Rezension zu Gesamtausgabe in 23 Bänden (SFG)

Punktum. Verbandszeitschrift des Schweizer Berufsverbandes für Angewandte Psychologie, Juni 2016

Rezension von Sabine Richebächer

»Ich studiere jetzt der Menschen Innerstes«

Neue Freud-Editionen

Seit Anfang 2010 das Copyright an Sigmund Freud frei geworden ist, erscheinen allenthalben neue Editionen, gedruckt oder digital, welche das Werk des Begründers der Psychoanalyse erstmals gesamthaft zugänglich machen.

Die Brautbriefe

Die parallele Lektüre des auf fünf Bände angelegten, lange erwarteten Briefwechsels zwischen Freud und seiner Braut Martha Bernays – drei davon sind unterdessen erschienen –, sorgt dafür, dass neues Licht gerade auf den frühen Freud geworfen wird, auf sein inneres und äusseres Ringen, auf sein herkulisches Leseprojekt in Wissenschaft und Literatur, auf seine teilweise hochkarätigen wissenschaftlichen Leistung in der sogenannt voranalytischenPhase, und so der Werdegang des Wissenschaftlers wie der Privatperson Freud neue Lesarten, neue Einschätzungen erlaubt. Freud selber hätte an diesen Editionen vermutlich wenig Freude gehabt. So schreibt er am 18. März 1936 an den Zürcher Neurologen und Psychoanalytiker Rudolf Brun (1885–1969): »Sie sind so freundlich, sich meiner ›organischen Arbeiten‹ anzunehmen. Ich danke sehr dafür, bin aber erschreckt durch die Würdigung, die Sie denselben zu schenken scheinen. Denn ich weiss, die meisten von ihnen taugen wenig, einige aber gar nichts.« Dreimal in seinem Leben hat Freud grosse Teile seiner Aufzeichnungen, Briefe und Manuskripte verbrannt, das erste Mal im Mai 1885: »Die Biographen aber sollen sich plagen«, kündigt er Martha das Autodafé seiner Papiere an. Was publiziert war, überlebte selbstredend die Vernichtungsaktion. Es ist jedoch bemerkenswert, dass Freud von der radikalen Distanzierung gegenüber seinen frühen Werken, ja eigentlich einer ganzen, fruchtbaren Schaffensperiode ein einziges Werk ausnahm, nämlich die Studie »Zur Auffassung der Aphasien« (1892), welche er in der »Selbstdarstellung« (1925) als »kritisch-spekulatives Werk« anerkennt. In dieser Arbeit stellte Freud der zeitgenössischen, anatomisch-lokalisatorisch orientierten Aphasielehre einen radikal neuen Ansatz gegenüber: nämlich eine dynamisch-funktionalistische Auffassung der Hirnleistungen – so wie sie der heutigen Neurowissenschaft zugrunde liegt.

Mittels Distanzierung von seinen frühen Arbeiten beförderte Freud eine Legendenbildung, die teilweise bis heute fortbesteht: nämlich die Trennung in einen voranalytischen Neurologen Freud versus den späteren Freud und seine eigentlichen psychoanalytischen Arbeiten. Freud-Hagiograph Ernest Jones beispielsweise bespricht die Aphasie-Arbeit im Kapitel »Der Neurologe«, und auch die »Gesammelten Werke« (GW) des Verlags S. Fischer mit ihren 18 blauen Bänden beginnt erst mit »Ein Fall von Hypnotischer Heilung« (1892/93).

In den sogenannten Voranalytischen Schriften scheint Freud noch ganz dem herrschenden Positivismus verpflichtet: Er vertritt die Position der offiziellen Medizin, wonach es sich bei psychopathologischen Erscheinungen in erster Linie um somatische Erkrankungen handle, und versucht, klinische Beobachtungen neurophysiologisch zu erklären. Freuds Entdeckung der ödipalen Verstrickungen im Rahmen seiner Selbstanalyse im Sommer 1897 markieren den Wendepunkt seiner persönlichen wie seiner wissenschaftlichen Entwicklung. Neue Lesarten seiner frühen Texte und die Lektüre der Korrespondenz Freud–Bernays zeigen, dass diese Veränderungen sich über viele Jahre vorbereitet hatten. So finden sich bereits 1882, im ersten Jahr der Verlobung, zahlreiche Präkonzepte, Denkfiguren und Vorformulierungen sehr viel später ausgearbeiteter, genuin psychoanalytischer Begrifflichkeiten und Methodik – etwa die Beschäftigung mit Träumen oder die Forderung, alles, absolut alles offen zu sagen. »Ich studiere jetzt der Menschen Innerstes«, schreibt Freud im November 1983 an Martha, »wenn Du daraus einen Roman machen willst, um einen Nebenverdienst zu haben, bist Du willkommen.« Hier durchaus ironisch gemeint, weist diese Äusserung doch voraus auf das Urbuch der Psychoanalyse, auf Sigmund Freuds und Josef Breuers »Studien über Hysterie« (1893/95), wo Freud zu seiner Verwunderung feststellen wird, dass seine »Krankengeschichten sich wie Novellen« lesen. Doch bereits Freuds Arbeit »Über Coca« (1884) liest sich viel eher wie eine literarische Liebeserklärung an das Alkaloid denn wie eine wissenschaftliche Arbeit.

»Freud im Kontext«

»Freud im Kontext. Gesammelte Schriften auf CD-ROM« (2010) ist eine bisher kaum wahrgenommene, umfangreichste aller Freud-Editionen. Während die »GW« 258 Arbeiten umfassen, sind es bei «Freud im Kontext» 432 Texte: der gesamt Textkörper der »GW«; eine überarbeitete Fassung der Freud-Bibliographie von Meyer-Palmedo und Fichtner; und endlich auch die voranalytischen Schriften Freuds, also die frühen zoologischen, histologischen, neuroanatomischen und neuropathologischen Arbeiten, welche bis auf wenige Ausnahmen seit der Erstpublikation nicht wieder erschienen sind. Ferner enthält »Freud im Kontext« Hunderte von editorisch bestens aufgearbeiteten Rezensionen – ein eigentliches, bisher unzugängliches Parallelwerk Freuds. Was »Freud im Kontext« zu einem grossartigen Arbeitsinstrument macht, sind die ausgereifte elektronische Aufarbeitung und die Suchfunktionen, mittels deren Zitate oder alle Stellen, wo Freud um Beispiel den Begriff »Es« oder »Todestrieb« oder Wortkombinationen verwendet, mühelos aufgefunden werden können.

Sigmund-Freud-Gesamtausgabe

Ein weiteres editorisches Grossunternehmen ist die von Christfried Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfass herausgegebene, auf 23 Bände geplante Sigmund-Freud-Gesamtausgabe (SFG), die im Psychosozial-Verlag erscheint. 2015 sind davon Band 1 bis Band 4 mit den voranalytischen Schriften 1877 bis 1894 erschienen sowie Band 5 mit den Arbeiten 1895/96, darunter den »Studien über Hysterie«. Tögel, bekannter Freud-Biograph und versierter Herausgeber etwa der »Rundbriefe des ›Geheimen Komitees‹«, editiert die Texte, wie bereits »Freud im Kontext«, in ihrer jeweiligen Originalfassung, wobei jeder Text mit einer Einführung in den biographischen und wissenschaftstheoretischen Zusammenhang gestellt wird. Die SFG enthält 563 freudsche Arbeiten, ein Zuwachs, der Band 21 zu verdanken sein wird, der nicht oder postum veröffentlichte Vortragstexte von Freud sowie Interviews enthalten wird. Band 22 verspricht ein Freud-Diarium, das Ereignisse seines Lebens auflistet und durch von Freud selbst geführte Chroniken und Kalender eingeleitet werden soll. Wir dürfen also gespannt sein. Dass der Psychosozial-Verlag die Publikationen der voranalytischenSchriften in der SFG als »editorische Sensation« anpreist, auf die »die Interessierten seit Jahren gewartet haben«, ist angesichts der Verdienste von »Freud im Kontext« ein werbetechnischer Schelmenstreich und sollte nicht verdriessen.

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