Rezension zu Geschlecht als Gabe und Aufgabe
Das Argument 317, 3/2016
Rezension von Ester Mehrtens
Die Leidensberichte von Intersexen zeigen, dass die
mehrheitsgesellschaftlichen Vorstellungen über Geschlechtlichkeit
»korrekturbedürftig« (9) sind. Auch die Kirche hat, so der Autor,
das Thema Intersex bisher ignoriert (10). Anliegen des Buches ist
es, diese Leerstellen zu füllen, als »Versuch, ein nicht-genuin
theologisches Phänomen theologisch zur Sprache zu bringen« (12).
Verf. begründet die Schwerpunktsetzung auf Intersex innerhalb des
Gesamtphänomens (queerer) Nicht-Eindeutigkeit jedoch nicht
eigens.
In Deutschland seien Intersexe über lange Zeit pathologisiert und
einem frühen heterosexistischen Behandlungsparadigma der
geschlechtlichen Vereindeutigung unterworfen worden, das auf den
vermeintlich objektiven Kriterien des herrschenden
biologisch-medizinischen Verständnisses dualer Geschlechtlichkeit
beruht. Die Diagnose ›Intersex‹ bezeichne aber sehr heterogene
Phänomene, die allesamt nicht durch einen zweigeschlechtlichen
Interpretationsrahmen zu erfassen seien. Verf. wendet sich in
Anlehnung an Heinz-Jürgen Voß gegen gängige Klassifikationspraxen
der Medizin und betont, dass die Kriterien für die Festlegung der
Geschlechtszugehörigkeit sozio-historisch bedingt und damit
veränderbar seien. Auch die aktuelle molekularbiologische
Geschlechterforschung kenne eine Vielfalt (und keinen eindeutigen
Dualismus) an biologischen Geschlechtern.
Aus einer (de)konstruktivistischen Sicht versteht Verf. die
Zuschreibung Intersexualität als »Ausschluss aus der
Intelligibilitäts-Matrix« (22), die das gesellschaftlich Les- und
Lebbare vorstrukturiert. Mit Judith Butler begreift er
Geschlechtlichkeit als diskursiven Effekt mit eigener Materialität.
Jede Bezugnahme auf Geschlecht setze sprachliche Konzepte voraus,
die wiederum historisch und diskursiv geformt seien. Beschreibungen
der (ver)geschlechtlichten Wirklichkeit müssen demnach immer
unvollständig bleiben, da sie nur vor dem Hintergrund menschlicher
Definitionsarbeit für eine bestimmte Zeit Geltung erlangen. Gerade
die nicht endgültige Fixierbarkeit der Materialität von Geschlecht
gilt Krannich als Beleg der Vielfalt, die auch Widerstandspotenzial
berge (30).
Wie diese »in anderer wissenschaftlicher Perspektive feststellbare
und nicht aufzulösende Geschlechter-Vieldeutigkeit zu
interpretieren ist« (33), sollte die Leitfrage des theologischen
Beitrags sein, der eine selbstkritische Stellung zu den
anthropologischen Grundannahmen der Theologie enthalten müsse
(31-65). Um Intersex als eines von mehreren möglichen Geschlechtern
theologisch anerkennen zu können, wählt Verf. den
phänomenologischen Leibbegriff zum Ausgangspunkt. Unter Leib
versteht er die Selbsterfahrung der eigenen Körperlichkeit, die
zugleich eine Differenzerfahrung (»Ich habe einen Körper und bin
doch mein Leib«, 37) der eigenen Andersartigkeit einschließt. Der
Leib kann niemals vollständig erfasst werden, da er sich in der
individuellen Erfahrung durch Nicht-Eindeutigkeit auszeichnet. Die
Differenzerfahrung der eigenen Leiblichkeit begründet den Umgang
und das Verständnis für die Andersheit eines konkreten
Mitgeschöpfs. Den pathologisierenden Umgang mit Intersexen
charakterisiert Verf. als fehlgeleitetes Leibverhältnis zu sich
selbst (34) und setzt dem eine Leibrelation der affirmativen
Anerkennung des eigenen Anders-Seins und des Anders-Seins der
Mitgeschöpfe entgegen (38f). Er wendet sich kritisch gegen die
Interpretation der biblischen Schöpfungserzählungen als urzeitliche
Begründungen einer normativen Geschlechtertheorie. Vielmehr zeigen
diese, dass der Mensch als Beziehungswesen (52) geschaffen worden
sei. Ebenso wie die geschlechtliche Materialität und der Leib könne
die Schöpfung niemals letztgültig vom Menschen erschlossen werden.
Sowohl deren Interpretationen als auch Kategorisierungen der
polymorphen Geschlechtlichkeit seien daher als menschliche Versuche
zu verstehen, Intelligibilität herzustellen. Insofern seien die
damit verknüpften Wahrheitsansprüche und Ausschlüsse
geschlechtlich nicht-eindeutiger Personen fragwürdig:
»Geschlechterkategorien als aller Verhandelbarkeit entzogene
anthropologische Transzendentalien zu verstehen, hieße, sie mit der
Schöpfungsordnung zu identiizieren « (49). Eine solche
Gleichsetzung von menschlicher Welterkenntnis und göttlicher
Schöpfungsordnung wäre theologisch als Ausdruck von »Sünde« (59f)
zu verstehen und leugne die Nichteindeutigkeit der eignen
Leiblichkeit. Der Autor plädiert deswegen dafür,
(Geschlechts-)Klassifikationen daran zu messen, ob sie dem guten
Leben dienen.
Auch wenn der interdisziplinäre Forschungsstand zu Intersex nicht
berücksichtigt wird, ist Krannichs Ansatz, kritisch-biologische,
poststrukturalistische und bestehende theologische Positionen
konstruktiv in einer eigenen Perspektive auf das Phänomen Intersex
zu verbinden, zu begrüßen. Die Rolle der Kirche(n) in Hinblick auf
die Diskursivierung von Geschlecht und Sexualität wird allerdings
nur unzureichend berücksichtigt. Die Frage, wie das gute Leben,
das richtige Leibverhältnis und die Schöpfungsordnung praktisch
miteinander verknüpft werden können, bleibt weiter zu
erörtern.