Rezension zu Psychiatrie in Gießen
Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte Band 54/2004
Rezension von Hubert Kolling
Im Jahre 1998 wurde im Gießener Zentrum für Soziale Psychiatrie die
Ausstellung »Vom Wert des Menschen« eröffnet. Der Schwerpunkt
dieser Präsentation, die sich seitdem regen Zulaufs vor allem durch
Beschäftigte im Gesundheitswesen erfreut, bildet die Geschichte der
ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Gießen während der Zeit des
Nationalsozialismus. Das nun von Uta George, Herwig Groß, Michael
Putzke, Irmtraut Sahmland und Christina Vanja herausgegebene Buch
»Psychiatrie in Gießen. Facetten ihrer Geschichte zwischen Fürsorge
und Ausgrenzung, Forschung und Heilung« versteht sich zunächst als
Begleitband zu der besagten Ausstellung, geht aber thematisch und
zeitlich deutlich über deren Spektrum hinaus. Die Einbeziehung der
Vor- und Nachgeschichte war sinnvoll, gab es in der Stadt Gießen
doch bereits um 1900 ein enges Netzwerk unterschiedlicher
psychiatrischer Einrichtungen. Neben der 1911 eingeweihten
staatlichen Heil- und Pflegeanstalt, in deren Gebäuden sich heute
sowohl das Zentrum für Soziale Psychiatrie Mittlere Lahn – Standort
Gießen – als auch die Gießener Außenstelle der Klinik für
forensische Psychiatrie Haina – beide in der Trägerschaft des
Landeswohlfahrtsverbandes Hessen – befinden, bestand seit 1903 eine
ebenfalls staatliche »Provinzialsiechenanstalt« als geriatrische
Einrichtung. Älteste psychiatrische Einrichtung in Gießen war
jedoch die bereits 1896 eröffnete Psychiatrische- und Nervenklinik
der Universität. Während alle drei Einrichtungen im Laufe ihrer
wechselvollen Geschichte in verschiedener Weise miteinander
kooperiert haben, prägen ihre Nachfolgeeinrichtungen his heute die
psychiatrische Landschaft Gießens. Dementsprechend spannt die
Veröffentlichung, die als Band 9 in der »Historischen
Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und
Studien« erscheint, einen rund 200 Jahre umfassenden Bogen. Die
Darstellung reicht dabei vom 19. Jh. mit der Institutionalisierung
des Faches in Gießen über die historischen Phasen des frühen 20.
Jhs. bis zum Ersten Weltkrieg, die Jahre der Weimarer Republik, das
»Dritte Reich« sowie die Nachkriegszeit bis zur gegenwärtigen
Psychiatrie, wie sie durch das heutige Zentrum für Soziale
Psychiatrie und die Psychiatrische Universitätsklinik repräsentiert
ist.
Alle Beiträge des Sammelbandes, die mehr oder weniger auf der
Auswertung umfangreicher Archivalien basieren, im einzelnen
vorzustellen, würde den Rahmen der vorliegenden Besprechung
sprengen. Erwähnt werden muss aber, dass die Bearbeitung der
Psychiatrie in Gießen während des Nationalsozialismus breiten Raum
einnimmt. Die verschiedenen hierzu vorgelegten Beiträge widmen sich
einerseits der Entwicklung, die die Einrichtungen als Institutionen
genommen haben, andererseits den Schicksalen, denen die Patienten
in den psychiatrischen Einrichtungen während dieser Jahre
unterworfen waren. So schließt sich an die Charakterisierung der im
Zeichen der nationalsozialistischen Ideologie stehenden
Anstaltspolitik im Land Hessen die Frage nach dem Schicksal
jüdischer Patienten an. Weitere Beiträge befassen sich etwa mit der
Durchsetzung des eugenischen Programms der Nationalsozialisten in
Gießen, der Rolle der Heil- und Pflegeanstalt Gießen bei den
»T4«-Morden sowie den Zwangsarbeitern, die in der Heil- und
Pflegeanstalt untergebracht waren.
Ergänzt wird die Gesamtdarstellung durch Texttafeln und Kommentare
zu den Dokumenten der Ausstellung »Vom Wert des Menschen« sowie
durch einen Personenindex mit Kurzangaben zu Lebensdaten und
Funktionen, ein Ortsregister und ein Sachverzeichnis, wobei
letztere für die praktische Arbeit mit dem Buch sehr hilfreich
sind.
Mit der Publikation, bei der es sich um einen wichtigen Beitrag zur
Sozial- und Medizingeschichte der Universitätsstadt Gießen handelt,
wurden erstmals die wesentlichen Aspekte der Gießener
Psychiatriegeschichte aufgearbeitet. Abgesehen vom
wissenschaftlichen Wert der Veröffentlichung bleibt zu hoffen, dass
die lokalhistorische Studie in der Bevölkerung auf großes Interesse
stößt und dadurch zugleich die Menschen, die krank, behindert und
sozial benachteiligt sind, stärker ins Zentrum unseres Denkens und
Handelns rücken.