Rezension zu Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit
aep informationen. Feministische Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 4/2016
Rezension von Bettina Zehetner
Über menschliche Würde und Verletzlichkeit: Beratung als
Möglichkeitsraum für Selbstreflexion statt als Instrument für
Anpassung und Verwertung
Katharina Gröning hat ein Buch geschrieben, dessen Wert für die
Beratung gar nicht zu überschätzen ist. Sozialwissenschaftliche
Fundierung, eine reflektierte ethische Grundhaltung, die die Würde
des Menschen in den Mittelpunkt stellt, sowie ein demokratisches
Rechtsverhältnis, das die Rechte der ratsuchenden Person in einem
(mündlichen oder schriftlichen) Vertrag sichtbar macht und
gewährleisten soll – all diese Punkte sind wesentliche Kriterien
für eine professionelle Beratungstätigkeit.
Beratung gerät nur allzu leicht in die Gefahr, Erfüllungsgehilfin
von Wirtschaft und Staat im Sinne einer Anpassung, »Normalisierung«
und beständiger neoliberaler Selbstoptimierung zu werden. Etwa die
»amtliche« Beratung, bei der sozusagen der Staat mit im
Beratungsraum sitzt und bei Nicht-Kooperation mit Sanktionen droht
(bei Beratungen durch das AMS oder in Deutschland bei
verpflichtenden Beratungen aus Anlass eines
Schwangerschaftskonflikts mit der Frage, ob Abtreibung eine Option
sein kann bzw. darf). Ein ähnliches Risiko beinhalten Methoden wie
Coaching sowie systemische und lösungsorientierte
Kurzberatungsformate, die ihr funktional-verkürztes Menschenbild
kaum kritisch reflektieren und die auf wenig bis keine theoretische
Fundierung zurückgreifen können. Beratung ist keine trivialisierte
Psychotherapie, sondern eine eigenständige Profession mit
sozialwissenschaftlicher und philosophischer Basis.
Den GründerInnen der Beratung und Supervision in Deutschland und
ihrem methodischen und professionellen Verständnis wird viel
Aufmerksamkeit gewidmet, die Interviews mit Anne Frommann, Hans
Thiersch, Kurt Aurin und Gerhard Leuschner sind lebendig zu lesen.
Der Bezug auf Michel Foucaults Konzepte von Biomacht,
Gouvernementalität - der (Selbst)Regierung moderner Subjekte - und
sein Bezug von Psychotechniken und Geständnispraktiken auf
Pastoralmacht und Scham verdeutlicht die gesellschaftliche
Verantwortung von Berater_innen.
Als konkret hilfreich erweist sich auch die Darstellung
sozialwissenschaftlicher Instrumente zum Verstehen, Ordnen und
Reflektieren von Erzähltem, besonders hervorzuheben die
Deutungsmusteranalyse und das mäeutische Fragen (die sokratische
»Hebammenkunst«) sowie die Habitusanalyse nach Bourdieu mit seinem
fruchtbaren Fokus der machtvollen Verschränkung von Körper und
gesellschaftlicher Ordnung.
Wohltuend im Rahmen der insgesamt sehr klaren Sprache auch die
Selbstverständlichkeit der Geschlechterbenennung – ein gutes
Beispiel dafür, dass die korrekte Verwendung geschlechtsbezogener
Bezeichnungen keineswegs zu schlechterer Lesbarkeit, sondern
vielmehr zu erfreulicher Klarheit führt.
In seriöser Beratung geht es darum, Möglichkeitsräume für
Ratsuchende zu bieten, in denen sie sich selbst reflektieren, sich
selbst besser verstehen können und somit mehr Denk- und
Handlungsfreiheit entwickeln. Bedingung dafür ist eine offene,
respektvolle, nicht beurteilende Haltung, die die ratsuchende
Person als Expertin für ihr Leben anerkennt. Notwendig ist die
Genauigkeit im Zuhören – auch mit dem »sozialwissenschaftlichen
Ohr«, um das Gehörte auf die Lebenswelt und die
gesellschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen zu beziehen.
Notwendig ist ausreichend Zeit, erzählen zu lassen und wirklich
verstehen zu wollen im Sinne einer Hermeneutik des Subjekts,
basierend auf einer Idee der Selbstsorge (Foucault) und des guten
Lebens. Ebenso zentral ist eine parteiliche Haltung für die
ratsuchende Person und nicht ihre Funktionalisierung, um bessere
Anpassung, mehr Flexibilität und höhere Leistung von »Personal« als
»Humankapital« zu erzielen (vgl. das politische Konzept
differenzierter Parteilichkeit der feministischen psychosozialen
Beratung). Nur unter diesen Voraussetzungen können die
Beratungsziele Reflexivität, Selbstbestimmung und Mündigkeit
erreicht werden.
www.frauenberatenfrauen.at