Rezension zu Psychoanalyse in Brasilien
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Heft 57, 1/2016
Rezension von Gregor Busslinger
In den Erkundungen, die der vorliegende Band versammelt, wird aus
sieben Blickwinkeln Licht auf die brasilianische Psychoanalyse
geworfen. Das aus der Sicht »des deutschsprachigen Mitteleuropas«
durch Stereotype und Projektionen verzerrte Bild einer vielfältigen
und widersprüchlichen brasilianischen Realität soll, so die
Einleitung, facettenreicher gestaltet werden. Vier Beiträge stammen
aus brasilianischer Feder, drei von deutschen Autoren, die
langjährige Erfahrung mit der brasilianischen Realität haben.
Dadurch wird auch ein Licht auf die Beziehung der brasilianischen
Psychoanalyse zum deutschen Sprachraum geworfen. In den meisten
Beiträgen geht es um historische Betrachtungen, Einschätzungen zur
aktuellen Situation finden aber auch ihren Platz.
Meine erste Lektüre war begleitet von Irritationen. Den
differenzierten Analysen mit spannenden historischen Fakten
gegenüber standen Beiträge, über die ich stolperte. Die
brasilianische Realität schien mir dabei auf den ersten Blick über
die Betonung typisch brasilianischer Eigenarten pauschalisierend
dargestellt, durch eine kulturalisierende Optik getrübt, bin ich
doch als Psychoanalytiker bemüht, in meiner klinischen Praxis (u.
a. auch mit BrasilianerInnen) vorschnelle kulturelle Zuschreibungen
zu vermeiden, um den Blick auf tieferliegende Realitäten nicht zu
verstellen. Ich brauchte eine zweite Lektüre, um mich meinerseits
nicht vorschnell auf eine Wahrnehmung des Buches festzulegen.
Die ersten drei Beiträge beleuchten ausschließlich historische
Fakten, insbesondere die Pionierzeit der brasilianischen
Psychoanalyse. Hannes Stubbe geht einem der frühen Brückenköpfe
nach, welcher Freud die Ankunft in den Tropen, genauer in Rio de
Janeiro, ermöglichte. In minuziöser Kleinarbeit mit ausgiebigen
Querverweisen in Fußnoten, die von großer Kenntnis der
brasilianischen Psychoanalyse zeugen, analysiert er die erste
psychoanalytische Dissertation zur Zeit des Ausbruchs des I.
Weltkriegs. Er klopft sie auf ihre Quellenverwendung ab, verortet
sie in der damaligen Wissenschaftstradition und dem Zeitgeist.
Was Stubbe schon andeutet, vertieft Hans Füchtner. Er wirft die
Frage auf, welche Bedeutung das Deutsche als Ursprungssprache der
Psychoanalyse in Brasilien hatte. Mit seinen profunden Kenntnissen
der Geschichte der brasilianischen Psychoanalyse zeigt er auf, wie
die Sprachbarriere zu Beginn des 20. Jahrhunderts dank wichtiger
brasilianischer Pioniere, die der deutschen Sprache mächtig waren,
kein besonderes Problem darstellte und erst später eines wurde,
weil sich das intellektuelle und wissenschaftliche Leben Brasiliens
traditionell eher an Frankreich orientierte, was für die
Psychoanalyse spätestens seit dem »Lacanfieber« der 1970er Jahre
ebenfalls galt. Füchtner geht zudem auf die große Bedeutung von
PsychoanalytikerInnen aus dem deutschen Sprachraum zu Beginn der
Institutionalisierung der brasilianischen Psychoanalyse in den
1940er und 1950er Jahre ein.
Den Einfluss der deutschen Wissenschaftstradition verdeutlicht auch
der Beitrag von Cristina Facchinetti und Rafael Dias de Castro über
die »Psychoanalyse als psychiatrisches Werkzeug« anhand des Wirkens
von Juliano Moreira, einem der herausragenden Psychiater der
psychoanalytischen Pionierzeit. In einer spannenden Analyse wird
aufgezeigt, wie Moreira als Abkömmling der schwarzen Unterschicht
sich Ende des 19. Jahrhunderts mit Ideen von Kraepelin und Freud
auseinandersetzte und wie er auch auf Grund seiner Kenntnisse der
deutschen Sprache der »deutschen organizistischen Psychiatrie« im
Rahmen der Psychiatriereform zu Beginn des 20. Jahrhunderts in
Brasilien zum Durchbruch verhalf.
Marina Massimi verlässt das Terrain der ausschließlich historischen
Fakten. Sie schlägt einen großen historischen Bogen, der in
Spekulationen zum Wesen der brasilianischen Psychoanalyse endet.
Ausgehend von der Bedeutung der »Sprache als Hilfsmittel für die
Heilung in der kulturellen Tradition der indigenen Bevölkerung« für
die überwiegend »illiterate Bevölkerung« des kolonialen Brasiliens,
kommt sie über die »moralische Therapie« der wissenschaftlichen
Medizin des 19. Jahrhunderts zur Behandlung der »Erkrankung des
Geistes« und schildert dann ausführlich die Etablierung der
Psychoanalyse sowohl in ihrer medizinalisierten Form als auch über
den kulturellen Diskurs der »modernistischen Bewegung« in den
1920er Jahren und die v. a. durch Arthur Ramos vorangetriebene
Verflechtung mit Sozialwissenschaften wie der Ethnologie, Pädagogik
und Soziologie.
Ausgehend von Denkfiguren der griechischen Philosophie stellt André
Martins Konzepte Winnicotts denjenigen von Freud und Lacan
gegenüber. Er will damit aufzeigen, inwiefern Winnicott der
brasilianischen Lebensart am besten entspricht. Er schält die
unterschiedlichen Perspektiven auf das Begehren heraus: als Produkt
einer Mangelerfahrung bei Lacan und Freud, als Ausdruck expansiver
Lebenskraft und der Befriedigung über einen spielerischen Umgang
mit der Realität und dem Normativen bei Winnicott. Nach diesen
theoretischen Erörterungen tastet er sich über die Metapher des
»brasilianischen kulturellen Bodens« vorsichtig an kulturelle
Stereotypen Brasiliens heran und verknüpft diese mit den
dargelegten Winnicott‘schen Konzepten. In der Quintessenz plädiert
er trotz der Dominanz Lacans in der brasilianischen Psychoanalyse
für eine besondere Affinität von Winnicott zu dem, was er als
brasilianische Lebensart skizziert. Dass er sich dabei an gewagte
Verallgemeinerungen und Verknüpfungen annähert, passt durchaus zum
kreativen und spielerischen Umgang mit der äußeren Realität, über
die er in seinem Artikel so facettenreich theoretisiert.
Eine andere Spielform, mit Verallgemeinerungen umzugehen, stellt
Peter Theiss-Abendroth in seinen Betrachtungen über »Anomie« und
»Richtlinienpsychotherapie« vor. Anomie, die er in Brasilien
verortet, kontrastiert er mit der den Deutschen zugeschriebenen
Hypernomie. Aus dieser Perspektive nimmt er in Brasilien eine
starke Struktur- und Regellosigkeit wahr, die er als Quelle von
Traumatisierung und sozialen Zerfallsprozessen in der
brasilianischen Unterschicht sieht. Er zeigt auf, wie er in seiner
psychoanalytischen Praxis in Deutschland den sicheren Rahmen der
Richtlinienpsychotherapie als wichtiges triangulierendes Element
für die Behandlung von traumatisierten brasilianischen Patienten
begreift.
Im Vergleich der zwei Beiträge von Martins und Theiss-Abendroth
fällt die unterschiedliche Bedeutung auf, die Regeln und Normen
zugeschrieben wird. Während es bei Martins eher um das kreative
Spielen damit geht, fokussiert Theiss-Abendroth auf das
Verunsichernde und Destabilisierende, wenn Regeln und Normen eher
implizit als explizit vorhanden sind. Damit zeigen diese zwei
Beiträge über ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen wohl
exemplarisch etwas von den kulturellen Unterschieden zwischen
Brasilien und Deutschland auf, um die es in dem Buch explizit und
implizit immer wieder geht.
Im letzten Artikel verliert sich Francisco Copoulade in seinem
»kinematografischen Essay über die Geschichte der Psychoanalyse in
Brasilien« etwas im Gestrüpp von Verallgemeinerungen und
Spekulationen.
Obwohl das Buch die brasilianische Psychoanalyse aus einer
deutschen Perspektive betrachtet und Bezüge zu englischen,
amerikanischen und französischen Einflüssen weitgehend fehlen,
zeichnet es doch ein facettenreiches Bild, beginnend mit der
Bedeutung der deutschsprachigen Psychoanalyse in der Pionierzeit
bis hin zu Betrachtungen über das Gedeihen der Psychoanalyse in der
brasilianischen Kultur angesichts des »jeitinho brasileiro«.