Rezension zu Neoliberale Identitäten (PDF-E-Book)
Frauen beraten Frauen
Rezension von Bettina Zehetner
Das neoliberale Subjekt zwischen Grenzenlosigkeit und Ohnmacht
Unsere gegenwärtige gesellschaftliche Situation ist durch
zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche gekennzeichnet. Wir
müssen uns täglich bewähren auf dem immer beschleunigter,
druckvoller und prekärer werdenden Arbeitsmarkt ebenso wie auf dem
Markt der Körper und Beziehungen. In unserer Selbstausbeutung als
Humankapital sind wir unsere strengsten Richterinnen, wir wollen ja
selbst die geforderte Leistung bringen – um den Preis von Burn-Out
und Bindungsproblemen, Gefühlen der Leere und Sinnlosigkeit. Hinter
dem Credo »alles ist machbar« lauert die Kehrseite der eigenen
Ohnmächtigkeit und Ausgeliefertheit. Die Auswirkungen dieser
Entwicklung betreffen unsere Psyche und unsere Körper ebenso wie
unser soziales Zusammenleben, unser Selbstverständnis und unsere
Wahrnehmung von Beziehungen. Wir leben unter dem Imperativ der
beständigen Selbstbearbeitung und –optimierung und dem permanent
bedrohlichen Gefühl, nicht zu genügen. Diese Tendenzen werden auch
sichtbar im Gesundheitswesen, in Psychotherapie und Beratung sowie
in der Bildungspolitik. Der vorliegende Sammelband setzt sich mit
der Frage auseinander, wie diese neoliberalen gesellschaftlichen
Entwicklungen unsere Identitäten formen, welchen Herausforderungen
und potenziell schädlichen Anpassungsprozessen wir uns als Subjekte
unterwerfen. Die Beiträge behandeln die Thematik aus
psychoanalytischer, sozialpsychologischer,
politikwissenschaftlicher und pädagogischer Perspektive.
Almuth Bruder-Bezzel verdeutlicht die Identitätsformung durch
neoliberale Lebens- und Arbeitsbedingungen. Auch auf diejenigen,
die einen Arbeitsplatz haben, wirkt sich die Drohung von
Personaleinsparungen disziplinierend und verunsichernd aus, das
»Gespenst der Nutzlosigkeit« (Richard Sennett) geht um. Klaus
Ottomeyers Artikel »Die Bildung von Identität zwischen Liberalismus
und Dschihadismus« ist ein spannender Text zur Extremismusdebatte.
Mit der Frage »Management statt Verstehen?« bringt Giovanni Maio
die potenziellen Auswirkungen der Ökonomisierung auf die
Psychotherapie auf den Punkt und zeigt schlüssig, wie eine
kurzsichtige Quantifizierung von Input und Output, Kosten und
Nutzen das entwertet und verhindert, was tatsächlich heilende Kraft
hat: die Beziehung. Diese Entwertung von Beziehungen, der
Verleugnung unseres Einander-Ausgesetztseins bereitet den Boden für
eine gesamtgesellschaftlich höchst problematische
Entsolidarisierung und einen neuen »Jargon der Verachtung«
(Albrecht von Lucke). Für den Institutionenzusammenhang macht
Wolfram Keller die ökonomischen Zwänge in der stationären
psychosomatischen Behandlung sichtbar: Menschliches ist nicht
beliebig messbar und berechenbar und ein reduktionistisches
Menschenbild führt zu einem reduzierten Gesundheits- und
Krankheitsverständnis, das Pflegende, Patient_innen und Ärzt_innen
gleichermaßen belastet. Die Analytikerin Monika Huff-Müller lässt
»Traumatisierung in der globalisierten Postmoderne durch geleugnete
Entheimatung« und den Wert der Andersartigkeit in anschaulichen
Fallgeschichten lebendig werden. Ergebnisoffenes Sich-Einlassen auf
Erinnern und Durcharbeiten kann lebbare Geschichten mit
integrierter Vergangenheit und Gegenwart, Herkunft und Zukunft
entstehen lassen – ein Plädoyer für eine Psychotherapie ohne
Zeitdruck und Zielvorgabe.
Ein Kritikpunkt ist die fehlende Berücksichtigung der
Geschlechterperspektive, denn der Neoliberalismus ist keineswegs
geschlechtsneutral, sondern installiert hinter moderner Rhetorik
altbackene Geschlechterzuschreibungen und betrifft damit Frauen und
ihre Körper in ungleich massiverer Weise als Männer, etwa bei
unbezahlten Versorgungstätigkeiten und Care Work, bei der
Pornografisierung des Alltags, Prostitution und Frauenhandel.
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