Rezension zu Trauma und schwere Störung
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Rezension von Helmwart Hierdeis
Thema
In ihrer Einleitung (7–11) verweisen Margret Dörr und Johannes
Gstach auf die in die Anfänge der Psychoanalytischen Pädagogik
zurückreichende Tradition, sich besonders Kindern und Jugendlichen
mit Verhaltensabweichungen und Beziehungsdefiziten zuzuwenden und
der überkommenen Auffassung von der Anlagebedingtheit der Symptome
eine Theorie der milieubedingten Verursachung entgegenzusetzen. Da
die heutige Psychoanalytische Pädagogik (wie die Pädagogik
insgesamt) ihre Aufmerksamkeit auf den gesamten Lebenslauf
ausrichtet, haben sie für die nachfolgenden Beiträge die
Orientierung an folgenden Leitfragen vorgegeben: »Mit welchen
strukturellen und kulturellen […] sowie besonderen methodischen
Herausforderungen sehen sich psychoanalytisch orientierte
Pädagoginnen und Pädagogen in ihrer professionellen Praxis
konfrontiert, wenn sie sich – in unterschiedlichen Settings – der
Aufgabe stellen, psychisch erkrankte oder von Erkrankung bedrohte
Menschen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Alte, Familien) bei der
(Rück)Gewinnung ihrer inneren und äußeren Austauschfähigkeit […] zu
unterstützen? Und über welche gelingenden, aber auch misslingenden
Praxiserfahrungen können Pädagoginnen und Pädagogen bei ihrer
Verwendung psychoanalytisch-pädagogischer Erkenntnisse in
differenten pädagogischen Kontexten mit psychisch erkrankten
Menschen berichten?« (S. 9)
Aufbau
Das »Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 23« praktiziert, wie
in der Reihe üblich, eine Dreiteilung der Gliederung:
»Themenschwerpunkt« (hier: »Trauma und schwere Störung«)
»Freie Beiträge« und
»Rezensionen«.
Inhalt
Im einleitenden Beitrag »Autistisch, hyperaktiv, traumatisiert:
Welchen Nutzen haben Diagnosen für den pädagogischen Umgang mit
Kindern?« von Judith Barth-Richtarz und Barbara Neudecker (11-27)
bietet der Fall eines Fünfjährigen mit gestörter Affektregulierung
den Autorinnen die Gelegenheit, die standardisierten Diagnosen nach
ICD bzw. DSM in mehrfacher Hinsicht zu problematisieren: weil sie
bei der Suche nach Ursachen das Anlage-Umwelt-Problem nicht lösen,
weil sie reduktionistisch sind und die Wahrnehmung des Kindes durch
Therapeuten/Pädagogen verengen, und weil sie zu dessen
Stigmatisierung beitragen können. Sie taugen daher allenfalls als
Arbeitshypothesen. Diese Funktion erfüllen sie umso besser, je
länger die Interaktionsprozesse zwischen dem Kind und der
untersuchenden Person sind. Aber auch dann sind noch längst nicht
alle Fragen beantwortet.
In »Die Angst der Helfer vor der Psychose. Über die psychotische
Angst und ihre Auswirkungen auf die Zusammenarbeit von
Professionisten« (28–44) berichtet Renate Doppel über die
Schwierigkeiten von Betreuungsteams zweier Familien mit jeweils
einem psychotischen Elternteil. Die Beobachtungen stammen zwar aus
unterschiedlichen Milieus (Akademiker – Randständige), aber in
beiden Fällen versuchen die Kranken, ihren Vernichtungsängsten mit
abgeschotteten Realitätskonstruktionen entgegenzutreten und dabei
nicht nur ihre Familien, sondern auch die Helfer den eigenen
Wirklichkeitswahrnehmungen zu unterwerfen. Die Autorin sieht eine
erfolgreiche Betreuung nur als möglich an, wenn sich die
Professionisten durch ein Team gehalten fühlen und die Kranken über
das Procedere mitbestimmen lassen, wenn sie selbst über die
Eigenheiten der Situation sachgerecht aufgeklärt werden und wenn
sie die Möglichkeit erhalten, ihre Gegenübertragungen in
Gruppensupervisionen zu bearbeiten.
»Herr A. oder Die Ohnmacht (aus)halten« lautet der Titel des
Beitrags von Tjark Kunstreich. Er protokolliert darin die
achtjährige Begleitung eines Migranten aus dem Mittleren Osten, der
seine psychischen Einschränkungen (Diagnose: Schizophrenie) nicht
annehmen kann und dem es Status und psychische Verfassung lange
Zeit unmöglich machen, sich zu integrieren. Gegen Ende des
Prozesses, in dem auch der Betreuer seine Grenzen erfährt, kann der
Klient die Abspaltung seiner Krankheit überwinden und die Nähe
anderer aushalten. In einer ausführlichen Diskussion reflektiert
der Autor seine eigenen Ängste, Kränkungen, Aggressionen und
Unsicherheiten. Er bekennt sich zur »konservativen Seite der
Pädagogik« (Beharren auf Beziehungen, offener Umgang mit
Abhängigkeit und Versorgung) und interpretiert die bürokratischen
Verfahren des Wohlfahrtsstaats als dessen »Abwehrformen«.
Sonja Heck widmet sich dem Thema »Vom Anspruch der Inklusion und
dem Wunsch nach Abgrenzung. Menschen mit geistiger Behinderung und
Verhaltensauffälligkeiten« (60–75). Sie konfrontiert die
autonomiegeprägten Idealvorstellungen von »Inklusion« mit der
Realität eines Begleitprozesses, in dessen Verlauf ein geistig
behinderter junger Mann aus der engen Beziehung zu seiner Mutter
gelöst und in einem Wohnprojekt untergebracht werden soll. Die
aggressiven und sexuellen Impulse des Klienten lösen bei den
Fachkräften Abwehr und bei der Autorin selbst Ängste und
Fluchttendenzen aus, während die Mutter zwischen
Entlastungsbedürfnissen und Beziehungswünschen schwankt. Heck
registriert Defizite in der institutionellen Stützung von Mutter
und Sohn einerseits und der Fachkräfte andererseits. Ihre
persönliche Situationsbewältigung führt sie auf professionelle
Hilfen bei der Wahrnehmung und Bearbeitung eigener Widerstände
zurück.
»Manna! Oder doch wieder nur Krümel vom Tisch der Reichen?«
überschreibt Barbara Neudecker den Versuch einer disziplinären
Positionierung der Traumapädagogik (76–90). Ihrer Beobachtung nach
ist sie im erziehungswissenschaftlichen Diskurs noch kaum zu
erkennen, obwohl ihr Forschungsgegenstand (pathologische
Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen als Erschwernisse
pädagogischer Situationen) zunehmend Aufmerksamkeit fordert. Von
der Psychoanalytischen Pädagogik profitieren könne die
Traumapädagogik durch die Einbeziehung bestimmter
Theorie-Praxis-Partikel wie »Szenisches Verstehen« und »Fördernder
Dialog«, und im Hinblick auf die Bestimmung ihres
wissenschaftstheoretischen Orts seien die Auseinandersetzungen der
Psychoanalytischen Pädagogik mit der Allgemeinen Pädagogik
außerordentlich lehrreich.
In seinem Beitrag »Ich dachte, ich hab einen Säugling auf dem
Schoß« stellt David Zimmermann ein quantitativ-qualitatives
Forschungsprojekt zur pädagogischen Arbeit mit traumatisierten
Kindern vor, in dessen Rahmen 1. typische Auswirkungen von Traumata
auf die schulische Situation, 2. die Reinszenierung traumatischer
Erfahrungs- und Erlebnismuster in der pädagogischen Interaktion und
3. die Steigerung subjektiv empfundener Handlungsfähigkeit von
Fachkräften durch traumapädagogische Fortbildungsveranstaltungen
erforscht wurden. Die in der Untersuchung gewonnenen Einsichten
(z.B. über den Handlungsdruck in der Situation, über die Schaffung
von »guten Orten« für die Traumatisierten und über die Wahrnehmung
der Rolle als »Hilfs-Ich« durch die Fachkräfte) können, so der
Autor, nur dann in Handlungsoptionen umgesetzt werden, wenn die
personelle Situation angemessen und eine haltende Reflexion im Team
möglich ist.
Mit dem in der Tradition Freuds (nicht aber bei Alfred Adler) lange
vernachlässigten Problem der »Geschwisterkonkurrenz« befasst sich
Tilmann Kreuzer (111–126). Unter dem Titel »Wenn Geschwister um die
Wette laufen« diskutiert er, gestützt auf die aktuelle
Geschwisterforschung und auf zahlreiche, im Rahmen eines
Forschungsprojekts gesammelte Selbstzeugnisse, die Funktion von
Geschwistern als Identifikations-, Liebes- und Abgrenzungsobjekte,
als Vertraute und Helfer. Wichtigstes Ergebnis: Die schon im
Normalfall spannungsreichen Beziehungen sind im Fall behinderter
Geschwister noch einmal speziellen Belastungen ausgesetzt, weil
Kinder, die sich zurückgesetzt fühlen,
Aufmerksamkeitsverschiebungen und den »Verlust von Privilegien« nur
schwer verarbeiten – vor allem wenn sie Sorge haben, die Familie
könne an der Situation zerbrechen.
Im ersten der beiden »Freien Beiträge« würdigt Marc Willmann die
»Bedeutung von Emotionen für das Gelingen und Misslingen
schulischer Lernprozesse« (127–142). Er wägt dabei »Trainieren« und
»Verstehen« als »pädagogische Grundpositionen in der Erziehung
›schwieriger Kinder‹« gegeneinander ab und plädiert für eine
psychoanalytisch-pädagogische Beziehungsgestaltung.
Im zweiten erinnert Reinhart Wolff unter dem Titel
»Psychoanalytisch denken und professionell helfen« (143–157) an den
2013 verstorbenen Pädagogen Burkhard Müller und hebt dabei dessen
Verdienste um die Theorie der Psychoanalytischen Pädagogik und das
»Professionsmodell Sozialer Arbeit« hervor.
Den Band runden vier ausführliche Rezensionen ab:
Florian Jacobs über Manfred Gerspach, Anne Eggert-Schmid Noerr,
Tilo Naumann, Lisa Niederreiter (Hrsg.), Psychoanalyse lehren und
lernen an der Hochschule. Theorie, Selbstreflexion, Praxis.
Kohlhammer: Stuttgart 2014;
Achim Würker über Hans Hopf: Die Psychoanalyse des Jungen.
Stuttgart: Klett-Cotta 2014;
Annelinde Eggert-Schmid Noerr über Vera King, Burkhard Müller
(Hrsg.), Lebensgeschichten junger Frauen und Männer mit
Migrationshintergrund in Deutschland und Frankreich.
Interkulturelle Analysen eines deutsch-französischen
Jugendforschungsprojekts. Münster, New York: Waxmann 2013;
Johannes Gstach über Isca Salzberger-Wittenberg: Endings and
Beginnings. London: Karnac 2013.
Diskussion
Pädagogische Arbeit mit traumatisierten und psychisch
beeinträchtigten Menschen als Theorie und Praxis der
Psychoanalytischen Pädagogik oder doch einer eigenen Disziplin
»Traumapädagogik«? Margret Dörr und Johannes Gstach als
Verantwortliche für den vorliegenden Band sprechen die Alternative
nicht direkt an, aber sie hat mich als Leser den ganzen
»Schwerpunkt« hindurch begleitet. Das liegt nicht nur am
Generalthema, sondern vor allem am Versuch einer Klärung des
Verhältnisses durch Barbara Neudecker. Er gelingt der Autorin in
einer klug abwägenden Weise, auch in ihrer Kritik an der
»Vergesslichkeit« der in den vergangenen 25 Jahren sich
etablierenden »Traumapädagogik« hinsichtlich ihrer Ursprünge in
Psychoanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik. Für mich hätte der
Beitrag gut an den Anfang gepasst, weil er damit die Lesart für die
nachfolgenden vorgegeben hätte. Aber möglicherweise wollten Dörr
und Gstach die Frage an dieser Stelle auch offen halten. Wie mit
Barbara Neudecker haben sie auch bei der Auswahl der übrigen
Autorinnen und Autoren eine glückliche Hand bewiesen. Denn
gleichgültig, welches der weit gestreuten Praxisfelder zur Sprache
kommt: sie vermitteln in ihren theorienahen und praxisgesättigten
Darstellungen einen Eindruck davon, was eine psychoanalytisch
orientierte Pädagogik in pädagogischen »Settings« an Abklärung,
Stützung und Förderung leisten kann. Sie wollen allesamt auch das
Bewusstsein dafür schärfen, dass die professionellen Pädagogen noch
wirkungsvoller agieren könnten, wenn die Kooperation der
Institutionen, die sich mit traumatisierten und psychisch
beeinträchtigten Menschen befassen, besser funktionieren würde und
das Angebot an Supervision zuverlässiger wäre.
Mein positives Urteil über die Qualität der Beiträge gilt auch für
Kreuzers fundierten Aufsatz über Geschwisterbeziehungen. Nur wäre
er für mein Verständnis sinnvoller in der Sparte »Freie Beiträge«
aufgehoben gewesen. Aus den dokumentierten Erinnerungen der
Geschwister, die sich zu kurz gekommen fühlten und fühlen, lässt
sich jedenfalls keine Traumatisierung im klinischen Sinne
herauslesen.
Als Desiderat ist mir nach der Lektüre des Bandes aufgefallen: Die
Psychoanalytische Pädagogik sollte ihre mehr als hundertjährige
Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen detailliert
nachzeichnen und stärker als bisher verdeutlichen, was sie, häufig
im Verbund mit der Kinder- und Jugendpsychotherapie, besonders auf
den Gebieten der Sozialpädagogik und Sozialarbeit an
»traumapädagogischer« (wenn das Attribut überhaupt verwendet werden
soll) Arbeit leistet.
Fazit
Margret Dörr und Johannes Gstach ist ein Buch zu danken, das zu
einer intensiven Rezeption und Diskussion einlädt. Alle Beiträge
sind in ihrer Theorie-Praxis-Verzahnung vorbildlich und in
sprachlicher Hinsicht leserfreundlich. Was das Selbstverständnis
der Psychoanalytischen Pädagogik angeht, so könnte insbesondere
Barbara Neudeckers Auseinandersetzung mit dem Konzept der
»Traumapädagogik« einen historisch-systematischen Abklärungsprozess
einleiten. Es ist das Verdienst aller Beteiligten, dass Band 23
(2015) des »Jahrbuchs für Psychoanalytische Pädagogik« die Reihe
anspruchsvoll fortsetzt.
Zitiervorschlag
Helmwart Hierdeis. Rezension vom 28.06.2016 zu: Margret Dörr,
Johannes Gstach (Hrsg.): Trauma und schwere Störung. Pädagogische
Arbeit mit psychiatrisch diagnostizierten Kindern und Erwachsenen.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2478-7. Jahrbuch
für Psychoanalytische Pädagogik 23. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/19866.php, Datum des
Zugriffs 01.12.2016.
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