Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 1-4
Punktum. Verbandszeitschrift des Schweizer Berufsverbandes für Angewandte Psychologie, Juni 2016
Rezension von Sabine Richebächer
»Ich studiere jetzt der Menschen Innerstes«
Neue Freud-Editionen
Seit Anfang 2010 das Copyright an Sigmund Freud frei geworden ist,
erscheinen allenthalben neue Editionen, gedruckt oder digital,
welche das Werk des Begründers der Psychoanalyse erstmals
gesamthaft zugänglich machen.
Die Brautbriefe
Die parallele Lektüre des auf fünf Bände angelegten, lange
erwarteten Briefwechsels zwischen Freud und seiner Braut Martha
Bernays – drei davon sind unterdessen erschienen –, sorgt dafür,
dass neues Licht gerade auf den frühen Freud geworfen wird, auf
sein inneres und äusseres Ringen, auf sein herkulisches Leseprojekt
in Wissenschaft und Literatur, auf seine teilweise hochkarätigen
wissenschaftlichen Leistung in der sogenannt voranalytischenPhase,
und so der Werdegang des Wissenschaftlers wie der Privatperson
Freud neue Lesarten, neue Einschätzungen erlaubt. Freud selber
hätte an diesen Editionen vermutlich wenig Freude gehabt. So
schreibt er am 18. März 1936 an den Zürcher Neurologen und
Psychoanalytiker Rudolf Brun (1885–1969): »Sie sind so freundlich,
sich meiner ›organischen Arbeiten‹ anzunehmen. Ich danke sehr
dafür, bin aber erschreckt durch die Würdigung, die Sie denselben
zu schenken scheinen. Denn ich weiss, die meisten von ihnen taugen
wenig, einige aber gar nichts.« Dreimal in seinem Leben hat Freud
grosse Teile seiner Aufzeichnungen, Briefe und Manuskripte
verbrannt, das erste Mal im Mai 1885: »Die Biographen aber sollen
sich plagen«, kündigt er Martha das Autodafé seiner Papiere an. Was
publiziert war, überlebte selbstredend die Vernichtungsaktion. Es
ist jedoch bemerkenswert, dass Freud von der radikalen
Distanzierung gegenüber seinen frühen Werken, ja eigentlich einer
ganzen, fruchtbaren Schaffensperiode ein einziges Werk ausnahm,
nämlich die Studie »Zur Auffassung der Aphasien« (1892), welche er
in der »Selbstdarstellung« (1925) als »kritisch-spekulatives Werk«
anerkennt. In dieser Arbeit stellte Freud der zeitgenössischen,
anatomisch-lokalisatorisch orientierten Aphasielehre einen radikal
neuen Ansatz gegenüber: nämlich eine dynamisch-funktionalistische
Auffassung der Hirnleistungen – so wie sie der heutigen
Neurowissenschaft zugrunde liegt.
Mittels Distanzierung von seinen frühen Arbeiten beförderte Freud
eine Legendenbildung, die teilweise bis heute fortbesteht: nämlich
die Trennung in einen voranalytischen Neurologen Freud versus den
späteren Freud und seine eigentlichen psychoanalytischen Arbeiten.
Freud-Hagiograph Ernest Jones beispielsweise bespricht die
Aphasie-Arbeit im Kapitel »Der Neurologe«, und auch die
»Gesammelten Werke« (GW) des Verlags S. Fischer mit ihren 18 blauen
Bänden beginnt erst mit »Ein Fall von Hypnotischer Heilung«
(1892/93).
In den sogenannten Voranalytischen Schriften scheint Freud noch
ganz dem herrschenden Positivismus verpflichtet: Er vertritt die
Position der offiziellen Medizin, wonach es sich bei
psychopathologischen Erscheinungen in erster Linie um somatische
Erkrankungen handle, und versucht, klinische Beobachtungen
neurophysiologisch zu erklären. Freuds Entdeckung der ödipalen
Verstrickungen im Rahmen seiner Selbstanalyse im Sommer 1897
markieren den Wendepunkt seiner persönlichen wie seiner
wissenschaftlichen Entwicklung. Neue Lesarten seiner frühen Texte
und die Lektüre der Korrespondenz Freud–Bernays zeigen, dass diese
Veränderungen sich über viele Jahre vorbereitet hatten. So finden
sich bereits 1882, im ersten Jahr der Verlobung, zahlreiche
Präkonzepte, Denkfiguren und Vorformulierungen sehr viel später
ausgearbeiteter, genuin psychoanalytischer Begrifflichkeiten und
Methodik – etwa die Beschäftigung mit Träumen oder die Forderung,
alles, absolut alles offen zu sagen. »Ich studiere jetzt der
Menschen Innerstes«, schreibt Freud im November 1983 an Martha,
»wenn Du daraus einen Roman machen willst, um einen Nebenverdienst
zu haben, bist Du willkommen.« Hier durchaus ironisch gemeint,
weist diese Äusserung doch voraus auf das Urbuch der Psychoanalyse,
auf Sigmund Freuds und Josef Breuers »Studien über Hysterie«
(1893/95), wo Freud zu seiner Verwunderung feststellen wird, dass
seine »Krankengeschichten sich wie Novellen« lesen. Doch bereits
Freuds Arbeit »Über Coca« (1884) liest sich viel eher wie eine
literarische Liebeserklärung an das Alkaloid denn wie eine
wissenschaftliche Arbeit.
»Freud im Kontext«
»Freud im Kontext. Gesammelte Schriften auf CD-ROM« (2010) ist eine
bisher kaum wahrgenommene, umfangreichste aller Freud-Editionen.
Während die »GW« 258 Arbeiten umfassen, sind es bei «Freud im
Kontext» 432 Texte: der gesamt Textkörper der »GW«; eine
überarbeitete Fassung der Freud-Bibliographie von Meyer-Palmedo und
Fichtner; und endlich auch die voranalytischen Schriften Freuds,
also die frühen zoologischen, histologischen, neuroanatomischen und
neuropathologischen Arbeiten, welche bis auf wenige Ausnahmen seit
der Erstpublikation nicht wieder erschienen sind. Ferner enthält
»Freud im Kontext« Hunderte von editorisch bestens aufgearbeiteten
Rezensionen – ein eigentliches, bisher unzugängliches Parallelwerk
Freuds. Was »Freud im Kontext« zu einem grossartigen
Arbeitsinstrument macht, sind die ausgereifte elektronische
Aufarbeitung und die Suchfunktionen, mittels deren Zitate oder alle
Stellen, wo Freud um Beispiel den Begriff »Es« oder »Todestrieb«
oder Wortkombinationen verwendet, mühelos aufgefunden werden
können.
Sigmund-Freud-Gesamtausgabe
Ein weiteres editorisches Grossunternehmen ist die von Christfried
Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfass herausgegebene, auf 23
Bände geplante Sigmund-Freud-Gesamtausgabe (SFG), die im
Psychosozial-Verlag erscheint. 2015 sind davon Band 1 bis Band 4
mit den voranalytischen Schriften 1877 bis 1894 erschienen sowie
Band 5 mit den Arbeiten 1895/96, darunter den »Studien über
Hysterie«. Tögel, bekannter Freud-Biograph und versierter
Herausgeber etwa der »Rundbriefe des ›Geheimen Komitees‹«, editiert
die Texte, wie bereits »Freud im Kontext«, in ihrer jeweiligen
Originalfassung, wobei jeder Text mit einer Einführung in den
biographischen und wissenschaftstheoretischen Zusammenhang gestellt
wird. Die SFG enthält 563 freudsche Arbeiten, ein Zuwachs, der Band
21 zu verdanken sein wird, der nicht oder postum veröffentlichte
Vortragstexte von Freud sowie Interviews enthalten wird. Band 22
verspricht ein Freud-Diarium, das Ereignisse seines Lebens
auflistet und durch von Freud selbst geführte Chroniken und
Kalender eingeleitet werden soll. Wir dürfen also gespannt sein.
Dass der Psychosozial-Verlag die Publikationen der
voranalytischenSchriften in der SFG als »editorische Sensation«
anpreist, auf die »die Interessierten seit Jahren gewartet haben«,
ist angesichts der Verdienste von »Freud im Kontext« ein
werbetechnischer Schelmenstreich und sollte nicht verdriessen.