Rezension zu Form und Funktion des Krankhaften
Systemmagazin
Rezension von Peter Bormann
Unter diesem Titel hat Uli Reiter, laut Verlagsauskunft Autor,
Künstler und Marketingdienstleister ein systemtheoretisches Buch
zum Thema der Übertragung von Krankheitsbildern und -vorstellungen
auf soziale Systeme und die Gesellschaft als Ganzes vorlegt.
Erschienen ist es mit einem Vorwort von Peter Fuchs im Gießener
Psychosozial-Verlag, einem Verlag, der schwerpunktmäßig
psychoanalytische Literatur verlegt, aber mit diesem Band auch eine
Hand in das systemtheoretische Feld ausstreckt. Peter Bormann hat
das Buch für systemagazin gelesen und rezensiert, sein Fazit: »Uli
Reiters Studie zur Pathologie als Modalmedium brilliert vor allem
durch die gestellten Fragen, die sie experimentell durchspielt.
Während die Antworten, insbesondere mit Blick auf die
metaphorischen Mechanismen, nicht in jedem Fall zu überzeugen
wissen. Gleichwohl ist der Text höchst lesenswert. Denn seine
Fragen stimulieren, bislang als evident angesehene Sachverhalte
(soziale Dysfunktionen, Defekte, etc., die als pathologisch
charakterisiert werden) in ungewohnten Suchrichtungen neu zu
interpretieren.« Aber lesen Sie selbst:
Peter Bormann: Uli Reiter (2016), Form und Funktion des Krankhaften
– Pathologie als Modalmedium
Zum Autor
Uli Reiter ist ein Multitalent, das seit vielen Jahren beständig
zwischen Web- und Printdesign sowie künstlerischen und
wissenschaftlichen Projekten oszilliert. In systemtheoretischen
Kreisen wurde er bekannt durch sein 2009 erschienenes Buch Lärmende
Geschenke, das das Phänomen der Korruption sozioevolutionär mit den
konzeptuell-theoretischen Mitteln der soziologischen Systemtheorie
der Bielefelder Schule (Niklas Luhmann et al.) untersucht [1].
Wer mehr zu der Person des Autors und den vielfältigen Projekten
erfahren möchte, der sei auf [2,3] verwiesen.
Warum sollte man dieses Buch lesen?
Wer sich die alltäglich-interaktionellen, massenmedialen,
politischen, etc. Kommunikationen genauer anschaut, der wird
feststellen, daß es an Krankheitsmetaphern (Metastasen,
Virusinfektionen, Parasiten, Seuchen / Epidemien, psychischen
Erkrankungen, etc.), die auf Soziales angewandt werden, keinen
Mangel gibt.
In einer Common-Sense-Perspektive wird das wenig Erstaunen
auslösen. Denn man kann die Metaphern, die von den Systemreferenzen
Körper und Psyche auf die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme
(Wirtschaft, Politik, etc.), Organisationen und Familien projiziert
werden, einfach als drastische Konkretisierungen abtun.
Wenn man freilich eine kontraintuitive Sichtweise einnimmt, wie sie
die Bielefelder Systemtheorie pflegt, dann verflüchtigt sich dieser
banale Eindruck. Nun kann man mit Uli Reiter fragen, ob Pathologien
des Sozialen nicht auch als eine Problemlösung für ein zu
konstruierendes Problem angesehen werden können.
Dieser kontraintuitive Ausgangspunkt führt zu drei Themenbereichen,
die in dieser sozioevolutionär orientierten Studie sozialer
Pathologien behandelt werden:
• Begrifflichem: Der Text startet mit einer kurzen Etymologie des
Ausdrucks Pathologie. Er behandelt danach die Unterscheidungen
Irritation / Information und Normalität / Abweichung, die für den
Theorieteil relevant sind. Und er schließt mit den historischen
Bedeutungen des Krankheitsbegriffs bzw. einigen Preadaptive
Advances der Pathologisierung von sozialen Systemen.
• Theoretischem: In den Theorieabschnitten geht es primär darum,
eine neue Art von Medium, nämlich: Modalmedien, vorzustellen und zu
plausibilisieren [siehe unten Abschnitt (4)]. Metaphorik wird dann
als ein allgemeines Modalmedium präsentiert, woran die
Pathologisierung des Sozialen mit ihren Formen und in ihrer
Funktion als spezielles Modalmedium anzuschließen vermag.
• Anwendungsbeispielen: Die Arbeit endet mit diversen Beispielen
aus dem Bereich der Massenmedien (der Pathologisierung der
öffentlichen Meinung, Inflations- und Deflationstendenzen, viralem
Marketing, etc.).
Interessant ist dieses Buch damit für alle Fans der soziologischen
Systemtheorie Bielefelder Provenienz, weil hier sowohl ein neuer
Medientyp experimentell eingeführt wird als auch das Warum, Wie und
Wozu von als krank(haft) markierten Abweichungen erläutert
werden.
Darüber hinaus ist dieser Text auch für all diejenigen von
Interesse, die in Veränderungsprojekten (Coaching, Consulting,
Change-Management, etc.) involviert sind, Denn, wie Uli Reiter
aufzeigt, dienen die (metaphorischen) Formen sozialer
Pathologisierung auch dazu, die in der Moderne unwahrscheinlich
gewordene Annahme von Kommunikationsangeboten zu bearbeiten. Hierzu
wird ein Veränderungsdruck erzeugt, bei dem die Krankheitsmetaphern
der rhetorischen Persuasion zuarbeiten, so daß organisatorische,
u.a. Interventionsvorhaben daran andocken können.
Diese Erkenntnis ist nicht völlig neu. Aber es ist höchst
interessant, die damit einhergehenden Paradoxa veranschaulicht zu
bekommen!
Vorkenntnisse
Man darf diesen Text als eine soziologisch-systemtheoretische
Fachpublikation einstufen. Das heißt, gute Kenntnisse der
Bielefelder Systemtheorie sind für die Lektüre angeraten. Uli
Reiter schiebt zwar einige Erläuterungen zu den diversen
Medientypen, der dreistelligen Kommunikationssynthese, etc.
teilweise nach. Aber diese kommen für nicht-systemtheoretisch
versierte Leserinnen und Leser wohl zu spät.
Das bedeutet im Umkehrschluss: Auf diese Redundanzen hätte, mangels
Zweckdienlichkeit, auch verzichtet werden können.
Was ist theoriebautechnisch neu?
Neu ist die bislang nicht konsolidierte Theoriekomponente der
Modalmedien, die in Analogie zu Konflikten (als sich in die
Kommunikation einklinkenden parasitären Systemen) als
Medienparasiten fungieren: In beiden Fällen geht es darum, die
bedrohte Autopoiesis der Kommunikation fortsetzen zu können, wobei
Medien(formen) selbst nicht operationsfähig sind.
Oder in weniger kryptisch-verkürzter Formulierung: Modalmedien
reichern die Formen bestehender Kommunikationsmedien (Sprache,
Verbreitungsmedien, etc.) mit Zusatzbedeutungen (pathologisch,
individuell, genial, ästhetisch, kriminell, illegal, etc.) an, so
daß sie als Medien 2. Ordnung fungieren. Sie bringen also ein
zusätzliches, stets beobachterrelatives (!) Formgebungspotential
immer dann ins Spiel, wenn die Bezugsprobleme anderer
Kommunikationsmedien (Verstehen, die Erreichbarkeit von Adressaten
und der Erfolg der kommunikativen Überzeugung) bzw. die
Bezugsprobleme von Sozialsystemen selbst problematisch werden.
Sprach-, Macht-, Wahrheits-, etc. Formen können in diesen Fällen
auch als pathologisch / nicht-pathologisch, kriminell /
nicht-kriminell, etc. ausgezeichnet werden, so daß die Fortführung
der kommunikativen Autopoiesis garantiert bleibt.
Diese Idee wird auf Metaphorik (Unterscheidung: sinnwidrig /
sinngemäß) als allgemeines Modalmedium angewandt, an das Pathologie
und ihre vielfältigen Krankheitsmetaphern als spezifischeres
Modalmedium anschließen können.
Das Bezugsproblem für die Entstehung des neuen Modalmediums
Pathologie besteht dabei im Problematisch-Werden der Unterscheidung
Normalität / Abweichung durch die Explosion von
Abweichung(sverstärkung)en beim Übergang von der stratifizierten
zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft.
Mit anderen Worten: Während in der Vormoderne Abweichungen durch
peer pressure in Interaktionskontexten sowie durch Hierarchien und
Religion eingehegt waren, wurden sie im Laufe der Frühmoderne
zunehmend zum Normalfall, so daß die Unterscheidung Normalität /
Abweichung zu kollabieren drohte. Modale Markierungen der
Abweichungen als pathologisch, aber auch als individuell,
kriminell, usf. fungieren schließlich als beobachterrelative
Renormalisierungen dieser Abweichungen.
Soziale Pathologisierungen beziehen sich dabei sowohl auf
Sozialsysteme ohne Kommunikationsadressen (die Gesellschaft und
ihre Funktionssysteme) als auch auf Sozialsysteme mit
Kommunikationsadressen (Organisationen und Familien).
Gerade mit Blick auf Letztere bearbeiten diese Pathologisierungen
dann nicht nur die Unwahrscheinlichkeit der kommunikativen
Überzeugung, sondern sie dienen auch als kommunikative
Vorbereitung, um in diese Sozialsysteme (im Sinne von Auslöser-,
aber nicht von Durchgriffskausalität) intervenieren zu können
(siehe Familientherapien, Organisationsberatungen, etc.).
Problemzone Metaphorik als Modalmedium
Wenn man einmal vom anspruchsvollen systemtheoretischen Lingo
absieht, dann scheint die Charakterisierung der Metaphorik zutiefst
in der rhetorischen bzw. philosophischen Tradition verankert zu
sein [siehe 4, 5]: Denn die im Text ausgeführte Unterscheidung
sinnwidrig / sinngemäß kann auf die altbekannten Unterscheidungen
nonliteral (figurativ, tropisch, etc.) / literal bzw. uneigentlich
/ eigentlich zurückbezogen werden. Hierbei gilt das Literale als
impliziter Beobachtungsstandard.
Immer wenn es nun zum Stottern aufgrund semantischer Anomalien
kommt, kann in den metaphorischen Beobachtungsmodus umgeschaltet
werden, so daß oftmals (wenn auch nicht immer) eine
Kompatibilisierung des semantisch Unverträglichen erfolgt.
Darüber hinaus verweist auch die These Uli Reiters, daß
»Metaphorisierung […] vermutlich eine ursprünglich künstlerische,
vielleicht auch magische Strategie« (S. 71) sei, auf ein
restringiertes Verständnis von Metaphern, die letztlich Bereichen
der uneigentlichen Rede (Kunst, Magie – man könnte auch noch die
Rhetorik erwähnen) entstammen sollen.
Demgegenüber würde die Metaphern in allen anderen (eigentlichen)
Kommunikationsbereichen als ein Supplement fungieren. Dieses hat
jedoch, wie wir seit Derrida wissen, mitunter die Tendenz, sich an
die Stelle des zu Ersetzenden zu setzen.
Man muss sein Misstrauen nun nicht unbedingt an einer allzu
konventionellen bzw. traditionellen Sicht der Metaphorik nähren. Es
ist auch möglich, hinsichtlich des unproblematischen Charakters der
Literalität mißtrauisch zu werden (siehe dazu bspw. Tolkiens Spiel
mit der Ambivalenz eines scheinbar harmlosen Ausdrucks wie Good
Morning in [8] und, allgemeiner, die Ausführungen in [7]).
Letztlich liegt es nahe, auf eine Generalisierung der
Analogiemechanismen abzuzielen. Hierzu kann bspw. vom Analogisieren
als einem Merkmal jeglicher menschlichen Kognition ausgegangen
werden [6,7]. Oder es könnte mit Blick auf Derrida die Katachrese
als ein quasi-transzendentaler Mechanismus, der erst literale und
nicht-literale Effekte zu zeitigen vermag, unterstellt werden
[4,5,9].
Es läßt sich derzeit nicht absehen, welche Folgen sich daraus im
Detail für die Konzeptualisierung des Modalmediums im Allgemeinen
und für die Metaphorik im Besonderen ergeben können. Aber man darf
wohl bereits jetzt konstatieren, daß eine entsprechend avancierte
Argumentation erheblich komplexer werden wird.
Abschließend sei in diesem Kontext noch erwähnt, daß der Rekurs auf
basales Analogisieren (inklusive entsprechender Inferenzweisen wie
der Abduktion [10]) auch das differentielle Errechnen von Formen
tiefer legen könnte. Denn sowohl die Bielefelder Systemtheorie als
auch Dirk Baeckers sozialer Formenkalkül begnügen sich hierbei
gerne mit Kompaktbegriffen wie (Leistungen der) Generalisierung
bzw. Abstraktion. Doch bereits die Bestimmung einzelner Buchstaben
wie A, A, A, etc. ist kein differentiell triviales, sondern ein
erklärungsbedürftiges Phänomen [siehe 7, 11]. Zumal auch angenommen
werden muß, daß höhere Wahrnehmungsprozesse bereits
semantisch-analogisch imprägniert sind. Ansonsten wären bspw.
Wolken-Assoziationen (das Sehen-Als-Ob von Schafen, Zuckerwatte,
etc. am Himmel) kaum möglich. Und solche Als-Ob-Mechanismen
verweisen wiederum auf das Funktionieren von Metaphern, die
Unvertrautes vertraut, aber auch (wie in der modernen Poesie)
Vertrautes unvertraut machen können.
Fazit
Uli Reiters Studie zur Pathologie als Modalmedium brilliert vor
allem durch die gestellten Fragen, die sie experimentell
durchspielt. Während die Antworten, insbesondere mit Blick auf die
metaphorischen Mechanismen, nicht in jedem Fall zu überzeugen
wissen. Gleichwohl ist der Text höchst lesenswert. Denn seine
Fragen stimulieren, bislang als evident angesehene Sachverhalte
(soziale Dysfunktionen, Defekte, etc., die als pathologisch
charakterisiert werden) in ungewohnten Suchrichtungen neu zu
interpretieren.
Oder um es prägnant mit der Abwandlung eines berühmten Politzitats
[12] zu sagen: It´s the questions, stupid!
Buchausgaben
Das Buch ist im März 2016 im Psychosozial-Verlag erschienen. Es ist
als gebundene Ausgabe oder als E-Book (PDF-Version) erhältlich.
Literaturhinweise
[1] Reiter, U. (2009), Lärmende Geschenke – Die drohenden
Versprechen der Korruption. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
URL der Buch-Homepage: http://www.laermende-geschenke.de/ [Zugriff:
8. Juli 2016].
[2] – (2016), Homepage von Uli Reiter.
URL: http://www.uli-reiter.de/ [Zugriff: 8. Juli 2016].
[3] – (2016), Google+-Profil von Uli Reiter.
URL: https://plus.google.com/+Uli-reiterDe [Zugriff: 8. Juli
2016].
[4] Theodorou, S. (o.J.), Metaphor and Phenomenology, in: Internet
Encyclopedia of Philosophy (IEP).
URL: http://www.iep.utm.edu/met-phen/ [Zugriff: 11. Juli 2016].
[5] Derrida, J. (1974), White Mythology, in: New Literary History
(1974), Bd. 6, Nr. 1, S. 5-74.
URL: http://users.clas.ufl.edu/burt/derridawhitemyth.pdf [Zugriff:
12. Juli 2016].
[6] Hofstadter, D.R. (1988, 1981), Analogien und Rollen im Denken
von Mensch und Maschine, in: ders. (1988), Metamagicum. Fragen nach
der Essenz von Geist und Struktur, Stuttgart: Klett-Cotta, S.
589-653.
[7] – / Sander, E. (2013), Surfaces and Essences. Analogy as the
Fuel and Fire of Thinking, New York: Basic Books.
[8] Bilbo Meets Gandalf (aus dem 2012 veröffentlichten Film “The
Hobbit: An Unexpected Journey”).
URL: https://www.youtube.com/watch?v=Q_cwRqXBR4Q [Zugriff: 12. Juli
2016].
[9] Posselt, G. (2005), Katachrese. Rhetorik des Performativen,
München: Fink.
URL (Google Books): http://bit.ly/29Fj8Ri [Zugriff:
12. Juli 2016].
[10] Wikipedia (2016 a), Abduktion.
URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Abduktion [Zugriff: 13. Juli
2016].
[11] Bormann, P. (2016), Features of Complexity – The Scalability
Problem.
URL: http://bit.ly/1qdhSs3 [Zugriff: 13. Juli 2016].
[12] Wikipedia (2016 b), It’s the economy, stupid.
URL: https://en.wikipedia.org/wiki/It%27s_the_economy,_stupid
[Zugriff: 13. Juli 2016].
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