Rezension zu Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit

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Rezension von Dr. Monika Nöcker-Ribaupierre

Autor

Carlo Strenger, Prof. Ph. D., in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität in Tel Aviv und praktizierender Existentialpsychoanalytiker. Ferner ist er im akademischen Beirat der Sigmund Freud Stiftung in Wien, Senior Research Fellow am Institut für Terrorforschung an der City University of New York und Mitglied im Daseinsanalytischen Seminar in Zürich. Als Publizist schreibt er über die israelische und europäische Politik, den Nahostkonflikt und kulturelle Themen.

Entstehungshintergrund

Seit 2000 beschäftigt sich Carlo Strenger mit dem Einfluss der Globalisierung auf Kultur, Politik und die individuelle Psyche. Sein erstes Buch hierzu heißt »Zivilisierte Verachtung« und betrifft die Entwicklungen in der Welt durch Globalisierung und Infotainment. Das vorliegende Buch (in englischer Sprache 2011 erschienen) ist die Übertragung und Erweiterung dieses Modells auf die individuelle Ebene – ein Modell, das den Weg zu einer »Weltbürgerschaft« aufzeigt.

Aufbau

Das Buch ist in drei für sich stehende Teile gegliedert, die wiederum in mehrere Kapitel unterteilt sind. Es basiert auf der These, dass die Ideen, die wir brauchen, um die zentralen Werte der Freiheit, die uns durch Infotainment und Kommerzialisierung abhanden gekommen sind, in der kulturellen und intellektuellen Geschichte des Westens wiederzufinden sind.

Zu I. Die Niederlage des Geistes

In diesem umfassend theoretischen 1. Teil steht die Diagnose der schwierigen Situation, in der sich der »Homo Globalis« befindet, im Mittelpunkt.

1. Die Jahre des goldenen Kalbs: hier wird ein Überblick gegeben über die kulturellen und existentiellen Veränderungen, zu denen das globale Infotainment-System und die daraus erwachsene Kommerzialisierung des Menschen geführt haben. Strenger beschreibt, wie diese Situation von der Existenzphilosophie, der Psychologie und da besonders von der experimentellen existentiellen Psychologie her verstanden wird.

2. »Just do it« – »Tu’s einfach«: Der Prominentenkult und das Selbst als Design-Projekt. Ausgehend von dieser Idee: alles ist möglich – es kommt nur auf Ruhm und Reichtum an, beschreibt der Autor den Weg, den dieser Zeitgeist vorgibt und der schließlich zur Angst vor Bedeutungslosigkeit führt.

3. Die Kapitulation des Geistes: Relativismus und Pop-Spiritualität. Warum leiden so viele Menschen unter Depressionen und einer erdrückenden Angst vor dem Scheitern? Warum boomen Heilslehren, die uns den Weg zum wahren Selbst weisen wollen? Strenger führt aus, wie die Phänomene, mit denen der Homo Globalis seine Angst vor Bedeutungslosigkeit zu mildern sucht (u.a. in den inkohärenten Weltsichten der kommerzialisierten Selbsthilfe-Kultur und Pop-Spiritualität) wenig geeignet sind, unserem Leben dauerhaften Sinn und Wert zu verleihen.

Zu II. Von der Verfügbarkeit des »Ichs« als Handelsware zum Drama der Individualität

Dieser Teil zeigt eine existentialistische Konzeption der menschlichen Individualität. Der Autor entwickelt ein von der Individualität geprägtes Bild: er als versteht die zentrale Aufgabe des Menschen, aus dem Rohmaterial seiner Existenz sein eigenes Leben zu schaffen. Lebensbeispiele aus der Literatur (u.a. Kundera, Roth), Politik (u.a. Obama, Hirsi), von Künstlern (u.a. Piazolla, Bellow) und aus Fallberichten von Patienten veranschaulichen diese Sichtweise.

1. Das Drama der Individualität: Hier wird ausgeführt, dass und wie wir vor dem o.g. Hintergrund und unserer Erziehung entscheiden müssen, was wir akzeptieren und was nicht: ein gutes Leben ist nicht ein Leben, in dem diese Spannungen aufgelöst werden, sondern in den sie auf produktive Weite ausgelebt werden.

2. Vom »Just Do It« zu aktiver Selbstakzeptanz: Im Gegensatz zu diesem Slogan ist aus Sicht des Autors die eigentliche Aufgabe des Menschen, eigene Stärken und Schwächen kennenzulernen. Erst aufgrund einer »aktiven Selbstakzeptanz« erreichen wir eine positive und reflektierte Vorstellung von unserer Individualität.

3. Das Leben auf das Wesentliche beschränken. Ein epikureischer Vorschlag. »Wenn nicht alles möglich ist, wie kann ich wissen, worum es in meinem Leben wirklich geht?« Dies erläutert der Autor anhand des Werts der Selbsterkenntnis durch gründliches Nachdenken, unabhängig vom Lebensalter des Menschen, in Theorie und Beispielen.

Zu III. Wie wir unseren Verstand zurückgewinnen

Teil III ist ein Plädoyer zur eigenen, auf Vernunft basierenden Kultur zurückzukehren und dies begründet argumentativ zu vertreten, das heißt die Rückkehr zu einer guten Streitkultur, die zwischen Toleranz und Tolerieren angesiedelt ist und die die Möglichkeiten des einen und die Gefahren des anderen beachtet. Strenger stellt sich hier die Aufgabe »eine Position jenseits der politischen Korrektheit zu skizzieren, die ein wirklich trennscharfe Debatte zwischen den verschiedenen Weltanschauungen ermöglicht und auch einen Dialog«. Sein Ziel in diesem Teil ist es, die Psychologie eines Weltbürgers zu entwerfen.

1. Der platonischen Höhle entkommen: hier geht es um die Schattenseiten und die Folgen der sog. politischen Korrektheit, d.h. dass Überzeugungen aller Couleur allein deshalb respektiert werden müssen, weil sie eine Autorität vertritt. Der Autor plädiert unter Zuhilfenahme philosophischer Betrachtungen (Höhlengleichnis) dafür, individuelle Wege zu beschreiten, Weltanschauungen – und dabei vor allem die eigenen – kritisch zu hinterfragen. Er nennt das »eine Verbindung von existentieller Tiefe und Aufklärung für einen konservativen Ansatz« – und meint, dass wir uns mit unseren Weltanschauungen und Prägungen intellektuell auseinandersetzen müssen. Ein Plädoyer für freiheitliche Bildung und Erziehung.

2. Religion und Wissenschaft. Zivilisierte Verachtung und epikureisches Gelächter. Warum schrecken die Menschen in einer globalisierten Welt davor zurück, Fragen der Religion bzw. Weltanschauung offen zu diskutieren? Wie können wir Überzeugungen respektieren, die wir für seicht, irrational oder unmoralisch halten? Wir können die Unterschiede bestenfalls tolerieren. Strenger entwirft seine Alternative: die zivilisierte Verachtung.

3. Ein Plädoyer für Weltbürgerschaft und eine Koalition offener Weltanschauungen. Die experimentelle existentielle Psychologie zeigt, dass Menschen ihre Überzeugungen nicht aufgeben, vor allem nicht, wenn sie von anders denkenden überzeugt werden sollen. Die Resultate sind oft destruktiv (Diktatur, jedweder Fundamentalismus). Wo gehen wir also hin? Es führt kein Weg daran vorbei, die Gräben zwischen Religionen, Ideologien, Naturwissenschaften mit Tolerierung und zivilisierter Verachtung zu überbrücken – die, wenn wir das nicht schaffen, zum Niedergang führen wird. Strenger entwickelt hierfür das Prinzip des Weltbürgers, der Verantwortung für Mensch und Planet übernimmt.

Diskussion

Die gesellschaftliche Leitidee, alles sei möglich und jedes Ziel erreichbar, führt zu der verbreiteten Angst, ein unbedeutendes, erfolgloses Leben zu führen. Carlo Strenger zeigt in diesem Buch auf einzigartige Weise, wie durch eine aktive Anerkennung des eigenen Selbst und durch eine ernsthafte intellektuelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Weltbild eine bedeutungsvolle Lebensführung gelingen kann. Er beschreibt, wie diejenigen Generationen, die in einer globalisierten Welt aufwachsen, weit mehr durch die zunehmend intensivere Beziehung zum Infotainment-Netzwerk und damit verbundener Kommerzialisierung als durch historische Traditionen beeinflusst werden. Die gesellschaftliche Leitidee des »just do it« suggeriere dem Menschen, alles sei möglich und jedes Ziel erreichbar. Da das aber nicht möglich ist, verbreite sich oft eine Angst davor, die eigenen Potentiale nicht genügend auszuschöpfen und unbedeutend und erfolglos zu sein. Dies Eingebunden-Sein in den globalen Bezugsrahmen erschwere es dem »Homo Globalis«, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln und führe ihn in die weitverbreitete Angst vor Bedeutungslosigkeit. Die Vorherrschaft einer kommerzialisierten Selbsthilfekultur der Selbstoptimierung verhindert eine intensive Beschäftigung mit grundlegenden existenziellen Fragen. Mögliche Antworten hierzu sind Thema dieses Buches.

Sein theoretisches und praxisbezogenes Modell entwickelt er auf der Grundlage einer kritischen Beleuchtung des globalen Kapitalismus anhand philosophischer, psychologischer, soziologischer und ökonomischer Theorien. Mithilfe dieser Theorien analysiert und kritisiert er auf einzigartige Weise die Entwicklung des »Homo Globalis«– er zeigt und führt detailliert aus, wie ein gutes, kreatives und bedeutungsvolles Leben gelingen kann, wenn der Mensch sich ernsthaft mit dem eigenen Weltbild auseinandersetzt. Dabei bezieht er Denken, Erkenntnisse und Lebensentwürfe vieler Denker mit ein, wie u.v.a. Platon (das Höhlengleichnis), Spinoza, Kant, Nietzsche, Jaspers, Heidegger, Arendt, Freud und Dawkins, sowie der Romantik und des Existentialismus. Anschaulich angereichert mit Beispielen aus seiner Praxis als (Existential-) Psychoanalytiker und Biographien uns bekannter Persönlichkeiten. Ausgehend von der Tatsache, dass »das Eingebettet-Sein in ein Netz menschlicher Beziehungen die tiefste Quelle von Sinn und Bedeutung und daher auch eines sinnerfüllten Lebens ist«, befasst sich Strenger mit der Frage, wie »der Homo Globalis Weltsichten entwickeln kann, die einer kritischen Prüfung standhalten und die jenes existentielle Verankert-Sein gewährleisten, das die Voraussetzung ist für ein reiches und sinnerfülltes Leben.«

Carlo Strenger erschließt dem Leser ein ungeheuer reiches, umfassend in der abendländischen Kultur verwurzeltes Gedankengebäude. Er stellt die überall spürbaren Probleme der Globalisierung, der digitalen Vernetzung, des ständigen Infotainments in einen Zusammenhang, und baut dabei gleichzeitig ein kraftvolles positives Bild der Möglichkeiten einer individuellen Entwicklung.

Die vielen lebendigen Beispiele, die Sprenger zur Analyse und differenzierten Darstellung hierfür heranzieht, erlauben vor allem im II und III Teil eine spannende, in hohem Maße informative Lektüre.

Fazit

Das Buch, überzeugend vor allem wegen Strengers großer Freiheit zu denken, ist lebendig, engagiert und verständlich geschrieben. Die Beschäftigung kann für jede persönliche Weltanschauung erhellend sein und zu Diskussionen für die Gestaltung einer globalen menschlichen Gesellschaft geradezu auffordern. Es ist daher sehr zu empfehlen.

Für die Rezensentin war dieses Buch darüber hinaus erhellend und bedeutsam, weil es in dem ungeheuer breiten Fundament unserer westlichen Kultur verankert ist.

Neben diesem Schatz finden sich einige lebenspraktische Gedanken, über die es sich lohnt, für die eigene Zukunft weiter zu denken:

• Aktive Selbstakzeptanz ist ein mühevoller Prozess, der Disziplin erfordert und die Fähigkeit, seelischen Schmerz auszuhalten.
• Das Projekt, Urheber des eigenen Lebens zu sein, gelingt nicht immer. Es verlangt von dem Menschen, eine bewusste Entscheidung zu fällen, gesetzte Überzeugungen neu zu überdenken und den gewählten Lebensstil zu verteidigen, auch wenn das alles in Widerspruch mit der eigenen Herkunftskultur bzw. den gesellschaftlichen Normen steht.
• Nur indem man seinen Lebensplan verwirklicht, findet man seine Freiheit. Nur so kann man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, sich als Weltbürger in die Geschicke der Welt einmischen und sie verstehen.

»Manchmal eröffnet die Akzeptanz dessen, was wir sind, die Möglichkeit zu werden, wer wir sein können; denn solange wir gegen das, was wir sind, wüten, ist Verwandlung einfach nicht möglich«.

Zitiervorschlag
Monika Nöcker-Ribaupierre. Rezension vom 08.07.2016 zu: Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2499-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/20448.php, Datum des Zugriffs 01.12.2016.

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