Rezension zu Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität
Aus Liebe zur Freiheit. Notizen zur Arbeit der sexuellen Differenz
Rezension von Antje Schrupp
Homosexualität verlernen? Gute Idee.
Mit sehr großem Interesse habe ich dieses Buch gelesen, in dem es
um die Frage geht, wie sich der westliche Diskurs über
Homosexualität mit Nationalismus und rassistischen Zuschreibungen
an »Migrant_innen« verbindet.
Mich hat das inzwischen Mainstream gewordene Verständnis, wonach
Homosexualität eine gleichgeschlechtliche Kopie der bürgerlichen
heterosexuellen Paarkonstruktion ist, noch nie wirklich überzeugt.
Erstens weil ich glaube, dass aufgrund der unterschiedlichen
Zugänge von schwulen, heterosexuellen und lesbischen Paaren zum
Schwangerwerdenkönnen die Vergleichbarkeit an einem ganz zentralen
Punkt aus rein körperlichen Gründen nicht gegeben ist, und
zweitens, weil mir diese Parallelisierung auch aus politischen
Gründen gar nicht wünschenswert erscheint, jedenfalls nicht für
Frauen. Ich finde die in der Zweiten Frauenbewegung vertretene
Sicht, wonach Lesbischsein in erster Linie eine persönliche und
politische Lebensweise ist und keine Identität, fruchtbarer.
Umso interessanter nun hier zu lesen, dass man auch aus ganz
anderen Ecken her zu ähnlichen Einschätzungen kommen kann.
Heinz-Jürgen Voß beschreibt im ersten Teil des Buches, wie ein
identitäres Homosexualitätskonzept im 19. und frühen 20.
Jahrhundert von westlichen schwulen Männern entwickelt wurde, auch
um sich – die »echten« Homosexuellen – von den Männern in südlichen
europäischen Ländern oder in kolonialisierten Ländern hierarchisch
abzugrenzen, die lediglich auf irgend eine Weise Sex mit Männern
haben, aber eben nach westlichen Maßstäben nicht wirklich
homosexuell sind. Angesichts der gegenwärtigen Diskurse, in denen
speziell türkischen jungen Männern eine besonders ausgeprägte
Homophobie zugeschrieben wird, ist es aufschlussreich, dass am
Anfang des 20. Jahrhunderts die Türkei ein Eldorado für westliche
Schwule war, weil man sich dort nicht verstecken musste. Amüsant
auch zu lesen, wie dann mit Hilfe westlicher
Wissenschaftskonstrukte das ominöse homosexuelle Wesen, das
bestimmte Menschen eben haben und andere nicht, versucht wurde, in
körperlichen Markern zu vereindeutigen; in den Keimdrüsen oder in
den Genen, je nachdem, was in der Biologie gerade Mode war.
Die enge Verbindung dieser westlichen Erfindung der Homosexualität
mit rassistischen und nationalistischen Ideologien war mir neu. Sie
ist in dem vorliegenden Buch vielleicht auch etwas zu stark
gezeichnet, man müsste, sagt die politische Ideengeschichtlerin in
mir, die entsprechenden Diskurse noch einmal in einem größeren
Rahmen kontextualisieren, um sie entsprechend bewerten zu können.
Aber unbedingt muss heutiger schwuler Aktivismus diese
Schattenseiten der eigenen Geschichte reflektieren und tut er
tatsächlich viel zu wenig.
Voß schlägt zudem generell vor, wir sollten Homosexualität wieder
verlernen, und ich finde, das ist eine gute Idee. Denn durch die
Konstruktion fester Identitäten und Schubladen (Hetero, Homo, Bi)
bringen wir zum Beispiel Jugendliche in die Situation, dass sie
sich irgendwo zuordnen müssen. Und diejenigen, die sexuelles
Begehren zu Menschen ihres eigenen Geschlechts verspüren, werden
gezwungen, sich als »Andere« zu outen – zwar als inzwischen nicht
mehr so doll wie früher diskriminierte Andere, aber eben doch.
Völlig unnötiger Quark ist das.
Ebenfalls interessant fand ich die Überlegungen zur Sichtbarkeit
und Unsichtbarkeit. Die westliche Manie, alles »aufzudecken« und
»ans Licht zu bringen« ist schon vielfach analysiert und kritisiert
worden, und sie ist auch in Bezug auf gesellschaftliche
Minderheiten wichtig. Denn »Sichtbarkeit« ist eben nicht unbedingt
ein Wert an sich, und manchmal ist sie auch eine Last, wie man an
der derzeitigen Übersichtbarkeit muslimischer Menschen in
Deutschland sieht.
Im zweiten Teil beschreibt Zülfukar Çetin, wie sich diese Diskurse
heute in Berlin darstellen, wie sich antimuslimischer Rassismus und
schwuler Lobbyismus miteinander verbinden, wie das Ganze
Gentrifizierungsprozesse anstößt und emanzipatorische queere
Bewegungen in den muslimischen oder migrantischen Communities
unsichtbar macht oder behindert. Hier hätte ich mir manchmal eine
stärkere Anknüpfung an die ideengeschichtlichen Grundlagen des
ersten Teils gewünscht, da sich hier manches eher als Predigt zu
den bereits Bekehrten liest, während die Vermittlung der Analyse
etwas zu kurz kommt. Wer die Grundthese nicht ohnehin schon teilt,
wird sich hiervon kaum überzeugen lassen.
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