Rezension zu Freuds Wien
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Rezension von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Autor
Christfried Tögel (ausf. www.freud-biographik.de/cv.htm und
www.freud-biographik.de/publikationen/) wurde1953 in Leipzig
geboren. Noch vor der »Wende« wurde der promovierte Klinische
Psychologe 1988 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit
»Philosophische, historische und wissenschaftstheoretische Aspekte
der Entstehung, Entwicklung und Rezeption der klassischen
Psychoanalyse« habilitiert. Seither ist er mit zahlreichen Arbeiten
zur Geschichte Sigmund Freuds und der Psychoanalyse in Erscheinung
getreten. Einem weitaus größeren Kreis als bislang wird er künftig
bekannt sein: Er ist der Herausgeber der in der Buchreihe
»Bibliothek der Psychoanalyse« des Gießener Psychosozial-Verlags
publizierten und auf 23 Bände angelegten
Sigmund-Freud-Gesamtausgabe (SFG), deren ersten vier Bände, die
voranalytischen Schriften von 1877-1894 umfassend, im September
2015 erschienen sind.
Thema
In diesen voranalytischen Publikationen finden sich auch die so
genannten Kokain-Schriften, die in den Jahren 1884 – 1887
veröffentlicht wurden. Schauplätze seiner in der ersten Hälfte der
1880er Jahre vorgenommenen (Selbst-)Versuche waren seine Wohnungen.
Und die befanden sich zu jener Zeit an wechselnden Orten des Wiener
Allgemeinen Krankenhauses (AKH), in dem Sigmund Freud 1882 seine
Tätigkeit aufgenommen hatte. Wo genau die Wohnungen lagen, wo –
d.h. in welchem Hof und in welchem Gebäudeteil – die verschiedenen
Stationen lagen, auf denen der junge Arzt tätig waren, ist in
vorliegendem Buch auf den Seiten 22 bis 29 nachzulesen. Und auch
nachzusehen, denn hier wie auch sonst sind die Angaben illustriert;
im vorliegenden Falle mit zwei frühen Detailaufnahmen des AKH,
einem historischen Lageplan des AHK, der damals größten
medizinischen Einrichtung der ganzen Monarchie sowie einem
kommentierten Zimmergrundriss, angefertigt von Sigmund Freud für
seine Verlobte.
Das Beispiel mag illustrieren, was man von einem Buch zu erwarten
hat, das den Untertitel »Eine biografische Skizze nach
Schauplätzen« trägt.
Entstehungshintergrund
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die zweite, korrigierte
und erweiterter Auflage der unter gleichem Titel erstmals vor bald
zwei Jahrzehnten (1996) beim der Psychoanalyse verbundenen Wiener
Verlag Turia + Kant erschienenen Erstausgabe, die 1997 in
unverändertem Nachdruck aufgelegt wurde. Beide damaligen Ausgaben
sind vergriffen und antiquarisch sind die Bücher, Versandkosten
inbegriffen, nicht unter 20 EUR zu haben (der mittlere Preis liegt
weitaus höher); eine Neuausgabe ist unter diesen Umständen zu
begrüßen.
Aufbau und Inhalt
Dem Kern des Buches voran gestellt ist eine kurze Vorbemerkung, in
dem Lesehinweise und Danksagungen zu finden sind. Nach dem
Hauptteil findet sich ein (teilweise mit Fundort versehenes)
Verzeichnis der insgesamt 55 Abbildungen. Daran schließt sich ein
Adressen-Verzeichnis an, in dem sich die Wiener (Sommer-)Wohnungen
Sigmund Freuds sowie einiger nahe stehender Personen ebenso finden
wie die bedeutsamer Institutionen und Vereinigungen, von seiner
Schule angefangen bis zum letzten Treffpunkt der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung. Den Abschluss bilden das
Literatur-Verzeichnis sowie ein Personenregister.
Den Kern des Buches machen drei Teile aus, die im Umfang aus
sachlichen Gründen und dem Buchtitel gerecht werdend höchst
unterschiedlich ausfallen.
Im zweiseitigen Prolog: Freiberg und Leipzig erfahren wir etwas
über die Kindheit des 1856 geborenen Sigismund Schlomo Freud,
darunter über jenen - zeitlich kurzen und in seinen Motiven bis
heute unklaren – »Umweg«, den die Familie über Leipzig nahm, bevor
die sie 1859 nach Wien, dem Ziel vieler – insbesondere galizischer
– Juden des Habsburger Reiches, kam.
Das Hauptstück: Wien nimmt mit 70 Seiten und 50 Abbildungen
naturgemäß den größten Raum ein. Bald acht Jahrzehnte lebte und
wirkte – als Wissenschaftler wie als Arzt – er in dieser Stadt. Und
in deren näherer und weiterer Umgebung: in Grinzing etwa oder auf
dem Semmering; beides Orte, die heutige Wien-Besucher(innen) nicht
versäumen sollten. Und zwischen den Zeilen wird deutlich wie selten
anderswo: Ohne die Hilfe seiner Frau Martha hätte Sigmund Freud
seine Leistungen nicht vollbringen können.
Der Epilog: London ist mit vier Seiten wiederum kurz. Er enthält
die weithin bekannte Geschichte der Emigration Sigmund Freuds (im
Juni 1938) aus dem seit März 1938 »an das Reich angeschlossenen«
Österreich ins Vereinigte Königreich, wo er nur noch 14 Monate zu
leben hatte; der langjährige Leibarzt Sigmund Freud leistete aktive
Sterbehilfe. Das geschah 20 Tage nachdem das Vereinigte Königreich
dem Dritten Reich, zu dem nun auch Österreich gehörte, den Krieg
erklärt hatte.
Diskussion
Das vorliegende Buch ist schmal und im Format reicht es fast an
jenes eines klassischen Taschenbuchs heran. Man kann es als
»Büchlein« bezeichnen, wenn das Wort nicht einen solch
herabsetzenden Beigeschmack hätte; »Booklet« wäre ein passendes
Wort. Dieses liest sich leicht und schnell; die zahlreichen
Abbildungen nehmen von Interesse und Neugier abhängig mehr oder
weniger Zeit in Anspruch. Vieles im Text dürfte auch Menschen
unbekannt sein, die mit der Geschichte Sigmund Freuds einigermaßen
vertraut sind. Und selbst Kenner(innen) dürften gerade bei den
Abbildungen von bislang Unbekanntem überrascht sein.
Mitunter ist man als Zeitgenosse des großen Flüchtlingsstroms, den
Deutschland in diesen Wochen erlebt, bei bestimmten Angaben des
Buches unmittelbar berührt. So, wenn man liest: Ausgangspunkt der
Reise ins Exil waren für Sigmund Freud, seine Frau, Tochter Anna,
die Haushälterin und eine Ärztin der Wiener Westbahnhof; er ist
heute einer der wichtigsten Durchgangspunkte der Flüchtlinge, die
vom Balkan kommen und weiter nach Deutschland (und ggf. Schweden)
wollen. Und dann das auf S. 82 abgebildete französische
Transitvisum für Martha Freud, in das eingestempelt ist, dass sie
in Frankreich keine Arbeit aufnehmen darf (»Le titulaire ne pourra
occuper aucun emploi en france«); es ist ein altes Thema, über das
hierzulande derzeit gestritten wird.
Mitunter erhellt eine kleine im Buch zu findende Notiz eine
Situation schlagartig, ohne dass es weiterer Ausführungen und
langer Beweisgänge bedürfte. Da wird etwa in der Lokalpresse
darüber berichtet, dass sich eine Patientin Sigmund Freuds durch
Sprung aus dem dritten Stock eben jenes Hauses, in dem er damals
seine Praxis hatte (Näheres gleich), im zeitlichen Zusammenhang mit
einer Konsultation mit ihm suizidierte. Der Wiener Zeitung (vgl. S.
37) war zu entnehmen, der zu Konsultierende sei ein gewisser
»Nervenarzt Dr. Frey«. Das war 1891. Nur wenige Jahre später sollte
jeder Wiener Journalist wissen, wie »Freud« zu schreiben sei.
Es wurde oben gesagt, das Buch lese sich leicht und schnell. Das
gilt freilich nur, wenn man schon vieles weiß oder aber manches gar
nicht (näher) wissen möchte. Da ist etwa auf S. 38 ein Rezept
abgebildet, das »Dozent Dr. Sigm. Freud« in der zweiten Hälfte der
1880 in seiner Praxis »I. k. Stiftungshaus« – dort geschah der o.
g. Selbstmord – ausstellte. Nur, um das Handschriftliche entziffern
zu können, muss man die deutsche Kurrentschrift lesen können; die
steht schon seit Langem nicht mehr auf dem Lehrplan selbst
süddeutscher Gymnasien. In der obigen Praxisanschrift meint »k.«
übrigens »kaiserlich« (»Kaiser von Österreich«) wie stets auch das
erste »k.« in sowohl »k.k.« (das zweite »k.« steht für »König von
Böhmen«) als auch »k.u.k.« (hier steht das zweite »k.« für »König
von Ungarn«).
An verschiedenen Stellen des Buches tauchen »k.«-Bezeichnungen
unterschiedlicher Art auf, ohne, dass deren Bedeutung – und die
geht ins Staatspolitische und – rechtliche – aus dem Kontext
ersichtlich oder vom Herausgeber geklärt wäre. Wenn man kein
»k.«-Kenner ist, möge man solche Bezeichnungen einfach überlesen;
das führt zu geringerem Unverständnis als ein Falschverstehen eins
der »k.«-Ausdrücke.
An anderen Stellen führt mangelndes Vorwissen dazu, dass man die
Pointe nicht versteht. Bleiben wir beim »I. k. Stiftungshaus«, zum
Privatbesitz des damaligen österreichischen Kaisers Franz Joseph I.
(»Sissis« Ehemann), wo das Ehepaar Freud seine erste gemeinsame
Wohnung, in der sich auch die ärztliche Praxis befand, hatte. Diese
Wohnung hatte Sigmund Freud ausgesucht, weil ihm die Miete der
vorherigen zu teuer war; die neue war offensichtlich billiger, denn
sie lag »im Mezzanin« (S. 35). Nur: Wenn man nicht weiß, was ein
»Mezzanin« (in Wien aus baurechtlichen Gründen weit verbreitet und
bis in »höchste Kreise« genutzt) ist und weshalb dort
Wohnungsmieten billiger sind, ist die Angabe »im Mezzanin« ohne
jeglichen Informationswert.
Schließlich kann ein gewisses Hintergrundwissen nützlich sein, bei
der Lektüre des Buches auftauchende Verständnisschwierigkeiten oder
gar Missverständnisse zu vermeiden. Da findet sich etwa auf S. 83
unter einem Zeitungsausschnitt die Notiz »Freud und Marie Bonapart
bei ihrer Ankunft in London«, während der Zeitungsausschnitt ein
Bild von Sigmund Freud mit einer Dame zur Rechten zeigt und mit der
Unterschrift versehen ist: »PROFESSOR FREUD photographed on his
arrival in Paris from Vienna, where he was met by Princess George
of Greece who is seen with him«.
Die Angabe »in London« (Viktoria Station) ist ganz offensichtlich
falsch; das klärt der Text zwei Seiten vorher. Nur, wer ist die
Dame, die Sigmund Freud da im Pariser Gare du Nord unterhakt? Die
eine oder die andere? Und welche von beiden? Denn zu vermuten
steht, dass sich auch in diesem Punkte eine Fehlnotiz
eingeschlichen hat. Nein, in diesem zweiten Falle nicht. Jene Dame,
die der psychoanalytischen Welt als »Marie Bonapart« bekannt ist,
wird von der hier berichtenden, offensichtlich britischen
Zeitschrift völlig selbstverständlich (irgendwelche
innerhellenistischen Zwistigkeiten verunsichern wahre Royalisten
nicht) mit dem Titel angesprochen, der ihr 1907 durch Heirat mit
George von Griechenland zuteil wurde. Das war lange, bevor sie den
ersten Kontakt zur Psychoanalyse hatte.
Ein zweites Beispiel: Auf S. 18 des Buches wird erwähnt, der
Medizinstudent Sigmund Freud habe für das 1876 ein Stipendium
erhalten, um in Triest Untersuchungen an Aalen (faktisch sind es
Neunaugen) vorzunehmen. Das könnte dazu führen, dass sogleich
vielfältige Antworten auf eine Reihe von Fragen (beispielhaft
gesammelt unter Freunden) entwickelt werden: Gab es damals in Wien
schon Auslandsstipendien? Für wie viele Länder brauchte Sigmund
Freud damals Durch- bzw. Einreisevisen? Musste er bestimmte
Strecken mit Pferdegespann oder gar zu Fuß bewältigen? Wie viele
Tage, wenn nicht gar Wochen dauerte denn Hin- und Rückfahrt
jeweils? Man könnte dergleichen aber auch sein lassen. Die banale
Wirklichkeit ist: Zu Sigmund Freuds Studienzeiten (schon) konnte
der österreichische Staatsbürger mit der Südbahn von Wien nach
Triest (und natürlich auch zurück) fahren, ohne ein einziges Mal
umsteigen oder seinen Pass zücken zu müssen. Die Fahrt über die
knapp 600 km lange Strecke dauerte bestenfalls gute zwölf Stunden;
ja, und wenn man dann noch die Nachtbahn nahm…
Eine Anmerkung noch zur formalen Gestaltung der Bibliographie. Da
stehen, was manche Leser(innen) überraschen dürfte, die Schriften
der Freud-Schwester Anna Freud-Bernays und der Freud-Nichte Lilly
Freud-Marlé vor denen Sigmund Freuds selbst. Dessen Schriften
tragen an das Publikationsjahr angefügt Kleinbuchstaben, etwa
»1877a« oder »1985c« auch wenn in den betreffenden Jahren weder
danach noch davor eine andere Schrift aus dem selben Jahr
aufgeführt ist; offensichtlich wurden hier Angaben aus einer
anderen Datei unkorrigiert übernommen (was man bei einer nächsten
Ausgabe vielleicht doch ändern möge).
Fazit
Das Buch ist all jenen zu empfehlen, die sich ihr Bild von dem Wien
Sigmund Freuds anschaulicher gestalten möchten. Besonders ans Herz
gelegt sei es all jenen, die ein gewisses Freud-Interesse haben und
noch ein wenig Platz im (Hand-)Gepäck ihrer (ersten oder nächsten)
Wien-Reise haben. Das vorliegende Büchlein ist nicht nur für die
üblicherweise der Bildungsreise Verdächtigen eine wertvolle
Ergänzung sonstiger Wien-Führer.
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 09.10.2015 zu: Christfried
Tögel: Freuds Wien. Eine biografische Skizze nach Schauplätzen.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2528-9. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/19596.php, Datum des Zugriffs
02.12.2016.
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