Rezension zu Körperökonomien
Sexuologie. Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft Band 22, Nr. 1-2/2015
Rezension von Florian G. Mildenberger
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines Ärzte wie auch die
Öffentlichkeit beschämenden Skandals um die nicht rechtmäßige
Vergabe von Spenderorganen an deutschen Transplantationszentren.
Ausgehend von dieser seit 2012 laufenden Debatte setzen sich
Herausgeber und Autoren mit Möglichkeiten, Gefahren und Fantasien
rund um die Nutzung von Körperteilen und deren Verfügbarmachung
auseinander. Die Schweizer Historikerin Janine Kopp eröffnet den
Aufsatzreigen mit einem historischen Überblick hinsichtlich der
Nutzung des menschlichen Körpers als medizinische Ressource. Lange
Zeit wurden vor allem Mumien zerstampft und als Arzneien
verabreicht, später auch organische Produkte hingerichteter
Personen. In der Frühen Neuzeit wirkten hier staatliche Organe,
Apotheker und Ärzte zusammen.
Die Medizinsoziologin Michaela Mayrhofer widmet sich der Verwendung
von Körperproben in Biobanken. Dabei macht sie deutlich, dass der
ursprünglich altruistische Gedanke der Spende von Körperzellen zu
medizinischen Forschungszwecken alsbald zum Element von
Gewinnmaximierungsstrategien der Labore und Kliniken mutierte, was
sich u.a. am Begriff »Bank« für den Ort der Lagerung ausdrückt.
Auch lässt sie den Leser nicht darüber im Unklaren, dass es früher
bereits ähnliche Institutionen gab: die vielfach von Mittelkürzung
bedrohten Institute für Pathologie, die einzig der Forschung und
nicht dem Markt verpflichtet gewesen waren. Diese Institute hatten
schon die Probleme von Organtransplantationen analysiert, als den
verantwortlichen Politikern in Deutschland die ganze Debatte noch
unbekannt schien. So war die erste künstliche Verpflanzung einer
Niere 1954 erfolgt, die rechtliche Regelung für Organentnahmen
folgte erst 1998, wie der Soziologe Werner Schneider in seinem
Beitrag kritisch anmerkt. Er stellt nicht nur die Debatten um den
richtigen Zeitpunkt für die Organnutzung (»Hirntod«) vor, sondern
fragt auch, worum es bei der Organspende wirklich geht. Ist es
Altruismus, Profilschärfung der Kliniken oder schlichtweg ein
Marktinstrument? Und ist nicht stets die Gefahr, dass Organe
illegal beschafft und genutzt werden? Die Legende von dem in einem
Parkhaus einer Niere beraubten Mann schaffte es in den 1990er
Jahren bis in die Boulevardpresse und führte zu fantastischen
Übertreibungen in der volkstümlichen Rezeption. Der Historiker
Simon Hofmann analysiert diese Geschichten und wirft die Frage auf,
ob solche »modernen Märchen« eventuell die Ängste vieler Menschen
vor der Transplantationsmedizin widerspiegeln. Akteure der Kliniken
reagierten verärgert und erklärten gar, diese »Märchen« seien
mitverantwortlich für die sinkende Spenderbereitschaft in der
Bevölkerung. Eine Hinterfragung der eigenen Position kam den Ärzten
nicht in den Sinn.
Der Verdacht von Organhandel an deutschen Kliniken hat sich bislang
nicht bestätigt, in anderen Ländern zählt er zur Tagesordnung. Die
englische Sozialanthropologin Ciara Kierans beschreibt anschaulich
die Situation in Mexiko, wo angesichts eines stets kurz vor dem
Zusammenbruch stehenden Gesundheitssystems Ärzte, Spender, Kranke
und Kontrollorgane sich von gewinnorientierten Handlungsmaximen
leiten lassen. Kierans bringt aber noch einen weiteren Aspekt bei,
die Tatsache, dass die Ernährung und Lebensgewohnheiten vieler
Menschen sich negativ auf die Lebenserwartung ihrer Nieren
auswirken, z.B. wenn »Cola« billiger als Wasser ist und als dessen
Ersatz lebenslang entsprechend konsumiert wird.
Es findet sozusagen »Körperkommerz« statt, wie es der Bioethiker
Thomas Potthast nennt. Unter Bezugnahme auf philosophische Maximen
von Kant und Marx konstruiert er das Bild einer Gesellschaft, in
der die Hintergründe für Organspenden nicht mehr thematisiert
werden, sondern nur noch deren möglichst häufige Anwendung im
Zentrum der Debatte steht. Warum jemand ein Organ braucht, weshalb
ein Mensch eine Niere spendet und ob hier ein Gabentausch vorliegt
oder nur ein Geschäftsvorgang, wird in der aktuellen Debatte kaum
thematisiert. Der Soziologe Frank Adlo vertieft diese Gedanken und
fragt unter Bezugnahme auf die Theorien von Marcel Mauss, ob Gaben
immer erwidert werden müssen, wie das geschehen soll und ob nicht
eventuell Empathie gegenüber der Position des Gegenübers ein erster
Anfang wäre.
Einen Orientierungspunkt nennen weder Potthast noch Adlo – die
Religion. Deren Vorgaben spielen im Judentum für das Alltagsleben
eine zentrale Rolle. Die Kulturanthropologin Zvika Orr schildert,
wie anpassungsfähig religiöse Lehren angesichts der Fortschritte in
der Medizin sein kann. So stellte es weder für Rabbiner noch
Krankenkassenfunktionäre oder klinische Ärzte ein Problem dar, wenn
Organhändler israelischen Patienten, die auf eine Spenderniere
warteten, ein entsprechendes Angebot unterbreiteten. Auch nach
Erlass eines Transplantationsgesetzes 2008 bezahlen die
Krankenkassen Vor- und Nachuntersuchungen, während der Patient die
Operation im Ausland durchführen lässt, obwohl die Frage der
legalen Organentnahme ungeklärt bleibt. Im Bereich des Mythos und
der Spekulation bleibt das Medium, welches wie kein anderes Ängste
und Wünsche von Menschen zugleich verkörpert und bedient, das
Kino.
Der Filmanalytiker Marcus Stiglegger stellt die Präsentation des
menschlichen Körpers als Ware in den Hollywoodfilmen seit den
1970er Jahren vor: Organhändler, Kannibalen oder Lustbefriedigung
bieten die Steilvorlagen. Als Stilikone der Vergangenheit gilt
Stiglegger die mit Gold überzogene – und dadurch erstickte – »Jill
Masterson« in James Bonds frühem Abenteuer »Goldfinger«.
»Masterson« war dem körperlich wenig überzeugenden »Goldfinger«
unterstellt, in einer Art von Prostitution. Deren Rolle als Aspekt
der Körpernutzung benennt die Philosophin Rebecca Pates. Sie wägt
ab zwischen den aufschäumenden Feministinnen und um die Wahrung von
»Ehre« besorgten konservativen Familienpolitikerinnen sowie den
selbstbewusst agierenden Prostituierten, die
Bevormundungsstrategien hinter sich lassen wollen. Pates lässt die
CDU-Bundestagsabgeordnete Ilse Falk breit zu Wort kommen, erwähnt
jedoch nicht, dass die um die Sittlichkeit so besorgten Strategen
der CDU fast zeitgleich zu den Debatten um die Entdämonisierung der
Prostitution das Gesetz zur Bestrafung von Gewalt in der Ehe zu
verhindern gesucht hatten.
Neben diesem eher marginalen Aspekt gibt es aber noch einige
weitere Kritikpunkte bezüglich des gesamten Buches. So fehlt die
Komponente der zwangsweisen Organspende von Häftlingen (z.B. in der
Volksrepublik China). Auf den möglichen Ausweg der
Xenotransplantation und seiner ethischen Brisanz wird ebenfalls
nicht eingegangen. Der Sprung von den zerstampften Mumien im 18.
Jahrhundert hin zu den 2000er Jahren ist etwas abrupt, ein
überleitender Aufsatz mit prägnanten Beispielen (z.B.
Steinach-Operationen) wäre eventuell eine wertvolle Ergänzung
gewesen. Unverständlich erscheint angesichts der Komplexität des
Themas das Fehlen eines Registers.
Gleichwohl ist den Herausgebern eine schöne Komposition gelungen.
Die zahlreichen Literaturhinweise laden zu vertiefenden Studien
ein.