Rezension zu Internationale Psychoanalyse Band 10: Behandlungsperspektiven
Psychotherapeutenjournal 1/2016
Rezension von Dr. Elisabeth Imhorst
Psychologiestudenten und -ausbildungsteilnehmer hören regelmäßig,
dass die Psychoanalyse veraltet und nur noch von historischer
Bedeutung sei. Auch viele Journalisten beziehen sich in ihrer
Kritik der Psychoanalyse auf den wissenschaftlichen Stand von 1925
oder 1940, als es nur die Triebpsychologie und die Anfänge der
Ich-Psychologie gab. Wer wissen will, was heute in
psychoanalytischen Therapien passiert, wie das therapeutische
Geschehen konzipiert wird und welche theoretischen Debatten aktuell
geführt werden, wird in der Reihe »Internationale Psychoanalyse«
fündig – auch als bereits approbierter Kollege. Hier werden
ausgewählte Arbeiten des »International Journal of Psychoanalysis«,
der weltweit wichtigsten psychoanalytischen Zeitschrift, von Angela
Mauss-Hanke und ihrem Team aus niedergelassenen Kollegen
ausgewählt, übersetzt und jährlich neu herausgegeben. 2015 erschien
der 10. Band mit dem Schwerpunkt »Behandlungsperspektiven«.
Was zum Beispiel das in der zeitgenössischen Psychoanalyse so
zentrale Konzept der projektiven Identifizierung ausmacht, in
welcher Feinheit es verstanden, angewandt und immer wieder
überdacht wird, findet sich dort in der Arbeit »Taktik und
Empathie: Abwehr der projektiven Identifizierung« der britischen
Analytikerin Lesley Steyn. Wie in den meisten Artikeln wird hier an
ausführlichen Behandlungssequenzen das Ringen der Analytikerin um
einen Zugang zu der sehr entwertenden Patientin beschrieben, etwas,
das wir als Psychotherapeuten alle kennen und doch gern beiseite
schieben. Steyn beschreibt, wie schwer es ist, projektive
Identifizierungen anzunehmen, das heißt anzuerkennen und wirklich
für wahr zu halten, dass wir manchmal die »böse Mutter« sind, ganz
real, und dass es nicht nur die Patientin ist, die uns - quasi
fälschlich - so wahrnimmt! Es wird hier auch deutlich, was in der
heutigen Psychoanalyse die vielzitierte Arbeit in und mit der
Beziehung bedeutet: nämlich die Verwicklung des therapeutischen
Paares, die erst geschieht, dann (hoffentlich) vom Therapeuten
bemerkt und verstanden und schließlich für Deutungen genutzt werden
kann. Steyn zeigt, wie eine Deutungsform, die sogenannte
»analytikerzentrierte Deutung« (J. Steiner), die ein Versuch ist zu
beschreiben, wie die Patientin die Analytikerin erlebt (»Sie
erleben mich als ... und reagieren darauf mit ...«), von den Worten
her zutreffend sein kann, aber doch wirkungslos bleibt, wenn sie
nicht vom Herzen kommt.
Donald Campbell, ein britischer Analytiker, der lange in der
Portman-Klinik des National Health Service mit Sexualstraftätern
gearbeitet hat, beschreibt »Zweifel in der Analyse eines
Pädophilen« und bringt diese in Verbindung mit den Zweifeln, die
sexuell missbrauchte Kinder an der Realität dessen, was ihnen
geschehen ist, haben (müssen). Er beschreibt überzeugend, wie der
Patient diese Zweifel in den Analytiker projiziert, der dann
seinerseits ständig mit Zweifeln und schwer erträglichen
Verwirrungszuständen zu kämpfen hat. Angesichts dessen, dass es
psychoanalytisch wenig über die Behandlung von Pädophilen gibt, ist
das vielleicht die originellste Arbeit in diesem Band.
Ähnlich interessant ist, im Band 9 der Reihe mit dem
Schwerpunktthema »Moderne Pathologien«, die Arbeit von Alessandra
Lemma »Der Körper, den man hat, und der Körper, der man ist«. Lemma
zeigt auf, welche Funktion die transsexuelle Phantasie eines
Patienten, die als kreative Leistung und nicht nur als Störung
verstanden wird, für sein seelisches Gleichgewicht haben kann. Sie
tut dies aus einem objektbeziehungs-und bindungstheoretischen
Blickwinkel, verwendet also einen anderen theoretischen Filter, als
ihn etwa die triebtheoretisch orientierten Perversionstheorien
anbieten. Sie sieht dadurch etwas Neues - sowohl in acht Interviews
mit Transsexuellen als auch in der fünf Jahre dauernden
einstündigen analytischen Psychotherapie mit einer
Mann-zu-Frau-Transsexuellen. Damit der Körper, den man hat, zu dem
wird, der man ist, braucht es ein einfühlsames, resonanzfähiges
Objekt, das das Anderssein des Kindes/des erwachsenen Patienten,
das/der sich in seinem Körper nicht richtig fühlt, sehen, aufnehmen
und anerkennen kann. Als ihre Patientin einmal in einem Kleidungs-
und Frisurstil, wie er typisch für die Analytikerin war, in die
Stunde kam, fühlte diese sich lächerlich gemacht und mit einem
entwerteten Bild von sich konfrontiert, das sie nur schwer annehmen
konnte: »So sehe ich doch nicht aus!« Sie realisierte schließlich,
dass die Patientin die Rollen verkehrt hatte und die Analytikerin
spüren ließ, wie es war, von ihr nicht zutreffend in ihrer
körperlichen Verfassung gespiegelt worden zu sein.
Neben den Arbeiten zum Schwerpunktthema, die aus Platzmangel gar
nicht alle gewürdigt werden konnten, enthalten alle Bände der Reihe
interessante Autoren- und Werkporträts, hier über J.-B. Pontalis,
einen der beiden Autoren des berühmten »Vokabular der
Psychoanalyse«, sowie tiefsinnige Filmessays wie den von Judy
Gammelgaard, die hier eine »psychoanalytische Lesart« für Lars von
Triers Filme »Breaking the waves« und »Antichrist« entfaltet, und
die Arbeit von Judith Edwards »Im Sand der Zeit«, in der sie anhand
des chilenischen Dokumentarmfilms »Nostalgia de la luz« über Trauer
und Melancholie nachdenkt.
Das alles in Deutsch zu lesen, erleichtert das Verstehen enorm. Und
das anschauliche Fallmaterial macht es auch Lesern, die mit der
psychoanalytischen Begriffssprache nicht vertraut sind, leichter zu
verstehen, was gemeint ist. Das Nachdenken über die eigene Arbeit
und die als unausweichlich verstandenen Beziehungsverwicklungen
sind eine extreme Herausforderung für jeden Psychotherapeuten. In
dieser Buchreihe lassen sich beeindruckende und hilfreiche Gedanken
dazu finden.