Rezension zu Orakel, Träume, Transzendenz

Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie 38(2015)3

Rezension von Claus Deimel

Das Buch ist allen Forschenden, die sich selbst als »Wanderer zwischen den Welten« verstehen, die in der eigenen beruflichen Identität narzisstisch verunsichert wurden und weiter kommen wollen als bloß ein mechanistisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu repetieren, unbedingt zu empfehlen. Es gibt nicht viele Studien, denen schon im Duktus des Textes anzumerken ist, dass die Begegnung mit einem scheinbar fremden System von Psychotherapien auch zur Erschütterung der eigenen, angelernten Lehrmeinungen führen muss und erst mit diesem Wissen eine Erweiterung der etablierten westlichen Psychotherapie möglich sein kann. Der Preis hierfür ist die Erschütterung der Feldforscherin in einem unbekannten Raum, der es zugleich gegeben ist, diese Erschütterung nachvollziehbar verständlich darzustellen und zukünftige Möglichkeiten aufzuzeigen. Steffi Zacharias zeichnet eine Eigenschaft aus: sie ist bescheiden und deskriptiv und verheddert sich nicht im akademischen Diskurs über Psychotherapie in einer ohnehin kolonial gebliebenen Situation. Von Integration oder wenigstens Annäherung an die traditionelle mexikanische Medizin (TMM) kann auch heute in Mexiko, trotz unendlich vieler Programme und supertranskultureller Bekundungen, nicht die Rede sein. Es gibt heute ohne Zweifel mehr Geld im System, von einem Prozess annähernder Umsetzung bewährter indigener Therapiemethoden innerhalb der in Mexiko machtvoll sich behauptenden westlichen Schulmedizin ist man indes weiter entfernt als man dies als Idealist gedacht hätte. Was die Heilerinnen und Heiler z.B. in Oaxaca seit Jahrhunderten praktizieren, ist letztlich für die Medizinmacht Mexikos im Duktus einer sich als politisch korrekt feiernden interkulturellen Verständigkeit trotzdem nicht viel mehr als primitiver Hokuspokus geblieben. Die Autorin zeigt dies mit sanfter Stimme auf, in einem gut lesbaren Buch, das sich feinsinnig durch die schwer verständlichen Methoden der Heilungen in Oaxaca, Mexiko, bewegt und sicherlich zu den klassischen Werken über die traditionelle mexikanische Medizin gehören wird.

Insgesamt drei Jahre, zwischen 1998 und 2000, hat die Autorin, die in Dresden eine Psychotherapiepraxis betreibt, in der Region »Matzateka« und im städtischen Oaxaca mit Heilerinnen und Heilern gesprochen, ihre Riten beobachtet und beschrieben und Vergleiche zu westlichen Praktiken angestellt. Die relativ späte Veröffentlichung ihrer Feldforschungen in der vorliegenden Form (eine unveröffentlichte Dissertation ging dem 2005 in Leipzig voraus) ist auf einen langen Reflexionsprozess zurückzuführen, der dem Buch auch anzumerken ist. Zacharias ist dem erheblichen kulturellen Projektionsdruck seitens der Heilerinnen und Heiler nicht ausgewichen, sondern hat die grundsätzliche Irritation der eigenen professionellen und kulturellen Identität angenommen, wobei sie von »bewältigen« spricht (S. 73). Es ist bedauerlich, dass ihr so ein Begriff ungefragt unterläuft, denn was sie beschreibt, ist der Versuch einer Orientierung in der durch diese Kontakte entstandenen großen Verunsicherung ihrer erlernten Praxis. Natürlich gerät diese ins Wanken, wie Forscher bei solchen Begegnungen über lange Zeit hinweg ausnahmslos immer ins Wanken geraten und diesen Effekt dann zu »bewältigen« versuchen in einem Akt akademisch begründeter sprachlicher Gewalt und Anpassung an die normierte Verständigungssprache zwischen Medizinern und Medizinfunktionären. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, den Zusammenhang zwischen Sprache und Gewalt zu analysieren, doch reicht es, die Autorin selbst zu hören: Zwischen den Worten der Heilerin Carmela, die mit einfachen Worten ihr Selbst- und Welterleben skizziert und meinen eigenen, schreibt die Autorin, liegen tatsächlich Welten (S.74). Mit anderen Worten: Wir werden uns unter den bestehenden Umständen nie verstehen, eine Integration wird immer nur ein theoretischer Beitrag bleiben, ein bloßer öffentlicher Aushang, aber wir könnten uns respektieren. Darauf läuft die vorliegende detaillierte Untersuchung auch hinaus.

Sicherlich gehört es zu den erwarteten Riten der hiesigen akademischen Gesellschaft und der Weltgesundheitsbehörde, dass Steffi Zacharias nun auch nachweist und umfänglich widerlegt, dass es sich bei der vorgefundenen psychotherapeutischen Wirksamkeit der traditionellen mexikanischen Medizin eben nicht um »Scharlatanerie« handelt. So etwas gegenüber den Heilerinnen und Heilern zu äußern, die ein um hunderte Jahre älteres System praktizieren, als es die westliche Psychotherapieforschung und Psychologie vorzuweisen hat, wäre im mexikanisch-indigenen Kontext mit Sicherheit peinlich. Hier bei uns nennt sich dieser Nachweis Wissenschaftlichkeit, die aber nichts daran ändern kann, dass die Praxiserfolge mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erklärbar sind, sondern hierzu ein spiritueller Zugang erforderlich ist, der mit dem derzeitigen offiziellen System nicht vereinbar ist. Doch sind Alter und Tradition der TMM allein kein ausreichender Beleg für ein lebendiges Medizinsystem zwischen Kontinuität und beständigem Wandel. Nachweisbar ist aber die seit Zeiten ungebrochene Nachfrage seitens der Kranken vor Ort, beschreibbar sind die komplexen Riten der Heilerinnen und Heiler, vernehmbar sind ihre eigenen Erklärungen, wie sie z.B. Methoden aus beobachteten Handlungen westlicher Mediziner in ihr eigenes System übernehmen und damit ihren Teil einer Integration erfüllen. Die Autorin beschreibt auch Letzteres. Umgekehrt, also im offiziellen mexikanischen Gesundheitssystem, findet eine solche Integration selbstverständlich nicht statt und hat nie stattgefunden. Denn natürlich – das wissen viele in Mexiko und lassen sich von dem politischen Geschnurre über »Interkulturalität« nicht täuschen – ist die Kolonialzeit für die indianische Bevölkerung nicht beendet

Die Krankheitskonzeptionen für psychische Dysregulation arbeiten vor allem mit einer Seele-Geist-Dualität des Psychischen sowohl bei individuellen Erkrankungen, wie beispielsweise susto (Geistverlust) oder agresión und envidia (Aggression und Neidgefühle), als auch in der Gruppe psychischer Erkrankungen, die durch die Pathogenität des sozialen Umfeldes erzeugt werden können. Die Wiedergabe von Träumen und ihre Zuhilfenahme bei der Diagnose durch die Heilerinnen und Heiler, auch die Diagnosestellung mithilfe veränderter Bewusstseinszustände, Visionen im Wachzustand, induzierte Trance und ritualisierte Anwendung psychoaktiver Substanzen in Form der hongos alucinantes (Psylocibe sp.) sind wesentliche Bereiche, die im vorliegenden Werk beschrieben und diskutiert werden. Hinzu kommen Behandlungsrituale zur Reinigung, als Schutz- und Präventivrituale und Rituale zur Reintegration, die ausführlich, im Wesentlichen jedoch hier nur in deutscher Übersetzung, in ihren Verläufen und den Selbstdarstellungen der Akteure beschrieben werden. Vergleichende Beobachtungen zum psychodiagnostischen Repertoire der TMM und der westlichen Psychotherapie kehren durchgängig in allen Kapiteln wieder und markieren das eigentliche Interesse der Autorin; sie möchte lernen, sie möchte nachholen, was die westliche Psychotherapie bis heute nur in Ansätzen erreicht hat: eine wirkliche Annäherung an traditionelle Medizinmethoden ohne einem »mechanistischen Therapie-Export« zu erliegen. Auf diese Frage geht sie in ihrem Schlusskapitel noch einmal ausführlich ein.

Die Verdrängung religiöser-spiritueller Erfahrungen prägt die Psychoanalyse bis heute, Freud hatte das ganz abgelehnt und C.G. Jungs Interesse an den Vorläufern der westlichen Psychotherapie hielt man eher für einen Ausflug ins Esoterische. Unser »positivistisch-mechanistisches Wissenschaftsverständnis« (S. 309) lässt nicht zu, indigene Psychotherapie als eine Heilkunst zu erkennen, und das, was von ihr vermeintlich verstanden worden ist, wird auf »Psycho-Technik« reduziert. Was sich zum Beispiel in Deutschland ereigne, sei »eine weitere Schwerpunktverschiebung in Richtung auf den Sekundärprozess« und eine weitere Zurückdrängung der möglichen therapeutischen Nutzung des Primärprozesses »und damit des Unbewussten innerhalb der Psychotherapie« (ebd.). Die Autorin merkt an, dass ein solcher Verdrängungsprozess in der TMM als susto – als ›Verlust des Geistes‹ – bezeichnet werden würde und fährt fort, unzweifelhaft sei der voranschreitende Desintegrationsprozess, »in welchem wichtige Aspekte des Psychischen und der dazugehörigen Interventionsstrategien aus der Praxis der westlichen Psychotherapie immer weiter zu verschwinden drohen« (ebd.). Zugleich ist, weil sich nun einmal Grundbedürfnisse durchsetzen, vor dem Hintergrund einer wachsenden Pluralität spirituell-religiöser Lebensform ein enorm wachsendes Interesse am Thema »Spiritualität« in der westlichen Psychotherapie erkennbar.

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