Rezension zu Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität
Siegessäule Dezember 2016
Rezension von Roberto Manteufel
Geschafft! Wir Homos sind endlich in der Mitte der Gesellschaft
angekommen! Nur wer ist eigentlich dieses ominöse Wir, fragt
Roberto Manteufel
Seitenblick
Im November bin ich zum ersten Mal in meinem Leben zur »Snax« ins
Berghain gegangen. Anfangs war es ein bisschen überfordernd, sich
urplötzlich inmitten von ein paar Tausend Kerlen zu befinden, die
sich hemmungslos der Massenkopulation hingaben. Doch allein dieser
Anblick war den Besuch wert. Und dann noch die Musik –sensationell!
Das Tanzen gestaltete sich höchstens ein bisschen schwierig, da man
ständig Gefahr lief, sich aus Versehen wahlweise in einem Schwanz
oder einem anderen Körperteil zu verhaken. Nur was hat die
Schilderung einer megagroßen Abspritzorgie ausgerechnet hier zu
suchen? Wenn ich den Titel des kleinen Sachbuches verrate, das ich
zu dieser Zeit las, könnte das klar werden: »Schwule Sichtbarkeit –
Schwule Identität. Kritische Perspektiven« (Psychosozial-Verlag)
von Zülfukar Cetin und Heinz-Jürgen Voss. Und die »Snax« kann man
als Substrat schwuler Sichtbarkeit und Identität bezeichnen.
Zugespitzt ist sie eine Ausdrucksform von Folgendem: Wir haben es
geschafft! Uns geht es verdammt gut! Nicht nur haben wir unsere
eigenen Partys und können dort ungestört vögeln. Nein, wir haben
auch die Jobs, die uns den Eintritt, die Drinks, den Besuch im
Fitnessstudio, die Adidas-Sporthosen und die schicken Sneaker
finanzieren, die nötig sind, um munter mitzumischen. Und der
Gesetzgeber, der geht auch endlich auf Kuschelkurs mit uns. Dafür
haben wir schließlich hart gekämpft. Die Frage ist dann nur, wer
ist dieses Wir? Genau dem spüren Cetin und Voss nach. In ihrem Buch
gehen sie ans Eingemachte. Sie skizzieren, wie das
Wort»„homo-sexuell« allein schon durch seine historischen Ursprünge
rassistisch gefärbt wurde. »Echte Homosexualität« fände sich zum
Beispiel nur bei reichen weißen Nordeuropäern, konstatierte
Hirschfeld. Ursprünge, die bis heute ihre Wellen schlagen. Denn –
um mal so richtig die Ironiekeule zu schwingen – wir als weiße,
aufgeklärte Schwule wissen schon, wie es geht. Also in Sachen
Toleranz und Miteinander und überhaupt. Dagegen sehen zum Beispiel
die Muslime so richtig alt aus. Allein ihr Umgang mit Frauen und
erst recht mit uns Homosexuellen. Kein Wunder, dass ihre Söhne
Homophobie mit der Muttermilch aufsaugen und gefährlich sind –
ehrlich, das wird man ja wohl mal sagen dürfen! Wie Cetin und Voss
derartige Argumentationsstränge unter die Lupe nehmen und als
Homonationalismus entlarven, ist schlichtweg toll. Sie stehen
nämlich beispielhaft für die Arroganz des Westens gegenüber anderen
Kulturkreisen, deren Folgen ich im Übrigen so zusammenfassen würde:
Wo wir Demokratie hinbringen, da brennt die Erde. Anders
ausgedrückt, unsere Annahme von kultureller Überlegenheit ist
brandgefährlich und bricht sich keineswegs nur auf internationaler
Ebene Bahn. Es ist ja eine fast selbstverständliche Auffassung,
dass der wohlhabende weiße Schwule, der in Schöneberg lebt, eben
zivilisierter ist als der in Neukölln lebende Sohn einer türkischen
Familie. Klingt doch einleuchtend. Nur stimmt das wirklich?
Erschreckend klar analysieren Cetin und Voss, wie hinter solchen
Gedankengängen ein neues Wir-Verständnis steht, das auch
hervorragend als politisches Kampfinstrument dient. Denn Wir, das
sind inzwischen auch wir Homos. Wir sind die treuen Demokraten, die
gebildet sind und euch den Wohlstand bringen, wenn ihr es nur
richtig macht. Vertraut uns bitte, denn was wahre Freiheit ist, das
wissen einzig wir. Denn Wir, das sind diejenigen, die in Schwarz
und Weiß denken, in Okzident und Orient, in fortschrittlich und
rückständig. Ganz ehrlich, Nachtigall, ick hör dir trapsen. Das
riecht nach großem Ärger.
www.siegessaeule.de