Rezension zu Berühmte Fälle aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Heft 57, 1/2016
Rezension von Klaus Hoffmann
Sigmund Freud gilt in der Psychiatrie- und Psychoanalysegeschichte
zu Recht als wesentlicher Brückenbauer zwischen traditionellen
Heilmethoden, insbesondere der Suggestion, und
naturwissenschaftlichen Ansätzen. Psychologische, auch aus heutiger
Sicht als esoterisch bezeichnete Erklärungen nahm er ernst und
baute sie in sein System wissenschaftlicher Erklärungen von
Gesundheit und Krankheit ein. Dass er in der Berliner Aufklärung
interessante Vordenker hatte, zeigt der vorliegende Band mit
ausgewählten Aufsätzen aus dem von dem Schriftsteller und Pädagogen
Carl Philipp Moritz begründeten und zwischen 1783 und 1793
herausgegebenen »Magazin zur Erfahrungsseelenheilkunde als ein
Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte«.
Die zeitliche Parallelität zur Französischen Revolution und ihren
großen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen wird in den
Texten nur indirekt spürbar, deutlich hingegen die damit historisch
eng vernetzte Fokussierung auf subjektives Erleben überwiegend
bildungsbürgerlicher Protagonistinnen und Protagonisten zumeist
jüdischer und protestantischer Provenienz aus Theologie,
Philosophie, Justiz und Medizin. Bis heute bekannte Autoren des
Magazins sind der Philosoph und führende Vertreter der Berliner
Aufklärung Moses Mendelssohn, der sich gegen starke Widerstände für
Gedanken- und Redefreiheit einsetzte, und der Arzt Christoph
Wilhelm Hufeland, der sowohl das soziale Elend als auch ungesunde
Lebensformen als wesentliche Ursachen für Krankheit ansah und eine
ganzheitliche Medizin forderte. Existentielle und psychiatrische
Extremsituationen wie Suizid und Verrücktheit werden mit dem
Anspruch des biographischen Verstehens geschildert, die in der
Umgebung der Betroffenen vorhandenen voreiligen moralischen
Vorwürfe erwähnt und Empfehlungen ausgesprochen wie diese: Triebe
zu haben sei menschlich, sie zu nähren problematisch (S. 80).
Beobachtungen über sich selbst, über Kinder, über Träume, über
Wahnwitzige anzustellen und dies zur näheren Seelenerkenntnis zu
nutzen (S. 87), wurde Programm, was dann in der Romantik intensiv
weitergeführt wurde. Dass Menschen sich auch mit Vergnügen an eine
Zeit in Ketten erinnern können, beschreibt ein Oberaufseher von
Zuchthäusern im Jahr 1786 als Phänomen – die Psychoanalyse wird
etwas mehr als einhundert Jahre später hierfür Erklärungen
formulieren. Gesellschaftlich tabuisierte sexuelle Fragen wie
Onanie und Homosexualität werden diskutiert, allerdings ohne die
damaligen Verbote zu hinterfragen.
Stefan Goldmann hat in diesem Band sehr lesenswerte Texte
zusammengestellt, die wichtige Wurzeln aktueller psychoanalytischer
wie gesellschaftlicher Strömungen deutlich machen.