Rezension zu Freud bei der Arbeit
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Heft 57, 1/2016
Rezension von Andrea Huppke
Wer die hohe Kunst der psychoanalytischen
Theoriegeschichtsschreibung erlernen möchte, dem ist mit dieser
Aufsatzsammlung von Ulrike May ein unverzichtbares Vorbild an die
Hand gegeben. Es wurde höchste Zeit, dass eine Auswahl ihrer in
verschiedenen Zeitschriften, vor allem der »Psyche« und
»Luzifer-Amor«, veröffentlichten Texte in einem Buch
zusammengefasst wurden. Ulrike May ist eine der profiliertesten
Psychoanalysehistorikerinnen, auch auf internationalem Parkett. Ihr
Arbeitsschwerpunkt lag zunächst auf Freuds früher klinischer
Theorie, die das Thema ihrer Dissertationsveröffentlichung wurde.
Neben Arbeiten zu Edith Jacobson (2005), Isidor Sadger (enthalten
im besprochenen Band), Ferenczi und Mahler (2003) und der
eingehenden Auswertung von Freuds Patientenkalendern (ebenfalls im
besprochenen Band) dreht sich ihre Arbeit seit vielen Jahren um die
Unterschiede zwischen den Theorien von Freud und Karl Abraham.
May geht in intensiver Detailarbeit, mit großer Sachkenntnis und
von verschiedenen Seiten her in mehreren Texten den differenten
Auffassungen von Freud und Abraham nach, die ihrer Erfahrung nach ‒
und hier geht sie über eine reine Geschichtsschreibung hinaus ‒ zu
einer verzerrten Sicht auf Freuds Theorien geführt haben. An dieser
Stelle wird eines der Anliegen von Mays Arbeit deutlich: Sie will
jenseits von Meinungen und Idealisierungen nachweisen, dass wir
»Freud heute mit Abrahams Augen lesen, ohne dass es uns bewusst
wäre«, und dass das zu einer Strenge und einem Moralisieren in der
psychoanalytischen Praxis geführt hat, die ursprünglich darin nicht
enthalten sind. Während sie dies Stück für Stück, nach und nach ‒
in ihrer Einleitung fragt sie sich selbst angesichts ihres
Mammutprojekts: »How to eat an elephant?« und antwortet: »Bit by
bit!« ‒ aufzeigt, führt sie den Leser durch das Labyrinth der
Freud‘schen Theoriebildung. Sie macht uns auf die drei Etappen der
Triebtheorie aufmerksam und begründet sie aus Freuds
Ideenentwicklung; die »Vision« Freuds lehrt sie uns von seinen
»Projekten« zu unterscheiden; sie erklärt uns die mäandernde
Entstehungsgeschichte der Freud‘schen Texte; schildert uns, auf
welche Weise Freud sich von welchem seiner Schüler hat
beeinflussen lassen und aus welchen Gründen und an welchen Stellen
er Grenzgebiete der Psychoanalyse einbezogen hat. Wenn wir manchmal
beim Lesen von Freudtexten still verzweifelten, weil sie sich
untereinander widersprechen oder etwas behaupten, das wir nicht aus
dem Vorangegangenen nachvollziehen können, dann finden wir mit
Hilfe der Reiseleiterin Ulrike May schließlich zurück zu einem
Vertrauen in Freuds Lehre. Ich persönlich betrachte dies als ein
großes Geschenk! Der Schlachtruf Lacans »Zurück zu Freud!« ist, so
meine ich, erst wirklich mit Mays Ausarbeitungen realisiert
worden.
Besonders klar wird dies in ihrer ausführlichen Arbeit über die
Entstehung von »Jenseits des Lustprinzips«, veröffentlicht in
»Luzifer-Amor«, H. 51. Eine Art Einführung in diese Arbeit und
zugleich eine Zusammenfassung vieler ihrer Entdeckungen auf dem
steinigen Weg bis zum »Jenseits« und durch es hindurch stellt der
einzige bisher unveröffentlichte Text des Bandes dar, »Der
Todestrieb im Kontext von Freuds Erkenntnisinteressen«.
Exemplarisch für Mays Gabe, aus dürren Daten weitreichende und
tiefgehende Erkenntnisse über Freuds Praxis herauszuholen, sind
ihre Texte zu Freuds Patientenkalendern, die nebenbei die quälende
Diskussion über die Frage der Stundenfrequenz gehörig
erschüttern. Hier wie in allen anderen Arbeiten beeindruckt die
Gründlichkeit, Genauigkeit und der Sachverstand. In allen ihren
Projekten scheint auf eine unaufdringliche Weise Mays eigene Vision
einer (in ihren Worten) Entmystifizierung des Prozesses der
Theoriebildung hindurch und ermutigt uns zum Weiterdenken. Ich
wünsche diesem Buch viele Auflagen und viele Übersetzungen in
andere Sprachen![1]
[1] Nachweise für die oben erwähnten Arbeiten von Ulrike May
finden sich in ihrem Publikationsverzeichnis auf der Homepage
www.may-schroeter.de.