Rezension zu Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen (1964-1985)

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Rezension von Peter E. Kalb

Persönliche Vorbemerkung

Eine notwendige Vorbemerkung: der Rezensent gehörte zur Gruppe der Opferzeugen-Betreuer im ersten großen Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main. Sein Name wird ca. 30mal in der vorliegenden Arbeit erwähnt bzw. mit Zitaten angeführt.

Thema

Die Untersuchung beschäftigt sich ausführlich mit dem zeitgeschichtlichen Kontext der Prozesse in den 1950er, 1960er und den 1970er Jahren bis zu den frühen 1980er Jahren. Die psychologische Sicht auf die Spätfolgen von KZ-Haft kommt in den Blick: die einschlägigen Disziplinen beschäftigten sich zunächst mit den Spätfolgen bei Kriegsteilnehmern bzw. Heimkehrern. Nur zögerlich kamen die psychischen Spätfolgen von KZ-Haft ins Visier. Es waren in der Regel eher die Außenseiter wie der deutsche Neurologe, Psychiater und Psychoanalytiker Paul Matussek, der schon 1961 darauf hinwies, dass sich unter den von ihm untersuchten Überlebenden des NS-Regimes niemand befände, »der die KZ-Haft ohne Dauerstörung überwunden habe«. Jedenfalls hat die Betreuergruppe im Frankfurter Auschwitz-Prozess ohne irgendeine psychologische oder psychiatrische Unterstützung geholfen – um den höchst problematischen Begriff des »Betreuens« zu vermeiden.

Inhalte

Der fehlende Opferschutz zu Zeiten der NS-Prozesse wird thematisiert und der Weg zu einer »offiziellen« Zeugenbetreuung heute skizziert. »Im Gegensatz zu der Situation der Opferzeugen in den NS-Prozessen, insbesondere der 1960er und 1970er Jahre, ist man sich heute des Risikos der sogenannten ›Sekundären Viktimisierung‹ bewusst und versucht, die körperliche und psychische Unversehrtheit des Opfers während des Verfahrens zu gewährleisten« (327). Beim Internationalen Gerichtshof ist es die Abteilung für Opfer und Zeugen VWU (Victims and Witnesses Unit), die sich darum kümmert.

Ausführlich diskutiert die Vf. die juristischen Besonderheiten der Strafverfahren gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher. Dazu gehört auch die Problematik des Zeugenbeweises. In diesen Verfahren fehlte es in der Regel an Akten-, Dokumenten- und anderen Beweismittel: es blieben die Aussagen der Opferzeugen. In Erinnerung sind die peinigenden und oftmals erniedrigenden Befragungen der Zeugen durch die Strafverteidiger der Anklagten. Seit Beginn der 1960er Jahre war zu beobachten, »dass man NS-Täter immer häufiger rechtlich als Gehilfen qualifizierte«. »Es geisterte das böse Wort durch die Sitzungssäle der Gerichte« konstatierte die seit 1966 in Hamburger NS-Verfahren als Staatsanwältin tätige Helge Grabietz bezüglich der Gehilfenrechtsprechung zynisch, »›pro Ermordeten gibt es 3 Minuten Freiheitsstrafe‹«(301).

Im Hauptteil der Untersuchung geht es um »die emotionalen Aspekte von Zeugenschaft und Betreuung«. Die Vf. begründet das von ihr gewählte Erhebungsverfahren des »narrativ-lebensgeschichtlichen Interviews« und ihre Orientierung an der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach dem Konzept von Philipp Mayring. In einem Beitrag in der Frankfurter Rundschau vom 25./26. Mai 2016 zur entscheidenden Rolle des damaligen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer wird die damalige Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs angeführt, der das Auschwitz-Urteil bestätigte, »wonach bei einem Verdächtigen der Nachweis geführt werden musste, dass dieser an einer räumlich und zeitlich ganz eng gefassten Tötungshandlung tatsächlich beteiligt war«. Fritz Bauers Auffassung, »wonach jeder Beteiligte in Auschwitz für den Massenmord mitverantwortlich war«, wird erst Jahrzehnte später wieder aufgegriffen (z.B. Demjanjuk-Prozess).

Der umfangreichste Abschnitt beleuchtet das emotionale Erleben der Zeugen und Betreuer. Die Betreuer erlebten die Opferzeugen vor und nach der Aussage vor Gericht. Sie wollten aussagen und hatten nicht selten Angst davor. Zudem war die Erleichterung nach der Aussage zu spüren. Häufig kamen die Zeugen dann wieder auf die Aussagesituation vor Gericht zurück. Sie wollten vom Betreuer wissen, wie ihre Aussage war. Sie wollten von dem erzählen, was sie im Stress ihrer Aussage vor Gericht vergessen hatten.

Diskussion

Auch bei der Betreuergruppe in Frankfurt entstanden – wie bei den Betreuergruppen bei den anderen erwähnten NS-Prozessen – intensive und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Zeuge und Betreuer, die noch Jahre nach dem Prozess anhielten. Bei privaten Besuchen in Frankfurt (also ohne Ladung vor Gericht) wohnten sie bei ihren Betreuer-Freunden. Einer von ihnen heiratete im Frankfurter Römer, der Betreuer war sein Trauzeuge. Da war schon längst eine Freundschaft entstanden. Kinder von Zeugen machten bei ihren Reisen von Polen nach Frankreich Station in Frankfurt beim früheren Betreuer usw.

Die Vf. leuchtet zudem die Berichterstattung über die NS-Gerichtsverfahren und deren Rezeption aus. Das Interesse der Öffentlichkeit und die Frage nach der gesellschaftlichen Wirkung dieser Verfahren kann schwerlich ohne eingehende Analysen eingeschätzt werden. Das öffentliche Interesse an diesen Verfahren hatte offensichtlich unterschiedlich verlaufende Konjunkturen. Zu erkennen war dies u.a. an den gelegentlich nur sehr spärlich gefüllten Besucherstühlen im Gerichtssaal. In Frankfurt zumindest, im Haus Gallus, gab es sowohl sehr guten Besuch als auch bisweilen freie Plätze.

Manchmal konnte der Beobachter den Eindruck haben, als ob damals in den 1960er Jahren von den Schulen in Frankfurt und Umgebung die Möglichkeit des Besuchs von Schulklassen nicht immer ausreichend genutzt wurde. Und erst heute wird die Bedeutung von Fritz Bauer deutlich: »(Er) setzt sich beim Bundesgerichtshof dafür ein, dass die Ermittlungen zum Gesamtkomplex Auschwitz zentral dem Landgericht Frankfurt übertragen werden«(FR 25./26. Mai 20016). Damit erst wurde Auschwitz im öffentlichen Bewusstsein zur Chiffre für den Massenmord an den europäischen Juden.

Fazit

Die Untersuchung von Merle Funkenberg bewahrt die Erinnerung an die Betreuung von Opferzeugen in den NS-Verfahren nach Mitte der 1960er Jahre. Mit der ausführlichen Darstellung der zeitgeschichtlichen Umstände und der juristischen Fragen wird nachvollziehbar, warum gerade bei den Betreuern häufig eine große Unzufriedenheit mit den Urteilen bestand. Bei allen Betreuergruppen, die Merle Funkenberg in ihre Untersuchung einbezogen hat, gibt es zumindest eine wichtige Gemeinsamkeit: sie sind aus zivilgesellschaftlichem Engagement entstanden.

Zitiervorschlag
Peter E. Kalb. Rezension vom 05.07.2016 zu: Merle Funkenberg: Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen (1964–1985). Zeitgeschichtlicher Hintergrund und emotionales Erleben. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2551-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/20909.php, Datum des Zugriffs 02.12.2016.

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