Rezension zu Sexualität und Geschlecht

www.socialnet.de

Rezension von Prof. Dr. Daphne Hahn

Thema

Das Buch ist eine Festschrift zum 65. Geburtstag von Hertha Richter-Appelt sowie zu ihrer Verabschiedung als stellvertretende Direktorin des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Es führt Beiträge zum Thema Sexualität und Geschlecht aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Entsprechend des sexualwissenschaftlich-psychotherapeutisch-psychologischen Hintergrundes der Jubilarin will das Buch verschiedene Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht verbinden. Sein Fokus liegt auf sexualwissenschaftlichen und psychosozialen Themen, worunter z. B. soziologische und psychoanalytische subsumiert werden. Kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Beiträge werden als weiterführende genannt.

Herausgeber_innen und Autor_innen

Die Herausgeber_innen ebenso wie die Autor_innen sind Menschen, die mit Hertha Richter-Appelt in unterschiedlichen beruflichen wie privaten Beziehungen verbunden sind, ehemalige Mitarbeiter_innen, Kooperationspartner_innen oder Kolleg_innen.

Entstehungshintergrund

Das Buch erscheint als 99. Band der Beiträge für Sexualforschung im Psychosozialverlag.

Aufbau

Das Buch ist in sechs thematisch voneinander abgegrenzte Abschnitte untergliedert und enthält 24 Beiträge unterschiedlicher Autor_innen.

Es beginnt mit einem ersten Abschnitt (59 Seiten), der mit »Geschlecht und Sexualität in Gesellschaft und Politik« überschrieben ist.

Diesem folgen die Abschnitte
»Psychoanalytische Blicke auf Geschlechtlichkeit« (35 Seiten),
»Geschlechtervielfalt: Menschen, Medizin und Lebenswelten« (64 Seiten),
»Sexualität und Geschlecht in der Psychotherapie« (39 Seiten),
»Partnerschaft, Sexualität und Liebe« (31 Seiten.)
Der letzte Abschnitt des Buches enthält persönliche Festschriftbeiträge (15 Seiten).

Am Ende finden sich Angaben zu den Autor_innen.

Zum ersten Abschnitt

Die fünf Beiträge im ersten Abschnitt des Buches unter gesellschaftlichem und politischem Blickwinkel umfassen sehr heterogene Texte.

Für den Einstieg in das Buch wurde ein Beitrag der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun mit dem Titel »Religion und Kultur« gewählt, in dem die Autorin darstellt, wie sich Geschlechterordnungen im Kontext von Religionen unterschiedlich entwickeln. Diskutiert werden drei für Geschlechterordnungen als prägend erachtete Faktoren: 1. Das Verhältnis von Kollektiv- und Gemeinschaftskörper, 2. das Verhältnis von Gott und Mensch und 3. die medialen Bedingungen, unter denen Religionen entstanden sind. Christina von Braun nimmt dafür einen Vergleich zwischen der jüdischen und christlichen Geschlechterordnung vor. Einen Schwerpunkt legt die Autorin auf die medialen Rahmenbedingungen, insofern diese die Gemeinschaftsbildung ebenso bestimmten wie die kulturelle Codierung der individuellen Körper, die wiederum die Gemeinschaft widerspiegeln. Erläutert wird ihre These anhand der Schriftsysteme der heiligen Schriften, dem Verhältnis zum Bild sowie den damit begründbaren Vorstellungen von Sexualität und Ehe.

Über die Transformationen von Sexual-, Beziehungs und Geschlechterformen in den vergangenen Jahrzehnten schreibt der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch. Kritisch wird in diesem Beitrag auf das Zusammenspiel zwischen neuen Freiheiten und Zwängen in Bezug auf Sexualität eingegangen, die aktuellen medialen Inszenierungen des Sexuellen und auch dessen marktökonomische Verwertung.

Die Juristin Konstanze Plett greift in ihrem Beitrag die Frage auf, wieso sich die dichotome Struktur von Geschlecht sowie die damit einhergehende Zuordnung neugeborener Kinder so lange halten konnte. Sie zeichnet Entwicklungen seit den 1950er Jahren im Sport nach, in denen Unsicherheiten über das Geschlecht von Sportlerinnen thematisiert wurde, später aus der Diskussion verschwanden und vom Thema Doping im Sport bzw. Transsexualität abgelöst wurden. Die beiden letzten Beiträge dieses ersten Abschnittes wurden von Medizinern verfasst.

Der von Friedemann Pfäfflin geschriebene benennt einige Marksteine der »Transgender Politics« und bringt die hormonell-operativen Möglichkeiten in einen Zusammenhang mit rechtlichen Codierungen. Dieser Beitrag geht auf historische Abläufe ebenso wie auf begriffliche Veränderungen ein.

Der Abschnitt endet mit einem Überblick von Uwe Koch über die Verteilung von männlichen und weiblichen Studierenden auf das Medizinstudium bzw. deren Karrierechancen.

Zum zweiten Abschnitt

Der zweite Abschnitt, der sich psychoanalytischen Blicken auf Geschlechtlichkeit widmet, enthält drei Beiträge.

Ilka Quindeau rekonstruiert die Bedeutung und Funktion des Ödipuskomplexes bei Freud vor dem Hintergrund neuer Familienformen und diskutiert als Herausforderung für die psychoanalytische Theoriebildung, was es für die Entwicklung eines Kindes bedeutet, zwei Mütter oder zwei Väter als Elternpaar zu haben.

Karl-Josef Pazzini schreibt über Sexualität, Wissenschaft und Übertragung aus der Sicht eines »Laien«.

Mit Martin Danneckers Beitrag »Von den Schwierigkeiten der Psychoanalyse mit der männlichen Homosexualität« schließt der zweite Abschnitt. Er thematisiert den Beitrag der Psychoanalyse zu der über viele Jahrzehnte üblichen Pathologisierung homosexueller Männer. Seine Kritik richtet sich auf die einseitige Betrachtung früher Kindheitserinnerung bei der Betrachtung psychischer Störungen homosexueller Männer und die Ausblendung bzw. Bagatellisierung gesellschaftlicher Diskriminierungserfahrungen, sowie die Reduktion homosexueller Männer auf deren sexuelle Orientierung.

Zum dritten Abschnitt

Im dritten und mit 64 Seiten auch längsten Abschnitt werden Themen rund um Geschlechtervielfalt, Menschen, Medizin und Lebenswelten zusammengefasst.

Im ersten der sechs Beiträge, geschrieben von Susanne Cerwenka, geht es um Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen und Erwachsenen mit Geschlechtsdysphorie, d. h. der Nichtübereinstimmung geschlechtsbezogener Ausprägungen des Körpers mit dem Geschlechtsidentitätserleben. Durch soziale Ausgrenzung und Gewalterfahrungen kommt es sehr häufig zu Depressionen, suizidalen Handlungen oder auch Substanzmittelmissbrauch.

Der wachsenden Zahl geschlechtsdysphorischer Kinder und Jugendlicher und den Herausforderungen für Eltern sowie für die psychotherapeutische Betreuung ist der Beitrag von Inga Becker und Birgit Möller gewidmet. Ausführlich werden begriffliche Einordnungen vorgenommen, wird der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Diskussion nachgezeichnet und ein Fazit für die Praxis gezogen.

Die Medizinerin Susanne Krege beschäftigt sich mit dem veränderten medizinischen Umgang mit Transsexualität und Intersexualität. Als Urologin, die sich seit zwei Jahrzehnten mit operativen Methoden auseinandersetzt, stellt sie Evaluationen von Behandlungsmethoden sowie deren Vor- und Nachteile dar. Neben allgemeinen quantitativen Aussagen illustrieren hier Fallbeispiele den Text.

Aus der Perspektive intersexueller Menschen ist der Beitrag von Lucie G. Veith geschrieben, der Erfahrungen gesellschaftlichen Engagements für die Integration intersexueller Menschen in die Gesellschaft beschreibt. Zunächst stellt die Autorin die physisch wie psychisch dramatischen Folgen medizinischer Behandlungen wie die Beeinträchtigung der Fortpflanzungsfähigkeit oder Nebenwirkungen von Hormonbehandlungen vor. Thematisiert wird im Text das notwendige politische Engagement zur Verwirklichung noch lange nicht umgesetzter Menschenrechte.

Der vorletzte Artikel dieses Abschnittes von Franziska Brunner, Christine Handford und Katinka Schweizer will zum Verständnis der Vielfalt möglicher Entwicklungen des inneren Geschlechtsidentitätserlebens von Menschen mit Intersexualität beitragen. Die Autorinnen konzentrieren (man könnte auch sagen reduzieren) sich auf eine der vielen Formen der Intersexualität, auf die Androgeninsensitivität, und beschreiben, wie vorgenommene Bezeichnungen äußerer Geschlechtsmerkmale unter die bekannten Kategorien (Penis, Klitoris) zu einer Übertragung von Geschlechtsrollenerwartungen führen. Neben dem eher kurzen reflektierenden Blick wird hier aber auch ein Überblick über die Vielfalt des geschlechtlichen Andersseins unter medizinisch klassifizierender Perspektive gegeben. Aus der großen Gruppe intersexueller Erscheinungsformen werden zwei herausgegriffen und im Zusammenhang mit dem Geschlechtserleben bzw. dem wissenschaftlichen Stand über dessen Ausprägung diskutiert. Kritisiert wird dabei einerseits die begriffliche Pathologisierung seit der Terminus Intersexualität in Störungen der Geschlechtsentwicklung (engl.: DSD = Disorders of Sex Development) umbenannt wurde, andererseits fordern die Autorinnen Geschlecht vielfältiger zu denken. Das ist das eigentliche Ziel dieses Beitrages: Denken jenseits dichothomer zuordnender und reduzierender Muster zu anzuregen.

Als letzter Artikel in diesem Abschnitt versucht Timo O. Nieder eine Annäherung an das Thema Geschlechtsidentitäten bzw. -entwicklungen sowie die Legitimität von körperverändernden Eingriffen. Er beschreibt die Neuerungen des DSM-V (Diagnostic an Statistical Manual of Mental Disorders) als positive Möglichkeiten, dass außer Transgender-Personen nun auch genderqueer verorteten eine körperverändernde Behandlung ermöglicht wird. Dafür nähert sich der Autor ausführlich dem Begriff der Genderqueerness aus theoretischer Perspektive und fordert am Ende umfassenden Zugang zu körperverändernden Eingriffen.

Zum vierten Abschnitt

Der vierte Abschnitt (39 Seiten) versammelt vier Beiträge zu Sexualität, Körper und Geschlecht in der Psychotherapie.

Der erste von Wilhelm F. Preuss beschreibt die berührende Geschichte einer Rückkehr nach einer Geschlechtsumwandlung, die Geschlechterrollen, gesellschaftlichen Veränderungen und persönlichen Erfahrungen mit den Erfahrungen des Therapeuten verbindet. Dabei arbeitet der Autor genau heraus, wie sehr gesellschaftliche Erfahrungen zum Abscheu über die eigene (hier männliche) Geschlechterrolle und zum Wunsch nach einer körperverändernden Operation führen können, die mit der Hoffnung auf eine »unbelastete Existenz« angestrebt wurde, ohne diese unbelastete Existenz aber zu erreichen. Nach einer zweiten körperverändernden Operation zurück in das Ursprungsgeschlecht, die zuvor ja auch eine entsprechende Diagnose verlangte, wird in dem dargestellten Fall ein positiver Ausgang der Geschichte beschrieben.

Ein weiterer, von Annika Flöter und Vivian Jütstock verfasster Beitrag, widmet sich der Geschlechterinsensibilität in der Psychotherapie, die als grundsätzlicher Mangel der Psychotherapie benannt und hier am Beispiel der Behandlung von Männern mit Sexualdelinquenz diskutiert wird. Es geht um die Frage, wie und welche geschlechtsspezifischen Vorstellungen und Verhaltensweisen den psychotherapeutischen Prozess beeinflussen.

Im folgenden Beitrag von Harald J. Freyberger geht es um Heimkindheit in der DDR, die damit verbundenen körperlichen wie psychischen Verletzungen bzw. deren Folgen. Der Artikel zeigt zum einen sehr deutlich auf, wie sich Kindheitserfahrungen so aufhäufen, dass es zu späteren traumaassoziierten Symptomatiken kommt und dass andererseits Rehabilitationsanträge von Heimkindern sehr selten erfolgreich sind und damit Erfahrungen von Ungerechtigkeiten fortgesetzt werden.

Der letzte Beitrag in diesem Abschnitt von Bernhard Strauß behandelt die Frage, wie der Erfolg einer Psychotherapie sinnvoll beurteilt werden kann. Unter den gegenwärtigen Evidenzanforderungen, die auch an Psychotherapien gestellt werden, werden vor allem Effektstärken der Veränderungen von Symptomen gemessen. Der Autor plädiert für ein anderes Modell, nämlich die Beurteilung des subjektiven Körpererlebens. Er empfiehlt und erläutert einen Fragebogen, der selbiges messen soll.

Zum fünften Abschnitt

Drei weitere Artikel (31 Seiten) finden sich im fünften Abschnitt des Buches unter der Überschrift »Partnerschaft, Sex und Liebe«.

Nach einer Auseinandersetzung mit ausgewählten Beziehungs- und Sex-Ratgebern von Katinka Schweizer folgt die Vorstellung empirischer Ergebnisse zu Bisexualität und nicht-monosexueller Partnerwahl von Arne Dekker und Silja Matthiesen, die zu dem Ergebnis kommen, dass es in den eingeschlossenen vier Jahrzehnten weder zu einer Flexibilisierung sexueller Identitäten kam, noch zu einer geschlechtsoffenen sexuellen Praxis.

Über die weibliche Sexualität bzw. Vorstellungen darüber aus psychoanalytischer Sicht schreibt Beatrix Gromus und hinterfragt Normalitätsvorstellung von Sexualität. Die Autorin resümiert die Überlagerung von sexuellem Verhalten, Erleben und Wünschen durch gesellschaftliche Normen und ökonomische Abhängigkeiten, aber eben auch von den Ergebnissen der Sexualforschung selbst, die ihrerseits wieder Normen produziert.

Das Buch schließt mit drei persönlichen Festschriftbeiträgen von Peer Brikken, Katinka Schweizer und Rainer Richter, in der die langjährige engagierte Arbeit von Hertha Richter-Appelt in der Forschung und Lehre und ihr Engagement für die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen gewürdigt wird.

Diskussion

Das Buch enthält eine Reihe sehr lesenswerter Beiträge aus verschiedenen Disziplinen, interessant beschriebene Fallbeispiele, empirische Erhebungen, gesellschaftliche Einordnungen und politische Diskussionen. Die Überschriften der sechs Teilabschnitte des Buches passen aber nicht besonders gut zu den Inhalten, Leser_innen wird eine Orientierung daran nicht gelingen. Kaum vermeidbar sind bei einem Sammelband wohl Überschneidungen und Doppelungen, die sich insgesamt aber in Grenzen halten. Der Fokus des gesamten Buches liegt auf psychologischen Konzepten, wobei das Buch mit einem – als weitergehend angekündigten – anregenden kulturtheoretischen Beitrag von Christina von Braun beginnt. Dies bleibt (leider) auch der einzige mit geisteswissenschaftlichem Bezug.

Ins Buch aufgenommen sind viele Beiträge von Wegbegleiter_innen und nicht bei jedem Beitrag liegt der Bezug zum Thema auf der Hand. Dies betrifft aber nur einzelne Beiträge, insgesamt liest sich das Buch mit Gewinn. Mich persönlich haben neben dem Beitrag von Christina von Braun die (nicht explizit angekündigten) gesellschaftspolitisch-historischen Bezüge des Fallbeispiels von Preuss besonders beeindruckt, weil hier zusammengeführt wird, wie sehr Geschlechterkonstruktionen und Identitäten sozial-, kulturell-, politisch verbunden sind. Die historischen Bezüge – hier zweimal bezogen auf DDR-Biografien und Erfahrungen – machen auch die Qualität dieses Buches aus.

Als Festschrift will das Buch die Jubilarin und ihre Arbeit würdigen. In Zeiten, in denen sexualwissenschaftliche Institute schließen, sozialwissenschaftlich orientierte Forschung zu Sexualität wenig gefördert wird, dient es auch dazu, wichtige Fragen aufzuwerfen, die einer weiteren Diskussion bedürfen. Das sind nicht nur Fragen zu geschlechtlichen Identitäten oder sexuellen Verhaltensweisen, sondern auch, was als normal und unnormal, was als krank und gesund kategorisiert wird oder Fragen, die das Spannungsverhältnis zwischen positiv verstandener Sexualität und sexueller Selbstbestimmung auf der einen und der (Re)Produktion sexueller Normen auf der anderen Seite beleuchten.

Fazit

Das Buch kann für all jene von Interesse sein, die sich zu aktuellen Diskussionen zu sexualwissenschaftlichen Themen belesen wollen und dabei auch an unterschiedlichen disziplinären Zugängen interessiert sind.

Zitiervorschlag
Daphne Hahn. Rezension vom 16.10.2015 zu: Katinka Schweizer, Franziska Brunner, Susanne Cerwenka, Timo O. Nieder, Peer Briken (Hrsg.): Sexualität und Geschlecht. Psychosoziale, kultur- und sexualwissenschaftliche Perspektiven. Eine Festschrift für Hertha Richter-Appelt. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. ISBN 978-3-8379-2444-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/18302.php, Datum des Zugriffs 01.12.2016.

www.socialnet.de

zurück zum Titel