Rezension zu Der Ursprung des Schöpferischen bei Paul Klee
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2016
Rezension von Dr. Michael Konrad
Die Beschäftigung mit der bildenden Kunst psychisch kranker
Menschen ist im Kommen. Die legendäre Prinzhorn Sammlung hat vor
einigen Jahren ein eigenes Museum in der Heidelberger Klinik
bekommen. Ausstellungen mit den Werken der 1922 erstmals in
Buchform präsentierten Künstler werden in Galerien wie der Galerie
Art Cru in Berlin vertrieben und erzielen wachsende Aufmerksamkeit
in der Kunstwelt. Die (sozial)psychiatrische Zunft nimmt wie schon
zur Zeit der Veröffentlichung der »Bildnerei der Geisteskranken«
nur am Rande an der Diskussion um die bildende Kunst psychisch
kranker Menschen teil. Die Diskussionen kreisen meist um die Frage,
ob es eine spezifisch schizophrene Kunst gibt und ob die Bildnisse
spezifische Entäußerungen der Krankheitssymptomatik sind. Es ist
daher ein großes Verdienst, wenn eine Psychoanalytikerin den
Ursprung des Schöpferischen bei einem der großen Neuerer der
bildendenden Kunst sucht, der niemals psychiatrisiert wurde. Anita
Eckstaedt war lange Zeit als Psychoanalytikerin in eigener Praxis
sowie als Lehr- und Kontrollanalytikerin tätig und beschäftigt sich
seit Jahrzehnten mit Paul Klee und seinem Werk. Die vorgelegte
Studie ist der (vorläufige) Abschluss der Analyse einer
Kinderzeichnung des vierjährigen Paul Klee, die die Autorin bereits
1980 mit einer Veröffentlichung begonnen hat. Die Zeichnung ist
insofern von besonderem Interesse, als Klee sie entgegen seiner
Gewohnheit nicht in sein gesamtes Œuvre übernommen hat.
Dies geschah erst nachträglich durch seinen Sohn Felix. Die
Interpretation der Analytikerin setzt genau an dieser »Verdrängung«
an, die für den Betrachter offensichtlich ist, geht von der
Zeichnung doch bereits eine große Ausstrahlung aus und ist ihr
Ansatz bis zum Spätwerk von Paul Klee zu finden. Die Analyse dieser
Kontinuität findet sich im zweiten Teil des Buches.
In dem Bild »Mimi überreicht Madame Grenouillet einen Blumenstrauß«
entschlüsselt die Autorin den Konflikt des Vierjährigen mit seiner
Mutter. Er sucht emotionale Nähe, findet diese bei der
zurückhaltenden bis abweisenden Mutter jedoch nicht. Dieser
frühkindliche, bis in das mittlere Lebensalter währende Konflikt
wird anhand einer sehr genauen, schrittweisen Analyse des Bildes
sowie dem Vergleich mit der dem Kind dienenden Vorlage eines
französischen Bilderbogens herausgearbeitet. Die Stärke dieser
Sequenzanalyse, die auch bei der weiteren Entwicklung von Klees
schöpferischem Wirken angewandt wird, liegt darin, dass die
psychoanalytische Begrifflichkeit nicht »von außen« auf die
Interpretation angewandt wird, sondern sich nachvollziehbar aus dem
Material ergibt. Es ist faszinierend nachzuvollziehen, wie eine
biografisch bedeutsame Konstellation aus einem Bild hergeleitet
werden kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass die bildnerische
Begabung für das Kind einen Ansatzpunkt liefert, um den Konflikt
schöpferisch umzusetzen.
Anita Eckstaedt ist nicht nur Psychoanalytikerin, sondern
offensichtlich auch anerkannte Kunstverständige. Bei der Eröffnung
des Paul Klee Zentrums in Bern im Jahre 2005 war sie eingeladen,
einen Vortrag über Paul Klees Wendung in die Natur zu halten.
Dementsprechend sieht sie in der Analyse der frühkindlichen
Konfliktsituation nicht den Ausgangspunkt für eine therapeutische
Intervention, sondern für das Verstehen der künstlerischen
Entwicklung mitsamt der innovativen Energie des Künstlers. Dies
wird auf Seite 51 verdichtet in folgenden beiden Sätzen
zusammengefasst. »In Klees Kinderzeichnung ist genau dieser Moment
vor dem Eintritt der höchsten Bedrängnis dargestellt. Und exakt an
dieser Stelle tritt das Kind Paul Klee aus dem realen Konfliktfeld
und wird mit seinem Tun in seiner eigenen Welt aktiv.« Dass diese
kreative Lösung nur mithilfe einer emotional positiven Bindung zu
der Großmutter möglich war, arbeitet die Autorin in Kapitel 14
heraus. Zuvor analysiert sie in Kapitel 12 eindringlich, wie der
innere Kampf des 30-jährigen Künstlers in einem der wenigen
Selbstporträts seine Fortsetzung findet und mit gestalterischen
Mitteln zum Durchbruch in der Abstimmung von Form und Farbe findet,
der Klee fünf Jahre später in sein Tagebuch schreiben lässt: »Ich
bin Maler.«
Auf dieser Grundlage kann die Autorin die Entwicklung Paul Klees zu
dem neben Kandinsky bedeutendsten Pionier der Abstraktion in
einigen Werken der 1920er-Jahre bis hin zu der letzten Zeichnung
rekonstruieren. Anita Eckstaedt demonstriert empirisches
sozialwissenschaftliches Arbeiten auf hoher Stufe. Sie verliert das
im Material vorgefundene nie zugunsten einer vorgefertigten Theorie
aus den Augen, und betont die Offenheit der Theoriebildung. Sehr
anschaulich wird, wie sie in den 35 Jahren der Beschäftigung mit
dem Mimi-Bild immer wieder Neues entdeckt und ihre Analyse
verfeinert hat. Für den gegenüber der Psychoanalyse freundlich
skeptisch eingestellten Rezensenten wurde bei der Lektüre dadurch
die Bedeutung des Begriffes der »unendlichen Analyse« klar. Das
vorletzte Kapitel mit dem Titel: »Noch einmal Mimi« demonstriert
diese theoretische Offenheit in bemerkenswerter Weise.
Der Wert des Buches geht jedoch weit über die Analyse des Ursprungs
des Schöpferischen hinaus. Es beleuchtet vielmehr den Zusammenhang
psychischer Konflikte und schöpferischem Wirken im Allgemeinen. Es
ist ein Lehrstück über und Resilienz. Zu erkennen, dass psychische
»Verletzungen« ohne Aufarbeitung durch schöpferische Kraft
bewältigt werden können, gibt dem sozialpsychiatrischen Denken neue
Perspektiven. Die Interpretation der »Kunst der Geisteskranken« wie
sie von Prinzhorn entwickelt wurde, kann einen neuen Ansatz
gewinnen, indem nicht das Pathologische, Schizophrene in den
Vordergrund gestellt wird. Der typisch menschliche Konflikt, der
letztlich im Kampf um Anerkennung kulminiert, erscheint mir als
besserer Ansatz für die Interpretation der Kunst psychisch Kranker.
Paul Klee muss das immer bewusst gewesen sein. Er war der Erste,
der den Anspruch formuliert hat, so zu malen wie Kinder oder
psychisch Kranke.
Credo: Das schön gemachte Buch mit mehreren Abbildungen ist den
Kauf mehr als wert.