Rezension zu Jacques Lacan trifft Alfred Lorenzer (PDF-E-Book)
psychosozial 39. Jg. (2016) Heft III (Nr. 145)
Rezension von Julian Möhring
Zur Frage: Wie ist eine strukturale Hermeneutik möglich? Jacques
Lacan trifft Alfred Lorenzer
Alfred Lorenzer (1922–2002) selbst äußerte sich verschiedentlich
über Jacques Lacan (1901–1981) und war dabei trotz großer
thematischer Nähe stets auf Abgrenzung bedacht. Lacan wiederum hat
Lorenzer wahrscheinlich nicht wahrgenommen. Fast 30 Jahre nach
Lorenzers letzter Auseinandersetzung mit dem »›Philosoph‹ des
Mangels« (Lang 1986, S. 202) in seinen 2002 veröffentlichten
Vorlesungen aus Costa-Rica aus dem Jahr 1986, wird mit diesem Band
nachträglich eine Gegenüberstellung unternommen. Getreu dem Motto
der Tagung am Psychoanalytischen Seminar Zürich Noch einmal/encore
(Köchel, 2015) treffen die Vortragenden in ihren Beiträgen erneut
aufeinander. Letztlich verzichten die wenigsten von ihnen auf die
Gelegenheit, den von Lorenzer selbst begonnenen Schlagabtausch mit
Jacques Lacan fortzuführen.
Emilio Modena, Mitherausgeber, Züricher Psychoanalytiker und
Mitbegründer des dortigen Psychoanalytischen Seminars, mahnt
anstatt einer Einleitung in seiner Zugabe, angelehnt an Lacans
encore und benachbarte Signifikanten: »Statt Hornochserei
›encorner‹ brauchen wir Seilschaften ›encorder‹.« Gemeint ist eine
Verständigung und die Überwindung von Schulgrenzen in Hinblick
auf Lorenzers Tiefenhermeneutik und Lacans strukturalistische
Psychoanalyse, aber auch andere einflussreiche Schulen, um zu einem
umfassenden Verständnis des Unbewussten »in seiner konkreten
Dialektik mit den gesellschaftlichen Verhältnissen« zu gelangen.
Wie ein solcher Prozess aussehen könnte, ergibt sich aus den
vorliegenden Beiträgen jedoch nicht direkt – eher werden
Konfliktlinien und Zusammenhänge benannt.
In der ersten, theoretischen Sektion des Bandes trifft Lacans
Diskurstheorie, in einer übersichtlichen Darstellung von Peter
Widmer, Psychoanalytiker und Herausgeber der Zeitschrift RISS, auf
die Rekonstruktion der Psychoanalyse bei Alfred Lorenzer durch
Hans-Dieter König, Professor, Psychoanalytiker und Dozent für
Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main.
In »Sprachspiel als Diskurs. Lacans Algebra der Psychoanalyse«
stellt Peter Widmer den Zusammenhang zwischen Algebra und Sprache
her als vier formale Elemente, deren Konstellation und
Verweisungszusammenhang den Diskurs typisieren. Bei der Einführung
dieser Elemente (Agent, anderer, Wahrheit und Produktion; S1, S2,
a, $) wird auch die Rolle des Diskurses selbst für die Lacan’sche
Theorie erörtert. So wird der Leser Schritt für Schritt an zwei
der vier verschiedenen klassischen Diskurstypen und ihre
gleichbleibenden Elemente, aus denen sie in unterschiedlicher
Anordnung zusammengesetzt sind, herangeführt. Zudem wird der
Diskurs des Kapitalisten als Lacans Auseinandersetzung mit den
gesellschaftlichen Verhältnissen aus einer psychoanalytischen
Perspektive beleuchtet. Dieser benenne »das kollektive Phantasma
des Mehr-Genießen«, welches Phänomene von Grenzenlosigkeit und
Verschwendung charakterisiere.
Lacan verbinde Psychoanalyse und Gesellschaft lediglich
vorsichtiger, nicht aber nachlässiger als die Ansätze des
Freudomarxismus. So ließen sich mit den Elementen des Diskurses des
Herren in ihrer Zusammensetzung und der Richtung ihres
Verweisungszusammenhangs Beziehungen zwischen einem strafenden
Tyrannen und der schweigenden Opposition klarer fassen. Diese
Vorsicht bildet sich in der Konzeption einer Vorgängigkeit der
sprachermöglichenden Diskurskomponenten ab. Aus dem
Beziehungsgeflecht, das unterschiedliche Positionen miteinander
verbindet, lässt sich demnach eine Struktur ableiten, die den
Hintergrund für jede Hermeneutik bereitet und ihre Anwendung erst
ermöglicht – ein Hinweis auf den Platz des Diskurses in der
Theoriearchitektur Lacans an der Stelle des Sprachspiels in
Lorenzers Neuinterpretation der Psychoanalyse. Gerade diese
Akzentverschiebung ist interessant, wird fortlaufend in den anderen
Beiträgen des Bandes diskutiert und kommt vielleicht in Widmers
Beitrag am klarsten heraus. Sie markiert schwerwiegende
Unterschiede im Gesellschaftsbegriff beider psychoanalytischer
Theorien, obwohl sie einen Fokus auf Sprache und Symbol teilen.
Die bereits hier klar hervortretende Bruchstelle zu Lorenzer liegt
im so oft als einengend missverstandenen strukturalen
Determinismus, der seine Erklärungskraft aus der Benennung von
Unterschieden und Relationen gewinnt, gegenüber der völlig anders
gearteten autonomiefördernden Offenheit einer an den Begriffen des
Sprachspiels und der Lebenswelt festhaltenden rekonstruktiven
Analyse gesellschaftlicher Praxis.
Neben der bekannteren These vom Primat des Signifikanten wird bei
Widmer deutlich, wie sehr die Stimme als psychoanalytisches Objekt
in sprachliche Zusammenhänge einfließe, diese forme und so das
Unbewusste als über den inhaltlichen Gehalt hinausgehenden
Bestandteil von Sprache kennzeichne. Trotz des oftmals als
hermetisch und schwer zugänglich gebrandmarkten Theoriekonvolutes
Jacques Lacans gelingt es Widmers Beitrag, dank der Klarheit in
seiner Darstellung so wie anhand popkultureller Beispiele und
bekannter philosophischer Denkfiguren eine Orientierung zu
ermöglichen.
Mit dem »Affekt des Publikums« eine Orgie des Verstehens zu
veranstalten, der Hans- Dieter König im Anschluss an seinen
Vortrag entgegenschlug, setzt dieser sich im zweiten Teil seines
Beitrags »Alfred Lorenzers Rekonstruktion der Psychoanalyse.
Zugleich eine tiefenhermeneutische Reinterpretation von Lacans
Spiegelstadium« auseinander.
Die Rekonstruktion von Lorenzers Ansatz ist zweistufig angelegt.
Grundlegend werden dessen Wissenschaftsverständnis und zentrale
Konzepte wie die Fruchtbarmachung der modernen Symboltheorie für
die Psychoanalyse und die Arten des Verstehens auf inhaltlich
logischem, nacherlebend psychologischem und nicht-sprachlichem
szenischem Niveau in ihrem Zusammenhang eingeführt.
Erst unter Berücksichtigung von Lorenzers Konzept einer
materialistischen Sozialisationstheorie aber wird die Tragweite
seines Ansatzes deutlich. Zunächst bilde sich eine
unbewusst-sensomotorische Intelligenz in der Mutter-Kind-Dyade
heran. Im Alter von einem bis anderthalb Jahren führten
vorbewusste Symbolisierungsleistungen als erste autonome
Ich-Organisation zur Basisstruktur der Subjektivität sowie der
Einführung einer Mittelbarkeit in der Verarbeitungsweise von
Affekten. Durch das Hinzutreten von Versprachlichung komme eine
zweite, sich bewusst aus Praxisfigur, Sprachsymbol und
Interaktionsform zusammensetzende Struktur hinzu. Möglichkeiten
der Affektkommunikation werden eröffnet, aber mittels
»sprachlicher Disziplinierung« werde das unmittelbare Ausleben der
Triebregungen auch eingeschränkt.
Das symbolische Denken als sinnlich-bildhaftes wird also zunehmend
von begrifflichem Denken durchsetzt, indem die erste Leistung der
Triebbestimmung durch die Verinnerlichung der Mutter als Symbol
zusehends als Privatsprache in Interaktion mit der
Verallgemeinerung eines gesellschaftlich normierten Zeichensystems
tritt. Als Pointe bilden die Schichten der sozialisatorischen
Entwicklung in umgekehrter Reihenfolge den Verstehensprozess in der
analytischen Situation nach.
Dieser Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sozialisation wird
dann anhand des Spiegelstadiums nach Lacan diskutiert. Dieser
beschreibe den Narzissmus des sich selbst im Spiegel erkennenden
Säuglings als eine Verkennung, die den Hiatus zwischen dem
erkennenden je und dem idealisierten moi als ontologische Struktur
ins Subjekt einschreibe. Hinzugezogen werden das Video eines 14
Monate alten Kindes, das mit dem Spiegel interagiert und diesen
Moment mit der filmenden Mutter teilt, sowie der Kommentar zu
Lacans Spiegelstadium von Donald Winnicott und das Konzept der
toten Mutter von André Green. Nach König ontologisiere Lacan das
Leiden im Spiegelstadium, welches jedoch nur bei einer
fehlgeleiteten Interaktion zwischen Mutter und Kind auftrete. Er
verkenne zudem die sozialisatorischen Voraussetzungen dieser
Situation. Die Differenz von Spiegelbild (und seinem symbolischen
Ausdruck) zu dem sich betrachtenden Individuum wird unter Verweis
auf die Bedeutung der Mutter als inneres Objekt des sich selbst
betrachtenden Kindes in Königs Kritik jedoch allzu sehr
entproblematisiert.
Die zweite Sektion verweist wohl am stärksten auf Gemeinsamkeiten
zwischen den Theorien Lacans und Lorenzers. Goethes »Sprach- Roman«
Die Wahlverwandtschaften trifft auf eine psychoanalytische
Interpretation mit Lacan’schem Schwerpunkt bei Marianne Schuller,
emeritierte Professorin für Literaturwissenschaft in Marburg und
Hamburg, und eine an Lorenzer orientierte tiefenhermeneutische
Herangehensweise bei Ulrike Prokop, Professorin für
Erziehungswissenschaft in Marburg. Erstere widmet sich in »Goethes
Wahlverwandtschaften – ein Sprach-Roman. Zu Goethes ›bestem Buch‹«
vor allem der Rolle der Buchstabenfolge im Geburtsnamen des
Protagonisten, Otto, der seit seiner Kindheit seinen Zweitnamen,
Eduard, vorzieht. Die damit verbundene Größenfantasie, die
Spaltung sowie die Verleugnung der Subjektivierung als Unterwerfung
bei Otto, das Ausklammern des Todes bei Ottilie als ein
unerträglicher Determinismus, führten zu einer wunschlosen Welt,
einem »ausgeschöpften Cogito«, in dem es keinen Mangel, jedoch
auch kein Begehren gebe. Das Bauprinzip des Romans sei in den Namen
seiner Figuren versteckt und diese Struktur verdeutliche die
Problematik der Subjektivierung als Unterwerfung unter die
symbolische Struktur. Dazu gehört auch, dass Otto ein Palindrom
ist, sich in der Mitte spiegelt und somit eine Zwiegespaltenheit im
Aufbau wie der Handlung des Buches unterstreicht, die sich etwa im
Scheitern der Person Mittlers abbilde.
Übereinstimmend formuliert Ulrike Prokop in »Die
Wahlverwandtschaften – eine tiefen- hermeneutische Perspektive« die
Handlung des Buches als eine »Theorie des Begehrens«. Ihre Lesart
führt durch ein »Netz von irritierenden Szenen«, in der die letzte
Szene des Buches eine Sonderstellung einnimmt: Ottilie und Otto
sowie deren gemeinsames Kind sind tot, der Schauplatz ist eine
Kapelle, die erzählten Bilder wechseln ins Mythische, ja Sakrale,
während der Erzähler weiterhin nüchtern wie bei einem
Versuchsablauf und ebenso empathisch, den beschriebenen Personen
positiv gegenüberstehend, vom Geschehen berichtet. Nach Prokops
Lesart markiert diese Stelle die für den Roman generell prägende
Zweideutigkeit: »Alles ist zivilisiert – und doch nicht richtig.«
Das moderne Aggressionstabu stehe im Zusammenhang mit
unvorhersehbaren Unfällen und lasse die Versuchsanordnung immer
wieder scheitern. Der Wechsel von Beziehungen, Namen und Interessen
treffe auf eine symbolische Inzestproblematik und einen
intergenerationalen Rollenkonflikt.
Als strukturelles Element formt die unaufhebbare Konstellation der
vier Personen, die mehr umfasst als lediglich zwei Paare, den
Verlauf des Romans, auch aufgrund der Desexualisierung zur
Aufrechterhaltung des Begehrens. Paradoxerweise sind die
Wahlverwandtschaften nicht frei wählbar, und die Verleugnung des
Todes wie der Generativität im Sinne einer jugendlichen Idee von
Wiederholbarkeit und Austauschbarkeit, einer alle Beziehungen
aufrechterhaltenden Flucht in die Gegenwart, geht mit einer
merkwürdigen Wunschlosigkeit einher. Die Situation in der Kapelle
kann als Verstetigung der Vierer-Konstellation im Imaginären sowie
als Symbol des Opfers der Lebenden zur Erfüllung eines
»unmöglichen Wunsches« interpretiert werden und verweise außerdem
auf die Wildheit, die hinter diesem Bild liege.
In der dritten Sektion herrschen wieder kritische Töne vor, doch
es gibt auch versöhnliche Ansätze. Thierry Simonelli, Luxemburger
Psychoanalytiker und Lacan-Kenner, vergleicht die Funktion des
Fallmaterials vom »kleinen Hans« im Werk von Lacan, Lorenzer und
Freud. André Michels, Psychiater und Psychoanalytiker in
Luxemburg, zeigt neben Divergenzen auch Möglichkeiten der
Verbindung in den Theorien Lacans und Lorenzers auf. Abschließend
verwickelt Robert Heim, Professor, Psychoanalytiker und Dozent für
psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt am Main, die
beiden Namensgeber des Bandes in einen fiktiven Austausch von
»lettres« und interpretiert außerdem das Fallmaterial von Hans Graf
vor diesem Hintergrund mit einem anderen Aus- gang als im ersten
Beitrag dieser Sektion.
In »Szenen mit Pferd. Der kleine Hans und seine Schicksale« wartet
Simonelli mit einem Vergleich dreier einschlägiger
Interpretationen dieses klassischen Materials auf. Freud
konzentriere sich auf die Kastrationsangst. Seine Psychoanalyse
müsse aber im Kontext einer komplexen Beziehungskonstellation
gedeutet werden, deren Teil auch er selbst bildete. So war Olga
Hönig bei Freud in der Analyse, bevor sie Max Graf heiratete,
welcher sich später mit ihrem Analytiker anfreundete. Die Enge
dieser Konstellation sowie die Tatsache, dass Freud Max Grafs
Briefe zur Grundlage seiner Darstellung des Falles vom kleinen Hans
nahm, lassen dessen an der infantilen Sexualität orientierte
Interpretation einseitig erscheinen, ohne dass sie uninteressant
oder wertlos würde.
Im Falle Lacans bildet dessen Seminar über die Objektbeziehungen
den Kontext der Interpretation des Fallmaterials. Lacan lege Freud
eine Betonung des Mangels an Beziehung in den Mund, wie dieser sie
gar nicht unternehme. Der Ödipuskomplex sei strukturell festgelegt
auf den Phallus als Signifikant eines Objekts des Begehrens. Die
Angst vor dem Eintritt in die symbolische Ordnung sei bei Lacan die
Grundlage von Hans’ Phobie, weil dieser nicht den Mangel des
imaginären Objektes erkennen könne. Ziel sei die Unterwerfung des
Subjekts unter die Struktur des Begehrens, die in Hans’ Fall nicht
gelinge, weil der Vater zu schwach sei.
Lorenzer hingegen verbinde keine allgemeine Theorie der Sexualität
oder des Subjekts mit der Fallgeschichte, sondern nutze diese im
Verbund mit anderen Fällen zur Illustration der Position des
Psychoanalytikers in der analytischen Situation. Neben seiner
Erweiterung des Symbolbegriffs in der Psychoanalyse steht die
Interpretation des »Kleinen Hans« bei ihm für einen Weg, die
Grenzen des Verstehens durch psychoanalytische Technik auf die
Klischees des Unbewussten hin auszuweiten. Mit Klischees sind
nichtsprachliche, verdrängte Interaktionsmuster gemeint. Dieses
Konzept soll den Anspruch eines nichtsprachlichen Unbewussten mit
der hermeneutischen Herangehensweise versöhnen. Durch Verdichtung
unterschiedlicher Szenen komme im Falle des kleinen Hans die
Grundphobie vor Pferdebissen zustande. Die Praxis der Übertragung
fördere Klischees in der therapeutischen Situation zutage, die im
Prozess der Analyse zu einem Verständnis der Szene führten. Dabei
hilft eine Entschlüsselung von Momenten der Gegenübertrageung, an
dessen Ende für Lorenzer statt dem Klischee Pferd = Vater, die
symbolische Ordnung von Pferd = Pferd und Vater = Vater
wiederhergestellt wird.
In seinem Artikel »Wissen der Sprache – Wahrheit des Unbewussten.
Zu einer nicht stattgefundenen Begegnung zwischen Lacan und
Lorenzer« hebt André Michels zu einer Gegenüberstellung beider
Theoretiker anhand der Themen »der Übertragung, der
Intersubjektivität, des Materialismus, des Verstehens und
letztlich der Sprache« an. Dabei führt er zunächst jenen Kontext
auf, »der uns den Text erst zugänglich macht«. Denn die Differenz
zwischen Schrift und Sprache sei entscheidend, um Freuds
Materialismus des Buchstabens zu begreifen, an den sowohl Lacan als
auch Lorenzer, aus unterschiedlichen Denkrichtungen kommend,
anknüpften. Im Falle von Ersterem bildet das Paris der
Nachkriegszeit diesen Kontext, unter anderem durch Kojèves
Hegelvorlesungen sowie die Abgrenzung des psychoanalytischen von
anderen Diskursen. Lorenzer hingegen sei im Umfeld der Frankfurter
Schule und Jürgen Habermas’ zu verorten. Im Sinne Lacans
argumentiert Michels, Psychoanalyse als der Diskurs des Anderen sei
unvereinbar mit Konzepten der Intersubjektivität oder des
kommunikativen Handelns, da die Psychoanalyse die Differenz zu
bewahren habe, die über Gleichheit und Vereinheitlichung
hinausgehe, um »das für die Gesellschaft bestimmende Andere,
Fremde zu erkennen«. Es gehe um die Differenz in der Reproduktion,
»die den Sohn vom Vater, die Tochter von der Mutter
unterscheidet«.
In seiner Bezugnahme auf Lorenzers Lacankritik zeigen sich gleich
zwei persistierende Differenzen zwischen beiden Autoren. Zum einen
versteht Michels mit Lacan die Analyse als poiesis – was bei
Lorenzer weniger teleologisch als praktischer Prozess gedacht ist.
Dafür spricht zweitens Michels Abwandlung von Lacans Diktum: Nicht
nur das Unbewusste, sondern auch »die Gesellschaft ist wie eine
Sprache strukturiert«. Dieser Kurzschluss und Reduktionismus, nach
dem Gesellschaft auf eine »Deutungsinstanz des Rechts« reduziert
wird, ist selbst bei einem flüchtigen Blick auf die
sozialwissenschaftliche Forschung aus den unterschiedlichsten
Gründen nicht überzeugend. Beispielsweise hat diese Forschung die
Konstruktion von Recht und Gesetz und deren Limitation als Zugang
zum Verständnis des Forschungsgegenstands Gesellschaft von Beginn
an aufgezeigt (vgl. Durkheim, 1983 [1893]). Weshalb sich auf dieser
Grundlage festhalten lässt, dass die Psychoanalyse als
Sozialwissenschaft bei Lorenzer stringenter formuliert ist, der
auch die Sprache nur als einen Teil gesellschaftlicher
Verhältnisse, auch im Sinne von Produktionsverhältnissen,
versteht.
Die Produktionsverhältnisse allerdings, im Sinne der Reproduktion
von Trauminhalten, lassen sich nach Michels parallel bei beiden
Autoren verorten. Erst die »schwachen Stellen«, die in nicht
zusammenpassenden Teilen von Versionen einer wiederholten
Traumerzählung entstehen, ermöglichten es, auf unbewusste Gehalte
zu schließen. Die szenische Anordnung bei Lorenzer wird in der
Lacan’schen Lesart zum Produkt der Triebe. Gemeinsam ist, dass sich
bei beiden das Unbewusste dadurch auszeichnet, dass es sich nicht
versprachlichen lässt. Beide Theoretiker schränken mittels
linguistischer Konzepte Freuds Anleihen aus der Biologie ein.
Michels argumentiert, dass die Zensur sowie das zutage geförderte
Material wiederum sprachlich sein muss, da es sich ausdrücken
ließe. Seine Kritik an Lorenzer trifft vor allem dessen Begriffe
der Sprachzerstörung und Desymbolisierung. Nach Michels sei die
Verdrängung von Lorenzer nicht ausreichend erfasst worden und es
fehle ebenso an Überlegungen zur Wahrheit des Subjekts. Obgleich
Sprache und Unbewusstes von beiden Autoren nur im Bezug aufeinander
gedacht werden können, so ist doch der Inhalt dieser Bezugnahme
ein unterschiedlicher. Lorenzer betont die Rolle der Ideologie
innerhalb der Sprache als durch Machtstrukturen geprägt, woraus
sich ein anderes Konzept der Zensur ableiten lässt als bei Lacan,
der Zensur als politische Metapher begreift, in der Sprache und
Gesellschaft zusammenfallen.
Robert Heim knüpft in »Encore: Jacques Lacan trifft Alfred
Lorenzer. Nachforschungen zu einer ›verlorenen Zeit‹« an seine
Arbeiten zu beiden Autoren seit den 1980er Jahren an. Dabei legt er
Wert darauf, dass trotz der Übertragungsliebe gegenüber
charismatischen Persönlichkeiten wie diesen Schwergewichten
psychoanalytischer Theorie eine Distanzierung notwendig bleibt. Die
originelle Darstellung holt in fiktiven Antwortschreiben Lacans zu
einer Kontraposition gegenüber der von Lorenzer formulierten
Kritik aus. Diese trifft etwa das Konzept eines Originalvorfalls
oder der Rekonstruktion. Die Berücksichtigung der Gesellschaft
lasse sich auch in Lacans Theorie mithilfe des Begriffs vom
Anderen/anderen hervorheben. Die Mutter-Kind-Dyade ist vor dem
Hintergrund einer strukturalistischen Sicht auf die Gesellschaft
als theoretisches Konzept nicht mehr haltbar. Zudem ließen sich
anhand von Lacans Auseinandersetzung mit der Dialektik der
Aufklärung, in seiner Macht- und Diskurstheorie und dem Konzept
der Materialität des Signifikanten, der Symbol und
Interaktionsform umfasse, ein differenziertes Gesellschaftskonzept
in die Waagschale legen. Diese Inhalte tauchten bei Lorenzer
aufgrund dessen ungenügender Lesart nicht auf. Heims Kritik aus
einer Lacan’schen Warte läuft auf den Vorwurf eines »Rousseauismus
der inneren Natur« bei Lorenzer heraus, der das Reale, die
symbolische Kastration, die Spaltung und die Dimension des
Tragischen und des Todestriebs verfehle. Womöglich unterschätzt
diese vor dem Hintergrund von Lacans Theorie gewonnene Kritik mit
ihrem Hinweis auf Differenz aber die Produktivität eines
Harmoniestrebens, die faktische Kraft des Normativen.
Im zweiten Teil seines Artikels nimmt Heim die Interpretation des
kleinen Hans durch Lacan und Lorenzer unter den zuvor in seiner
Kritik aufgeführten Gesichtspunkten wieder auf. Er geht der Frage
nach, welche Auswirkung von der analytischen Kur auf Hans Grafs
Biografie ausgegangen sei. Bei Lorenzer werde der Fall mit einer
Resymbolisierung in der Identitätslogik Vater = Vater
abgeschlossen, während Lacan dort erst einsetze, und zwar mit
seiner Erweiterung der klassischen ödipalen Theorie durch die
Einführung des mütterlichen Begehrens und der Zentrierung der
Position des Vaters als »Regulation der Tauschökonomie zwischen
kindlichem Angebot und mütterlicher Nachfrage«. Im Gegensatz zu
Lorenzer verbinden sich so mehr Personen mit dem Pferd als bloß der
Vater, was darauf verweise, dass das Thema der Transgenerativität
bei Lorenzer nur ungenügend berücksichtigt werde.
Der Beitrag endet mit der Aufforderung, sich nicht dem Charisma und
der Übertragungsliebe schöner Theorien zu ergeben, sondern über
die Dankbarkeit an vorangegangene Generationen hinauszukommen, und
betont Möglichkeiten der Erneuerung in Zeiten der Krise.
Der vorliegende Band tritt den Rezeptionsschwierigkeiten von Alfred
Lorenzer im französischen respektive Jacques Lacan im deutschen
Sprachraum entgegen, indem er eine direkte Gegenüberstellung
wichtiger Autoren unternimmt, die dem einen oder anderen
näherstehen. Glücklicherweise reproduzieren sich nicht allein die
Rezeptionsschwierigkeiten. Stattdessen zeigt sich, wie viel Arbeit
es erfordert, sich an den jeweils anderen Positionen abzuarbeiten,
die in ihrer jeweiligen Theoriesprache, dem nationalen Kontext und
Habitus auseinandergehen. Die ausführlich fortgesetzte Diskussion
über Schnittstellen und Divergenzen in den Werken von Jacques
Lacan respektive Alfred Lorenzer führt zu keiner einheitlichen
Lesart. Ein Schwerpunkt liegt auf den vielen spannenden
Einschätzungen eines psychoanalytisch informierten
Gesellschaftsbegriffes, der aus diesem Dialog erst noch gewonnen
werden müsste. Eine dankbare Aufgabe wäre somit, aus diesem
Gespräch heraus den Mut zu fassen, eine neue Perspektive auf die
bestehende strukturale, besser bekannt als objektive Hermeneutik zu
wagen und damit auch in den methodisch operationalisierten,
praktischen Anwendungsbereich psychoanalytisch informierter
Sozialforschung vorzudringen.
Was bereits dieser Band transportiert, ist die Würze eines
ungewöhnlichen Austausches und die kritische Diskussion möglicher
Verdichtungen wie Verwerfungen in der Zusammenschau zweier
disparater Werke im wörtlichen Sinne: dem Nebeneinander von
Ungleichem.
Julian Möhring
Literatur
Durkheim, E. (1983 [1893]). De la division du travail social:
étude sur l’organisation des sociétés supérieures. Paris:
Presses Universitaires de France.
Köchel, S. (2015). Jacques Lacan trifft Alfred Lorenzer.
Tagungsbericht. Psyche, 69(1), 71–74.
Lang, H. (1986). Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans
Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt a.M: Suhrkamp.
Lorenzer, A. (2002). Die Sprache, der Sinn und das Unbewusste.
Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften.
Stuttgart: Klett-Cotta.
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