem Ende der DDR, anders als
die zeitgeschichtliche Aufarbeitung. Denn wenn man an die
psychischen Deformierungen geht, stellt man immer auch die
Gegenwart in Frage. Und könnte man auch zu dem Ergebnis kommen,
dass auch die Elite in Politik, Justiz, Medien usw. so ihre
Probleme mit den Dimensionen der rechtsextremen und autoritären
Einstellungen hat.
Und dann das: Trotz zunehmender fremdenfeindlicher Gewalt sind die
demokratiefeindlichen Milieus nicht gewachsen. Der mediale Eindruck
täuscht also. Tatsächlich zeigt er nur, dass dieses zuvor meist nur
schlummernde Potenzial mit PEGIDA und AfD nur das gefunden hat, was
einige Politikbeobachter schon seit Jahren erwartet hatten: Eine
politische Organisationsform – die freilich sofort auch wieder
zeigt, dass auch dieses Milieu nicht homogen ist. Und dass es vor
allem wie keines der anderen Milieus unter einem extremen
Narzissmus leidet: Es giert geradezu nach Aufmerksamkeit.
Um die Milieus zu erfassen, haben die Forscher freilich nicht den
gewohnten Weg gewählt und erst einmal gesellschaftliche Milieus
definiert, zu denen sie dann die zugehörige Wählergruppe aus den
Daten gesucht hätten. Sie haben die Milieu-Suche vom Kopf auf die
Füße gestellt und innerhalb ihrer Daten nach Gruppen gesucht, in
denen die Grundeinstellungen relativ homogen sind und die damit
wahrscheinlich nicht nur die Lebensweise teilen, sondern auch
gesellschaftliche Werte.
3 entscheidende Milieus
Dabei fanden sie sechs recht eindeutig definierbare Milieus – drei
davon aufgrund ihrer Einstellungen eindeutig der Demokratie
feindlich gegenüberstehend. Das klingt nach Hälfte, ist es aber
nicht: Nichts ist derzeit so zersplittert wie das rechtsradikale
Spektrum von heute.
Die richtigen, auch gewaltbereiten Rechtsextremen findet man am
ehesten im »Rebellisch-autoritären Milieu«. Der Name sagt es schon:
Die Leute rebellieren gegen eigentlich alle Institutionen der
demokratischen Gesellschaft, wünschen sich aber unbedingt eine
autoritäre Regierung. Es ist das kleinste aller Milieus mit 7,3
Prozent aller Befragten – aber auch das aktionistischste und
rücksichtsloseste. Und: Es schrumpft. 2006 gehörten noch 11,4
Prozent der Befragten dieser Gruppe an. Was auch erklärt, warum
dieses Milieu immer radikaler und gewalttätiger wird – denn statt
die Gesellschaft zu erobern, verliert man immer mehr an Boden.
Etwas größer ist das Milieu der »ethnozentrisch Autoritären«: 10,3
Prozent. Hier finden sich all jene Menschen, die sich so etwas wie
einen autoritären Staat wünschen und möglichst so etwas wie ein
homogenes, einfaches Deutschland – so wie »früher« eben. Man
befürwortet ebenfalls Gewalt, auch wenn man es vorzieht, dass der
Staat diese Gewalt ausübt – gegen Andersdenkende und Migranten zum
Beispiel. Aber auch dieses Milieu scheint zu schrumpfen. 2006
gehörten noch 12,8 Prozent der Befragten dazu.
Und unter Schrumpfung leidet auch das Milieu der
»latent-antisemitisch Autoritären«. Hier haben sich sichtlich noch
einige Ansichten aus der NS-Zeit erhalten, man pflegt so eine Art
gesitteten Rassismus und misstraut den komplizierten demokratischen
Abstimmungsprozessen. Aber von 2006, als die Gruppe noch 17,4
Prozent der Befragten umfasste, ist sie 2016 auf 8,4 Prozent
geschrumpft.
Da ist also etwas gekippt. Denn auch die Gruppe, die man 2006 noch
irgendwie als »in der Mitte« bezeichnen konnte, das
»ressentimentgeladene Milieu«, ist geschrumpft – von 21,5 auf 14,1
Prozent.
Da hat man im Grunde die ganze alte ressentimentgeladene, leicht
chauvinistische und autoritätsgläubige Bundesrepublik (und DDR) der
Nachkriegszeit, die im Rückblick scheinbar so zivilisiert
aussieht, aber tatsächlich die Vorurteile der alten autoritären
Regime noch lange unterm Mäntelchen auslebte. Das waren die
eigentlich tragenden Milieus der alten Bundesrepublik – bis hin zu
den bornierten Rechtsradikalen und Anhängern einer autoritären
Regierungsform, die eben nur marginal auch als Wähler
rechtsextremer Parteien auftauchten, sondern vor allem von den
großen Volksparteien gebunden wurden.
Endlich eine neue Heimat für die Autoritätsgläubigen
Zumindest so lange, bis für sie eine wählbare, scheinbar
zivilisierte Alternative wie die AfD auftauchte. Die haben sie
jetzt. Und was die AfD bei den diversen Landtagswahlen abgeräumt
hat, gehört eindeutig diesen Milieus an. Dass sie dabei die
Autoritätsgläubigen nicht nur von SPD, CDU und CSU (von denen
besonders) abzog, sondern auch von der Linkspartei, wird
verständlich, wenn man die starke Fixierung auf autoritäre
Regierungsmodelle betrachtet. Mancher Linke-Politiker hat das als
Drama betrachtet. Aber die Wahrheit ist: Es ist die Riesenchance
der Linken, sich jetzt endlich von ihrem ganzen stalinistischen
Ballast zu befreien und wirklich zu einer modernen linken Partei zu
werden.
Und dann sind da die beiden Milieus, die in den Jahren 2006 bis
2016 kräftig gewachsen sind. Und das ist das Verblüffende: Es sind
die demokratischen Milieus, die durch das Aufkommen von AfD & Co.
scheinbar so unter Beschuss geraten sind. Doch sie sind nicht auf
dem Rückzug, sie wachsen. Allein das »konforme Milieu«, das nicht
nur die Spielräume der Demokratie akzeptiert, sondern auch am
wirtschaftlichen Wohlergehen partizipiert, wuchs binnen zehn Jahren
von 13,6 auf 29,3 Prozent. Hier spielt natürlich eine Rolle, dass
die Bundesrepublik wie kein anderes Land von den wirtschaftlichen
Entwicklungen der vergangenen Jahre profitiert hat. Die Angst vor
dem gesellschaftlichen Abstieg und der zunehmenden Konkurrenz durch
»Andere« geht nicht in allen Teilen der Gesellschaft um.
Das »moderne Milieu« wächst
Und weiter gewachsen ist auch das, was die Forscher »modernes
Milieu« nennen – von 23,3 auf 30,6 Prozent. Das ist natürlich ein
Milieu, das völlig anders tickt als die von Abstiegsängsten
geplagten eher rechten Milieus: Man hat sich nicht nur mit den
Veränderungen im Wirtschaftsleben arrangiert, zeigt sich weltoffen
und bereit zur Veränderung, man ist ja selbst Träger der
Veränderungen. Was dann eine zweite mögliche Erklärung für die
zunehmende Aggression am rechten Rand wäre: Man fühlt sich auch
von der Modernisierung unserer Gesellschaft abgehängt.
Befanden sich 2006 noch die eher vorurteilsgebundenen und
antidemokratischen Milieus in der Mehrheit, hat sich die
tatsächliche Lage völlig umgekrempelt: Heute bilden die modernen
und demokratischen Milieus die Mehrheit. Oliver Decker und Elmar
Brähler haben die Einstellungen und Wertmaßstäbe all dieser Milieus
sehr akribisch untersucht – was dann auch sichtbar macht, wie die
Parteien ihre Wählerschaft gerade aus dem antidemokratischen und
autoritätsgläubigen Bereich über die Jahre verloren haben an die
AfD.
Was nicht heißt, dass nicht auch die Wähler der anderen Milieus von
Ressentiments getrieben sein können und Themen – wie die verstärkte
Einwanderung – Vorurteile auch bis weit ins demokratische Milieu
hinein befeuern können. Natürlich ist die Analyse keine
Handlungsanweisung. Aber sie macht so einiges deutlich am falschen
Denken der großen Parteien über ihre potenzielle Wählerschaft.
Parteien, die die eigentlichen Themen ihres potenziellen
Wählermilieus nicht bedienen, verlieren logischerweise an
Zuspruch.
Aber es ist nicht die einzige Frage, mit der sich die Forscher in
diesem Buch beschäftigen. Nehmen wir uns im nächsten Teil also das
nächste Thema vor, natürlich »Die enthemmte Mitte« selbst.
2.Teil: Warum PEGIDA ausgerechnet im Osten spazierte und sich
immer
weiter radikalisiert hat
Wenn die »Mitte«-Studien aus Leipzig die Einstellungen der
Befragten nach Ost und West vergleichen, dann wird schnell
deutlich, dass da im Osten etwas am Kochen ist. Nicht erst seit
2012, als viele rechtsradikale Einstellungen auf Gipfelwerte
schossen. Natürlich hat das auch mit der Frage zu tun, warum
PEGIDA in Dresden so viele Anhänger gefunden hat.
Dabei nähern sich West und Ost in ihren Einstellungen seit 2002
immer weiter an. Manchmal im Zickzack, manchmal im Gleichschritt.
Was auch damit zu tun hat, dass die »Mitte«-Studien in Leipzig 2002
aus wichtigen Gründen gestartet wurden. Rostock, Hoyerswerda und
Solingen waren zwar schon lange her. Aber die Reihe rechtsradikaler
Straftaten nahm nicht wirklich ab. Immer wieder kam es zu Angriffen
auf Asylunterkünfte, Moscheen, Abgeordnetenbüros. Und zum ersten
Mal reagierte eine deutsche Bundesregierung aktiv darauf und
begann, Programme gegen den Rechtsextremismus im Land
aufzulegen.
Die Leipziger Forscher um Elmar Brähler wollten in dem Zusammenhang
genauer wissen, wie groß das mögliche rechtsradikale Potenzial in
Deutschland wirklich ist. Die Ergebnisse waren dann erst einmal ein
Schock – aber sie zwangen auch zur Analyse. Denn rechtsradikale
Einstellungen sind ja keine Fertigprodukte. Sie entstehen als
Reaktion auf gesellschaftliche Missstände, auf soziale und mentale
Ausgrenzung, aber auch aus falschen Erwartungshaltungen und
fehlender gesellschaftlicher Einbindung.
Wie eng solche Einstellungen mit Ängsten verknüpft sind, machte
der steile Anstieg der Kurve zur Ausländerfeindlichkeit von 2004
bis 2014 deutlich. Und zwar ganz und allein im Osten, wo der Wert
von 24,4 Prozent hinaufschoss auf 38,7 Prozent im Jahr 2012. Das
hängt nicht nur mit dem eigentlich schon chauvinistischen Buch
»Deutschland schafft sich ab« von Tilo Sarrazin zusammen, das 2010
für Furore sorgte, sondern auch mit dem zunehmenden Druck auf
viele Beschäftigte. Gerade Ostdeutschland wurde zum Testfeld der
drakonischen Instrumente aus dem »Hartz IV«-Paket. Die Zahl der
prekären Beschäftigungen schoss in die Höhe und logischerweise nahm
die Angst zu, dass man auf dem Lohnniveau direkt mit ausländischen
Arbeitskräften konkurrierte. Aber noch einen anderen Grund gibt es.
Darauf kommen wir noch.
Das änderte sich schon 2014 rapide – die Werte fielen fast auf das
westdeutsche Niveau. Die NPD flog aus dem sächsischen Landtag.
Dafür kam die AfD rein, die die alten rechtsradikalen
Ressentiments wesentlich gedimmter ansprach und damit deutlich mehr
der Abgehängten und Frustrierten für sich gewinnen konnte.
Welche Demokratie ist eigentlich gemeint?
Aber das Spiel hat Grenzen. Auch das macht die 2016er Studie jetzt
deutlich. Denn dass ein gewisser Anteil der Wählerschaft ihre
Ängste in massiven Vorurteilen kanalisiert, heißt noch nicht, dass
sie die Demokratie für unfähig halten, die Probleme zu lösen. Im
Gegenteil: Die Zustimmung zur Demokratie ist in Ost wie West hoch.
Im Osten stieg die Zustimmung sogar seit 2010 massiv an von 88,4
auf 94,2 Prozent. Schwer tun sich einige Zeitgenossen freilich mit
der Demokratie, wie sie in der Verfassung festgelegt ist. Hier
liegt die Zustimmung im Osten bei 72,5 Prozent. Aber auch das muss
man erwähnen: Der Wert ist von 57,2 Prozent im Jahr 2006
kontinuierlich angestiegen.
Die eigentliche Diskrepanz tritt auf, wenn die Forscher nach der
Demokratie fragen, wie sie augenblicklich in der Bundesrepublik
funktioniert. Da steigt der ostdeutsche Zustimmungswert zwar auch
von 27,3 auf 44,3 Prozent. Aber hinter dieser kritischen
Einstellung (auch im Westen werden nur 54,1 Prozent erreicht)
steckt natürlich das Gefühl fehlender Teilhabe, fehlender
Möglichkeiten, Politik zu beeinflussen.
Und das steht in der Auswertung von Oliver Decker, Johannes Kiess,
Eva Eggers und Elmar Brähler, die diesen Aspekt beleuchtet haben,
auch genau so da: »Diese hohe Frustration weist auf ein massives
Teilhabedefizit hin.«
Die Stichworte sind Partizipation und Transparenz
Was dann eben auch zu hohen Raten von Nichtwählern führt. Einige –
nicht alle – haben zwar bei der AfD ein neues Zuhause gefunden.
Aber dass die AfD und PEGIDA so viel Zulauf erhalten haben, hat
eher mit dem »Legitimationsverlust der etablierten Parteien« zu
tun, schreiben die Autoren. Wo die Etablierten die Beschäftigung
mit einigen wichtigen Themen der Zeit verweigern, entsteht
natürlich ein Freiraum für Populismus und Verschwörungstheorien.
Wobei 50,3 Prozent der Bundesbürger die Ziele von PEGIDA komplett
ablehnen, 9,5 Prozent haben sich mit dieser islamophoben Bewegung
noch nie beschäftigt. Immerhin 22,7 Prozent der Befragten finden
die Anti-Islam-Bewegung gut. Wobei man sich durchaus fragen darf,
ob sie die Ziele und Akteure von PEGIDA tatsächlich kennen. Aber
die Zahlen sprechen natürlich für die latenten rechtsradikalen
Einstellungen in weiten Teilen der Gesellschaft und für die – auch
durch Politiker – geschürte Angst vor Migranten aus dem Nahen
Osten.
Was eben noch nicht heißt, dass die Leute, die diese Ängste teilen,
auch zu PEGIDA- und LEGIDA- Demonstrationen gehen. Denn da hat sich
längst die Spreu vom Weizen getrennt. Dort dominieren längst die
Teilnehmer, die körperliche Gewalt nicht nur akzeptieren, sondern
auch selbst bereit sind, sie auszuüben, knallharte
Rechtsextremisten, kann man sagen. In der Umfrage wurde das
deutlich in der Parallelität von zunehmender Gewaltbereitschaft und
zunehmender Akzeptanz von PEGIDA, wie Alexander Yendell, Oliver
Decker und Elmar Brähler feststellen.
Neurechte Bewegungen und Demokratieakzeptanz
Und damit kommt auch ein anderer Aspekt ins Spiel: Je mehr die
Befragten PEGIDA zustimmten, umso höher war der Anteil derer, die
die Demokratie ablehnen und die sich eine einzige starke Partei
wünschen. Was natürlich zum Ergebnis führt, dass PEGIDA
mittlerweile vor allem mit den Themenfeldern Islamfeindlichkeit und
Rechtsextremismus korrespondiert. Die Studie bestätigt also die
Beobachtungen auf der Straße.
Dass sich das mittlerweile passend ergänzt mit der zunehmenden
Rechtsdrift der AfD, beschreibt in diesem Buch Alexander Häusler
unter dem Titel »Die AfD als rechtspopulistischer Profiteur der
Flüchtlingsdebatte«.
Und Thorsten Mense, Frank Schubert und Gregor Wiedemann beschreiben
den nächsten Aspekt, der in dieser Neuorganisation der deutschen
Rechten eine Rolle spielt: »Von ›besorgten Bürgern‹ zu
Widerstandskämpfern? – PEGIDA und die Neue Rechte«. Denn
unübersehbar versuchen die Theoretiker der »rechten« Revolution nun
schon seit Monaten mit aller Macht, sich auch zu den Vordenkern und
Stichwortgebern von PEGIDA und AfD zu machen und damit ein Rollback
in Gang zu bringen, das ihnen seit 50 Jahren nicht geglückt
ist.
Sie glauben in der Wiederherstellung der abgeschlossenen und
homogenen Nation eine Antwort auf die Krisen der Moderne gefunden
zu haben, greifen damit natürlich gerade die Ängste all jener auf,
die sich als Modernisierungs-Verlierer begreifen. Und da ist man
schnell in der sächsischen Provinz und dem, was man so landläufig
»demografische Entwicklung« nennt. Kaum ein Bundesland erlebt
derzeit so eine dramatische Neuorientierung, die nun einmal auch
eine Modernisierung ist – für die ländlichen Räume aber eine
Katastrophe. Wenn dann auch noch Flüchtlinge aus aller Welt in
Asylunterkünften in diesen ländlichen Kommunen auftauchen, dann
wird für die Betroffenen natürlich auch erstmals sichtbar, wie
sehr sich die Welt verändert hat.
Sachsen ist nun natürlich ein Beispiel dafür, dass auch die
regierende Politik die Ängste und Vorurteile der grimmigen
Spaziergänger verstärkt hat – und bis heute verstärkt. Das wäre ein
eigenes Forschungsfeld. Aber die Autoren werden ziemlich deutlich,
wenn sie feststellen, dass PEGIDA ganz bestimmt keine Bewegung ist,
mit der man den politischen Dialog suchen muss.
Der ist woanders fällig. Und es wird ja auch sichtbar, wo dieser
Dialog komplett fehlt – nicht nur in Sachsen: Das sind die großen
Themen Modernisierung, Globalisierung und Europa. Denn man kann
nicht immer so tun, als könnte man die fatalen Entwicklungen in
Afrika und anderswo einfach raushalten, irgendwie am Rande der EU
abschotten. Die Probleme der Welt sind auch unsere Probleme.
www.l-iz.de