Rezension zu Verwaltung des Krankenmordes
Sozialpsychiatrische Informationen 1/2006 36.Jg.
Rezension von Heinz Faulstich
In diesem Buch geht es darum, ob und wie Provinzial- oder
Länderverwaltungen im NS-System selbst eine aktive Rolle bei der
Ermordung von psychisch kranken Menschen gespielt haben. Der
Verdacht bestand schon seit langem, ohne im Einzelnen belegt werden
zu können. Die bisher umfangreichste Darstellung der Entwicklung
eines Provinzialverbandes, nämlich diejenige von Bernd Walter über
die Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen (Paderborn
1996), konnte gerade in dieser Hinsicht keine Aufschlüsse geben, da
in den westfälischen Anstalten – mit Ausnahme einer kleinen
Kinderfachabteilung- nicht gemordet wurde. Nichtsdestoweniger hat
sich auch Walter mit dem Problem besonderer regionaler
Entwicklungen auseinander gesetzt und unter Hinweis auf die frühen
Krankenmorde in Pommern und die Entstehung der Mordanstalten
Hadamar und Meseritz-Obrawalde in der zweiten Phase der
»Euthanasie« den Begriff der »regionalen Euthanasie« vorgeschlagen,
womit er »die Fortsetzung der ›Euthanasie‹-Aktivitäten im
regionalen Rahmen und (...) in der Verantwortung von
Führungskräften in den Gau- und Gesundheitsverwaltungen« meinte,
die »aus eigenem Antrieb besonders radikal und skrupellos
agierten«.
Peter Sander hat nun mit dem Bezirksverband Nassau die Entwicklung
einer solchen Mordregion im Detail beschrieben. Als langjähriger
Mitarbeiter der Gedenkstätte Hadamar ist Sandner mit der
»Euthanasie«-Literatur und -forschung bestens vertraut, auch hatte
er durch die Bearbeitung der Kapitel über die NS-Zeit in den
Anstalten Weilmünster und Eichberg im Rahmen der von Christina
Vanja begründeten historischen Schriftenreihe des LWV Hessen selbst
wichtige neue Forschungsergebnisse vorgelegt. Damit ergab sich
erstmals die Möglichkeit eines Gesamtüberblicks über den
Wiesbadener Bezirksverband, seine Anstalten und die darin
handelnden Personen.
Vorangestellt sei die Charakterisierung der maßgeblichen
Führungskräfte: Sofort nach der Machtübernahme wurde Fritz
Bernotat, damals noch ein kleiner Verwaltungsbeamter, von Gauleiter
Jakob Sprenger, der ihn schon seit der »Kampfzeit« kannte und
inzwischen als den »agilsten Nationalsozialisten im Landeshaus« –
dem Sitz der Bezirksverbandes in Wiesbaden schätzen gelernt hatte,
zum »politischen Beauftragten« für den Bezirksverband ernannt.
Diese machtvolle Position konnte er noch ausbauen, als ihn der neue
Landeshauptmann Wilhelm Traupel im Herbst 1933 zu seinem Adjudanten
ernannte und mit vielen Kompetenzen und Vollmachten ausstattete.
Sowohl zu Traupel – der wie Bernotat SS-Mitglied war – als auch zu
Sprenger entwickelte Bernotat enge persönliche Beziehungen, was
nicht zuletzt auch seiner rasanten Beamtenkarriere zugute kam.
Gemeinsame Überzeugung dieser Führungstroika war die energische
Verfolgung rassenhygienischer Ziele und des Abbaus der »ungeheuren
Fürsorgelasten«. In einem Punkt aber unterschied sich Bernotat
deutlich von seinen Gesinnungsgenossen, nämlich in einem
persönlichen, in seiner Motivation noch unklaren, tiefgehenden Hass
gegenüber allen psychisch Kranken und geistig Behinderten. Schon in
der Vorkriegszeit sprach er offen davon, dass man »diese Kranken
umlegen« oder einfach »totschlagen« solle (vgl. S. 320).
Nachdem Traupel 1936 auch noch die Leitung des Bezirksverbands
Hessen, des nördlichen Teils der Provinz Hessen-Nassau übernommen
und seinen Dienstsitz nach Kassel verlegt hatte, schwang sich
Bernotat zum eigentlichen Herrscher des Bezirksverbandes Nassau
auf. Zunächst betrieb er mit der ihm eigenen brutalen Energie die
von Traupel eingeleitete Politik der Ausschaltung der
konfessionellen Anstaltsträger aus der Betreuung psychisch kranker
und geistig behinderter Menschen, wobei man auch vor falschen
Versprechungen und illegalen Machenschaften nicht zurückschreckte.
Durch Berechnung der in den staatlichen Anstalten höheren
Pflegesätze bei den übernommenen Patienten ließen sich dabei
erhebliche Gewinne erzielen.
Diese Erkenntnis, dass man an der Versorgung von Geisteskranken
auch gut verdienen könne, wurde für Bernotat zu einem der
Leitmotive seines zukünftigen Handelns. Bald wandte er es auch auf
diejenigen Patienten an, die sich ohnehin schon in staatlicher
»Anstaltsfürsorge« befanden, indem er sie weit unter dem Niveau
versorgen ließ, welches die Pflegesätze an sich erlaubt hätten.
Erreicht wurde dies durch massive Einsparungen in allen Bereichen,
so beim Personal und bei der Ernährung, vor allem aber durch eine
enorme Überbelegung. Anhand der Entwicklung von Weilmünster zu
einer nationalsozialistischen Sparanstalt kann Sandner dies
eindrücklich demonstrieren. Aufgrund der
Entkonfessionalisierungsaktion, aber auch durch Übernahme
zahlreicher Patienten aus der Rheinprovinz stieg dort die Belegung
zwischen 1935 und 1938 von rund 500 auf 1500 Patienten an. Damit
ging eine massive Qualitätsverschlechterung der pflegerischen
Versorgung einher, die auch dadurch entstanden war, dass man gerade
in Weilmünster bei der Wiederaufnahme des Krankenhausbetriebes
viele »alte Kämpfer«, darunter etliche SS-Männer, eingestellt
hatte, die von Krankenpflege keine Ahnung hatten und oft brutal mit
den Patienten umgingen.
Peter Sandner kann in Weilmünster noch ein anderes Phänomen
herausarbeiten, das für zukünftige Entwicklungen in den Anstalten
des Bezirksverbandes bedeutsam werden sollte, nämlich die Stärkung
der Macht der Verwaltungsleiter auf Kosten der ärztlichen
Direktoren. Bernotat ließ den Verwaltungsleiter von Weilmünster
jede Woche in seinem »Jagdschlösschen« in Weilmünster zum Rapport
antreten, um mit ihm die erreichten Fortschritte im Sparprogramm zu
besprechen, während es mit dem ärztlichen Direktor keinen Austausch
gab. Sandner stellt fest: »Im Einklang mit Landeshauptmann Traupel
baute Bernotat das Anstaltswesen als Herrschaftsgebiet der
Verwaltung und nicht der Medizin aus.« (S. 329) In dem 1940 voll
entbrannten Machtkampf zwischen Sprenger und Traupel, der zur
Entmachtung des Letzteren führte, schlug sich Bernotat
instinktsicher und rechtzeitig auf die Seite des Gauleiters, womit
seine dominierende Position im Bezirksverband endgültig zementiert
war.
Wie es genau dazu kam, dass als letzte der sechs Gasmordanstalten
der T4 das nicht ganz ideal gelegene Hadamar ausgewählt wurde, kann
auch Sandner nicht definitiv klären, da die entsprechenden Akten
des Bezirksverbandes vernichtet wurden. Er muss sich deshalb mit
der Konstruktion behelfen, dass der Besuch jener hohen Kommission
vom Februar 1939, der Prof. Carl Schneider, Dr. Herbert Linden vom
Reichsinnenministerium und ein SD-Mann angehört hatten und die alle
Vorwürfe des Frankfurter Psychiatrieprofessors Kleist über die
miserablen Verhältnisse in den nassauischen Anstalten zurückwies,
von »entscheidender Bedeutung für die Einbindung des
Bezirksverbandes Nassau in die ›Euthanasie‹-Verbrechen« gewesen
sei. Dabei hätten sich neben Bernotat auch der Eichberger Direktor
Dr. Mennecke als grundsätzliche Befürworter der »Euthanasie« zu
erkennen gegeben und dadurch für die Beteiligung an der Mordaktion
geradezu empfohlen.
Sandner kann unter minutiöser Auswertung der gesamten
»Euthanasie«-Literatur und -Prozessakten nachweisen, dass keine
andere Länder- oder Provinzialverwaltung so eng und intensiv mit
der T4-Zentrale zusammengearbeitet hat wie der Bezirksverband
Nassau. Die Kooperation reichte vom Einsatz eigener Arbeiter bei
der Einrichtung der Mordanstalt und der Abordnung eigenen Personals
zum Betrieb derselben bis zur kostenlosen Überlassung der Anstalt
Hadamar. Ein besonderes Entgegenkommen Bernotats bedeutete auch die
Tatsache, dass er alle seine Anstalten als Zwischenanstalten zur
Verfügung stellte und sich auch aktiv an der Steuerung der Zu- und
Abtransporte beteiligte. – »In dem Wiesbadener Anstaltsdezernenten
Bernotat fand T4 einen engagierten Mitstreiter, der aufgrund seiner
Präsenz und Durchsetzungskraft den Bezirksverband Nassau insgesamt
zu einem verlässlichen Partner der Mordorganisation formen konnte.«
(S. 510)
Die engen Verbindungen zwischen Bezirksverband und T4-Organisation
blieben auch nach dem Stopp erhalten, so wurde einerseits das vom
Bezirksverband zur T4 abgeordnete Personal teilweise zum
Russlandeinsatz mitgenommen, andererseits T4-Personal nach Eichberg
und Weilmünster versetzt, wo es sich maßgeblich an den aufkommenden
Medikamentenmorden beteiligte. Die Grundlage für Letzteres war die
von einzelnen Anstaltsdezernenten, so auch von Bernotat an
»zuverlässige« Ärzte ausgegebene Devise in ausgewählten Fällen
weiter »Euthanasie« zu betreiben. – Ein Hungersterben hatte es in
Nassau und Kurhessen schon vor der Aktion T4 gegeben. Nach dem
überraschenden Stopp der Aktion, als viele für Hadamar bestimmte
Patienten in den Zwischenanstalten zurückgeblieben und Ende 1941
auch noch Evakuierungstransporte aus den luftgefährdeten
norddeutschen Anstalten hinzugekommen waren, nahm es ab 1941/42 in
den Anstalten des Bezirksverbandes, besonders aber in Weilmünster
neue Dimensionen an.
Bezüglich des Hungersterbens gebührt Peter Sandner das Verdienst,
die strukturellen Voraussetzungen für den Einsatz der
Unterernährung als Mordmethode als Erster genau und überzeugend
herausgearbeitet zu haben. (Bei meinen vorwiegend statistischen
Forschungen zu diesem Thema ging es mir seinerzeit vor allem um den
Nachweis des Hungersterbens als solchem, um die allgemeinen
Ernährungsbedingungen und auch um regionale Unterschiede. In der
Regel standen mir jedoch keine Verwaltungsakten zur Verfügung.)
Während Sandner die Verantwortung für die Medikamententötungen den
ausführenden Ärzten und Pflegekräften zuschrieb, stellte für ihn
»die mangelhafte Nahrungsmittelversorgung (...) eine Tat der
Verwaltung im Einklang mit den grundsätzlichen Vorgaben aus der
Politik dar«. (S. 589) Tatsächlich war der Nahrungsentzug zusammen
mit der Überbelegung mit all ihren gesundheitsschädigenden
Auswirkungen diejenige Mordmethode, die die Verwaltung am
leichtesten steuern konnte.
Konkret ließen sich im Bezirksverband Nassau zwei Entscheidungs-
und Handlungsebenen nachweisen: Erstens die von Bernotat gelenkte
Zentralverwaltung in Form der sehr niedrigen Ansätze für die
Ernährung der Patienten im Haushaltsplan, zweitens in den Anstalten
selbst durch die tatsächliche Bereitstellung von
Lebensmittelmengen, die noch einmal deutlich unter den etatmäßig
vorgesehenen Rationen lagen. Für diese zusätzlichen Einschränkungen
waren die leitenden Verwaltungsbeamten, von Bernotat entsprechend
instruiert, verantwortlich. Die eingesparten Nahrungsmittel, aber
auch Kleidung und Ähnliches wurden an andere Institutionen und auch
an Einrichtungen der Partei abgegeben. – Dem Anstaltspersonal blieb
die vom Bezirksverband und den Verwaltungsleitern betriebene
Unterschlagung von Lebensmitteln nicht verborgen, was einer
Aufforderung gleichkam, sich selbst ebenfalls nach Kräften zu
bedienen. Das tat man dann auch. Die Unterschlagung von
Lebensmitteln kam aber auch der Justiz zu Ohren, die strenge
Sondergerichte zur Ahndung von »Verbrechen gegen die
Kriegswirtschaftsordnung« eingerichtet hatte. Die 1943 im Kalmenhof
und auf dem Eichberg durchgeführten Ermittlungen führten in zwei
Prozessen zur Verurteilung von Verwaltungsangestellten und
Wirtschaftspersonal. Auch Bernotat geriet ins Visier der
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, wurde aber von Gauleiter
Sprenger gedeckt.
Im Jahre 1942 eskalierte aus verschiedenen Gründen der schon seit
einiger Zeit schwelende Konflikt zwischen Bernotat und Mennecke,
unter anderem deswegen, weil Mennecke auf dem Eichberg eine
»Therapieabteilung» zur Durchführung der modernen Schockverfahren
einrichten wollte, die er bei Prof. Carl Schneider in Heidelberg
erlernt hatte. Mit seinem Vorhaben folgte Mennecke den Vorschlägen
der leitenden T4-Ärzte, welche der Psychiatrie mit Forschung und
Therapie – aber auch mit begleitender »Euthanasie« – eine neue
Zukunft zu geben gedachten. Bernotat jedoch sperrte sich dagegen.
Er betrachtete Menschen mit seelischen und geistigen Behinderungen
ausschließlich als minderwertige »unnütze Esser«, die keiner
medizinischen Behandlung bedürften und am besten alle beseitigt
werden sollten. Der Konflikt zwischen den beiden Protagonisten in
Nassau wird von Peter Sandner als exemplarisch für den Zerfall der
NS-Psychiatrie in zwei völlig verschiedene Lager angesehen, nämlich
in die »Psychiatriefraktion« der leitenden Ärzte in der
T4-Organisation auf der einen und der »Partei- und
Verwaltungsfraktion« auf der anderen Seite, zu der hochrangige
Verwaltungsbeamte wie Linden im Reichsinnenministerium, aber auch
Allers und H. J. Becker in der T4-Organisation gehörten. Mennecke,
der seinen früheren Förderer Bernotat mittlerweile für »den größten
Feind der Zukunftspsychiatrie« hielt, konnte sich durch seine
Parteinahme für die »Psychiatrie-Fraktion« im Bezirksverband nicht
mehr halten. Bernotat ließ im Januar 1943 seine Freistellung vom
Militärdienst aufheben und sorgte dann auch noch dafür, dass er an
der Ostfront eingesetzt wurde.
Seinen ungebrochenen Vernichtungswillen konnte Bernotat im Sommer
1942 erneut unter Beweis stellen, nachdem die Berliner T4-Zentrale
die Anstalt Hadamar an den Bezirksverband zurückgegeben hatte. Er
machte daraus ein Zentrum der zentral organisierten und dezentral
umgesetzten Krankenmorde mithilfe von Medikamenten. Auch hierzu
haben sich keine Dokumente auffinden lassen. Sandner geht aber mit
Recht davon aus, »dass die Grundsatzentscheidung zur im August 1942
geschehenen Wiedereinrichtung der Mordanstalt Hadamar gemeinsam von
Vertretern des Bezirksverbandes und von ›T4‹ (...) getroffen wurde.
Die mehrtägige Begegnung zwischen den Wiesbadener Landesräten
Bernotat und Kranzbühler einerseits sowie dem Berliner
Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten und
›T4‹-Mitarbeiter Linden andererseits, die Mitte Mai 1942 (...)
stattgefunden hatte, dürfte für diesbezügliche Kontaktaufnahmen
genügend Gelegenheit geboten haben«. (S. 609) Später traf sich
Bernotat auch noch mit dem Geschäftsführer der T4 Dietrich Allers
und dem Leiter der zentralen Verrechnungsstelle Hans-Jochim
Becker.
Wie schon während der Gasmordaktion kam es auch jetzt wieder zu
einer reibungslosen Zusammenarbeit, von der sowohl der
Bezirksverband als auch T4 profitierte. So stellte T4 das
vorübergehend in Weilmünster beschäftigte Mordpersonal nun für
Hadamar zur Verfügung, half bei der Neueinrichtung der Anstalt u.
a. mit der Lieferung von Strohsäcken und ließ die ersten Transporte
von der Gekrat durchführen. Der Verwaltungsleiter Klein, der sich
schon während der Gasmorde in vielfacher Hinsicht nützlich gemacht
hatte, wurde jetzt lokaler Ansprechpartner und Repräsentant von T4.
Auf der Ebene des Bezirksverbandes avancierte er zum eigentlichen
Direktor der Mordanstalt, während der Arzt Dr. Wahlmann lediglich
die Rolle eines medizinischen Feigenblattes spielte.
Die Organisation der Verlegungen war dem Duo Bernotat und Linden
vorbehalten, die zumeist telefonisch miteinander kommunizierten.
Linden, den auch Sandner als die »Schlüsselfigur« der
Patientenmorde nach T4 einschätzt, war durch die regelmäßigen
Belegungsmeldungen der Anstalten genau informiert und konnte je
nach Räumungserfordernissen die Evakuierungstransporte dorthin
dirigieren, wo noch Platz war. Bernotats Aufgabe in diesem System
war es, immer wieder freie Plätze anzubieten – auch durch die
Ermordung der Patienten. Waren die Platzanforderungen für Hadamar
zu groß, dann schickte er Transporte wieder in die ehemaligen
Zwischenanstalten. Von dort erfolgte dann später der
Weitertransport nach Hadamar als der effektiveren Tötungsanstalt. –
Insgesamt wurden in Hadamar in der Zeit von August 1942 bis zum
Kriegsende mehr als 4400 Menschen ermordet, in der Hauptsache
evakuierte psychisch Kranke aus vielen deutschen Anstalten, von
denen fast 90 % bis Kriegsende starben, ab 1944 aber auch
körperlich und psychisch kranke Zwangsarbeiter, Fürsorgezöglinge
und jüdische Mischlingskinder.
So ausführlich wie bisher noch kein anderer »Euthanasie«-Forscher
beschäftigt sich Peter Sandner mit der Tatsache, dass praktisch
zeitgleich mit der Wiedereröffnung von Hadamar auch in
Meseritz-Obrawalde eine Anstalt mit eindeutigem Tötungsauftrag ihre
Tätigkeit aufnahm und dass zwischen den beiden Anstalten auffällige
Ähnlichkeiten bestanden: Beide wurden in der Regie von
Provinzialverwaltungen betrieben, beide wurden von
Verwaltungsbeamten geleitet – Klein in Hadamar und Grabowski in
Meseritz – und in beiden wurden aus dem ganzen Reich
antransportierte Psychiatriepatienten mit Medikamenten ermordet. –
Pointierter noch als in seinem Buch hat Peter Sandner in einem am
21. Mai 2004 in Warschau gehaltenen Vortrag vor polnischen
Medizinern und Historikern und dem aus Deutschland angereisten
Arbeitskreis zur Erforschung der »Euthanasie« die Ergebnisse seiner
diesbezüglichen Forschungen dahingehend zusammengefasst, dass
Hadamar und Meseritz-Obrawalde »zu Modellanstalten einer neuen
systematischen Krankenmordaktion« geworden seien, die »als Ersatz
oder Fortsetzung der Gasmordaktion gelten« könne. Entscheidend sei
dabei, dass dieses »Kooperationsprojekt« zentral durch den
Reichsbeauftragten Herbert Linden und Vertreter der »T4«-Zentrale
in Berlin gesteuert und dezentral von Anstaltsträgern umgesetzt
worden sei, wobei nicht mehr – wie in der T4-Aktion – die Ärzte,
sondern die Verwaltungsleute das Sagen gehabt hätten.
Die These von der zentralen Steuerung einer dann dezentral
durchgeführten Mordaktion ist gerade für diese bisher noch viel zu
wenig beachteten Sonderentwicklungen in Hadamar und Meseritz
hochgradig evident, aber sie als Ersatz oder gar Fortsetzung der
Gasmordaktion zu bezeichnen, in der es ausschließlich – wie
seinerzeit in Aktion T4 – um die Vernichtung lebensunwerten Lebens«
gegangen sei, erscheint mir denn doch recht kühn. In dieser These
fehlt mir wenigsten ein kleiner Hinweis darauf, dass die massive
Steigerung der mörderischen Aktivitäten auch etwas mit dem
gestiegenen Bedarf an Krankenhausbetten infolge des Bombenkrieges
und der erheblichen Verluste im Ostfeldzug zu tun hatten. – Gewagt
ist auch die Annahme von Peter Sandner, dass diese Sonderaktion
durch Karl Brandt legitimiert gewesen sei. Er stützt sich dabei auf
die »unmittelbare zeitliche Nähe der Wiedereröffnung der Anstalt
Hadamar zur Ernennung von Karl Brandt zum Bevollmächtigten für das
Sanitäts- und Gesundheitswesen am 28. Juli 1942«. (S. 609) Nachdem
er diesen Zusammenhang zunächst nur für wahrscheinlich hielt,
stellt er danach die Legitimierung der neuen Aktion durch Brandt an
vielen Stellen seines Buches als gegeben dar. Dabei hebt er
besonders auf den in Hitlers Ernennungsschreiben enthaltenen
Begriff der »Sonderaufgaben« ab, der sich aber im vollen Wortlaut
des Erlasses ausdrücklich auf »Sonderaufgaben und Verhandlungen zum
Ausgleich des Bedarfs an Ärzten, Krankenhäusern usw. zwischen dem
militärischen und dem zivilen Sektor« bezog. Die zeitliche Nähe
allein schafft sicherlich noch keinen inhaltlichen
Zusammenhang.
Ich möchte Peter Sandner vorschlagen, es doch bei der von ihm
vorzüglich herausgearbeiteten und bewiesenen These von der aktiven
Rolle von Provinzial- und Länderverwaltungen bei der Durchführung
von Krankenmorden zu belassen. Leute wie Fritz Bernotat oder der
Gauleiter von Pommern, Franz Schwede-Coburg entsprachen genau der
oben zitierten Beschreibung Bernd Walters von Führungskräften in
den Gau- und Gesundheitsverwaltungen, die »aus eigenem Antreib
besonders radikal und skrupellos agierten«: Beide hatten schon vor
der Aktion T4 gemordet und konnten sich danach durch Hitlers
»Euthanasie-Ermächtigung« nur bestätigt fühlen. Sie bedurften nicht
ständig neuer Legitimation.
Weiter oben hatte ich Bernotats Erkenntnis, dass man an Leiden und
Tod der Patienten auch noch Geld verdienen könne, neben seinem Hass
auf alle psychisch Kranken als eines der Leitmotive seines Handelns
herausgestellt. Durch ständige Überbelegung seiner Anstalten mit
auswärtigen Patienten (für die er keine Pflegesätze zu bezahlen
hatte), durch Unterernährung, Unterversorgung und Ermordung wurde
diese perverse Profitgier so perfekt umgesetzt, dass der hoch
verschuldete Bezirksverband Nassau am Ende der NS-Zeit alle
Schulden in Höhe von 40 Millionen Reichsmark getilgt und 15
Millionen RM Rücklagen gebildet hatte. Als der Kämmerer Landesrat
Willi Schlüter im Mai 1945 seinem Nachfolger über die günstige
Finanzlage berichtete, soll dieser beglückt ausgerufen haben: »Mir
ist, als ob ich heute Geburtstag hätte!« – Übrigens wurde keiner
der höheren Beamten des Landeshauses, die an diesem Ergebnis
fleißig mitgewirkt hatten, nach dem Krieg gerichtlich belangt. Sie
waren noch nicht als Mittäter erkannt.
Gegen Schluss sind noch einige Worte über das Buch als solches
angebracht: Da ist zunächst zu rühmen, dass es für seine fast 800
Seiten mit 35 Euro recht preisgünstig ist, was wahrscheinlich nur
durch Zuschüsse des LWV Hessen möglich wurde. Leider hat man die
Unterbringung der riesigen Textmassen aber auch durch einige
Nachteile erkauft: So ist das fast 2 kg wiegende Buch schwer zu
handhaben. Bei der zu straffen Leimbindung und dem zu schmalen
Innensteg muss man die Seiten kräftig auseinander drücken, um die
in der Mitte liegenden Satzanfänge und -enden lesen zu können. Auch
sind die Ziffern der Anmerkungen so klein, dass man immer wieder
zur Lupe greifen muss. Wahrscheinlich hätte es dem Buch gut getan,
den ausufernden Anmerkungsapparat, der im Durchschnitt fast ein
Drittel der Textseiten in Anspruch nimmt, zu straffen, oder, falls
der Autor damit nicht einverstanden gewesen wäre, den Text auf zwei
Bände zu verteilen.
Dennoch stellt das Buch mit dem gelungenen Nachweis der aktiven
Beteiligung von Verwaltungen an Krankenmord und Hungersterben einen
Meilenstein in der Erforschung der NS-Psychiatrie dar und sollte
zur genaueren Untersuchung der Verwaltungsstrukturen in den bereits
identizierten Mord regionen der zweiten Phase der »Euthanasie«
anregen. Darüber hinaus krönt es – quasi als »Schlussstein«- die
von Christina Vanja mit großer Energie durchgehaltene Erforschung
und publizistische Erschließung jener Provinz des Dritten Reiches,
in der mit rund 20 000 Opfern die meisten psychisch Kranken
ermordet wurden.