Rezension zu Die vergessenen Kinder der Globalisierung
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Rezension von Prof. Dr. Thomas Eppenstein
Thema
Die Herausgeberinnen legen mit dieser Publikation Ergebnisse und
Diskussionsbeiträge zu psychosozialen Folgen transnationaler
Migration aus unterschiedlichen disziplinären, nationalen und
internationalen Perspektiven und Studien vor. Der Band will eine
bislang eher vernachlässigte Lücke internationaler
Migrationsforschung schließen, indem hier vor allem
Vulnerabilitäten und Bewältigungsmuster von »Kofferkindern«,
zurückgelassener, allein geflüchteter und remigrierter Kinder oder
Jugendlicher in Kontexten transnationaler Migrationen in den Blick
genommen werden.
Herausgeberinnen
Dr. Elisabeth Rohr, Gruppenanalytikerin und Supervisorin, lehrte
bis 2013 an der Phillips-Universität Marburg »interkulturelle
Erziehung«, Forschung und Bildungspraxis in Kontexten der
Entwicklungszusammenarbeit in Ecuador und Guatemala;
Mechthild M. Jansen, Erziehungswissenschaftlerin und Jamila Adamou,
M.A. Politik und Literaturwissenschaftlerin, ehemalige und aktuelle
Leiterinnen des Referates Frauen, Gender Mainstreaming,
geschlechtsbezogene Pädagogik Migration der Hessischen
Landeszentrale für politische Bildungsarbeit.
Entstehungshintergrund
Der Band versammelt Beiträge von Autorinnen und Autoren, die
überwiegend Vortragende einer Tagung zum Thema »Transnationale
Kindheit und die psychosozialen Folgen globaler Migration« im
Oktober 2012 an der Phillipps-Universität in Marburg waren.
Aufbau und Inhalte
Die Beiträge des Bandes sind in drei Teilen gegliedert
1. zu transnationaler Migration,
2. zu den psychosozialen Folgen globaler Migration und
3. zu transnationaler Migration in Deutschland
Die Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Beck-Gernsheim eröffnet den
Band mit einem Text zu »Lebens- und Liebesformen in einer
globalisierten Welt« (11-24). In der Vielfalt transnationaler
Familien sucht dieser Beitrag nach Mustern und »gemeinsamen
Grundlinien« unter der Prämisse eines Leitgedankens, der die
Entstehung transnationaler Familienkonstellationen primär als Folge
globaler Ungleichheit und »die weltweit immer größer werdende Kluft
zwischen Arm und Reich« (11), einer damit einhergehenden rapiden
Zunahme von Migrationswünschen einerseits und restriktiven
Migrationsgesetzen andererseits begründet sieht: Bei der Suche nach
Migrationswegen werde die Familie zu einer wichtigen Ressource. Vor
dem Hintergrund des Bedeutungszuwachses von Familiennachzug als oft
einzig verbleibender legaler Möglichkeit zur Migration werden
»Migrationswillige (…) zu Artisten der Grenze, die die Ressource
Heirat und (…) Kind als Migrationsweg entdecken.«(14) Der Beitrag
beleuchtet Heiratsverbindungen zwischen Herkunfts- und
Ankunftsland, die Spannung zwischen Familienloyalität in
traditionalen Familienkonstellationen und deren Funktionalität oder
auch Funktionalisierung bei der Migrationsbewältigung. Motive und
Phänomene, auch Kinder als Ressource einzusetzen, um Migrationswege
zu öffnen (vgl. 17) werden am Beispiel des sogenannten
»Entbindungstourismus« aufgezeigt, wenn der Geburtsort zu
Aufenthaltsrecht und Familiennachzug verhilft. Erziehung und
Bildung auch im fernen Ausland und unter dem Preis der Trennung von
den Eltern, bilden einen weiteren Schwerpunkt. Der Beitrag
diskutiert abschließend die normativen Implikationen zwischen
Zweckhaftigkeit einer Ehe oder Elternschaft als Vorsorge und
romantischer Liebe oder emotional betontem Kinderwunsch zwischen
Tradition und Moderne. Die »Aura des Anrüchigen« beim Thema
Heiratsmigration (21) soll versachlicht werden und eine polare
Gegenüberstellung zwischen Gefühl und Romantik einerseits und
Zweckdenken und Materialismus andererseits komme in ihrer
Schlichtheit den vielfältigen empirischen Mischungsverhältnissen
dieser Kategorien kaum auf den Grund. Freilich wird am Ende den
LeserInnen der westlichen Moderne eine Revision ihrer vertrauten
Vorstellungen von Familie, Ehe und Elternschaft nahegelegt, um
migrantische Motive auch als Spiegel politischer, sozialer,
rechtlicher und ökonomischer Bedingungen zu verstehen.
Damit ist die Frage nach empirischen, vor allem qualitativen
Befunden aufgeworfen, die Eltern- und Kindschaftsverhältnisse in
Migrationskontexten und mögliche psychosoziale Folgen auch aus der
Perspektive der je subjektiven oder familienbezogenen Perspektive
zur Sprache bringen. Hierzu liefern die Beiträge im zweiten Teil
des Buches aufschlussreiche Einblicke, von denen einzelne hier
erwähnt werden:
Joseba Achotegui, der u.a. an der Universität von Barcelona zur
psychischen Gesundheit, Betreuung und Behandlung von Immigranten,
Minderheiten und sozial Ausgegrenzten forscht und lehrt,
verdeutlicht zusammen mit Elisabeth Rohr das »Ulises-Syndrom«, ein
von ihm 2002 entwickeltes Konzept zur Erfassung migrationsbedingter
Stressoren in interkultureller Perspektive.
Auf der Basis einer qualitativen Studie anhand von Interviews mit
heute zwischen 30 und 50 Jahre alten türkisch-stämmigen Männern und
Frauen, die früher als Kinder von ihren nach Deutschland migrierten
Eltern bei Verwandten in der Türkei zurückgelassen worden waren und
erst später nachgeholt wurden, zeigt Gülcin Wilhelm (»Eine
Generation packt ihre Koffer«) persönliche Kränkungen und Härten
auf. Die Trennung von den Eltern wurde überwiegend als »extreme
Stresserfahrung« erinnert und selbst, wenn dies bei einigen
»ungeahnte Stärken hervorgerufen« habe, so bezögen sich diese »im
Wesentlichen auf den beruflichen Bereich und nicht auf den Bereich
der persönlichen Gestaltung von Beziehungen« (77). Verweigerte
Abschiede und oft lange Trennungsphasen, die Unerfahrenheit der oft
noch sehr jungen Mütter, fehlende Väter oder Vorbilder für
Erziehung zeitigen transgenerationelle Folgen, die mit der frühen
Migration der 1950er und 1960er Jahre einhergehen (vgl. 71). Auch
wenn die Befragten sich keineswegs als »Opfer« sehen, prägen
Unbeständigkeit, Rastlosigkeit und Unruhe und eine oft gestörte
Generationen-Beziehung die Biografien, ob hier freilich das
»versteckte Leiden einer ganzen Generation« (78) vorliegt, bedarf
weiterer empirischer, auch quantitativer Studien.
Elisabeth Rohr identifiziert in ihrem Beitrag »Die Globalisierung
von Intimität« bestehende Forschungsdefizite in Hinblick auf das
Schicksal von Kindern und Jugendlichen in Migrationskontexten und
referiert Befunde aus einem mit Elin Rau durchgeführten
Forschungsprojekt über transnationale Kindheit, das das Schicksal
von in Ecuador zurückgelassenen Kindern von Migranten zum
Untersuchungsgegenstand hatte. Nur knapp die Hälfte der in Ecuador
zurückgelassenen Kinder können ihren Eltern in die Migration folgen
(FN 112). Hier kann gezeigt werden, dass die oft gestellte
Schuldfrage – Mütter oder Verhältnisse, »mother-bashing« oder
Heroisierung – zu kurz greift. Transnationale Mutterschaft und
transnationale Kindheit sind mit erhöhten gesundheitlichen und
psychosozialen Risiken verbunden und der Glaube, es existierten »in
den Ländern des Südens intakte großfamiliale Lebensverhältnisse«
die durch Liebe, Fürsorge und Geborgenheit die oft schmerzhaften
Trennungserlebnisse und deren Folgen zu kompensieren vermögen,
entpuppt sich als Illusion (109).
Die transgenerationelle Problematik von Phänomenen von »care drain«
(- Großeltern verlieren die Fürsorge ihrer migrierten Kinder und
sollen gleichzeitig erneut Elternfunktion für die Enkel übernehmen
-) bis »care chain« ( – Modifikationen der Bindungen zwischen
Müttern, leiblichen getrennt lebenden Kindern und in der Migration
versorgten Kindern -) wird hier plausibel verdeutlicht.
Anca Gheaus greift dies aus moralphilosophischer Perspektive und
unter Gesichtspunkten politischer Philosophie
gerechtigkeitstheoretisch auf und fragt ebenfalls nach
»Auswirkungen des ‚care drain‘ und die Verantwortung für die Kinder
der Migration« (137). Kritisiert wird die Unzulänglichkeit eines
rein utilitaristischen Modells (z.B. bei Bhagwai, vgl. S.140). Die
Tatsache, dass viele Migrantinnen weltweit ihr familiäres
Zusammenleben aufgeben müssen, um als Sorgende gegen Lohn für
Familien zu arbeiten, die nur dadurch ihre eigene Karriere sichern
können, dass sie ihre Angehörigen gut versorgt wissen, führt zu
Dilemmata, zwischen Familie und Arbeit wählen zu müssen (Vgl.149).
Vor dem Hintergrund, dass ein ökonomisches System, das die
Ermöglichung der Sorge für andere nicht erfüllt, grundlegend
schlecht ist (sensu Engster), werden politische Lösungen
abschließend zur Diskussion gestellt.
Gegen eine grundsätzliche Verallgemeinerung negativer Effekte für
Kinder bei elterlicher Migration sprechen Studien, die der sehr
differenzierte Aufsatz von Nausikaa Schirilla zur
»Transnationale(n) Mutterschaft und die psychosozialen Folgen der
Elternmigration für Kinder in Osteuropa« auf der Basis
einschlägiger Forschungen verarbeitet. Folgen transnationaler
Mutterschaft werden hier ohne Moralisierungen im Anschluss an
Forschungen z.B. von Helma Lutz zu den ca. 150.000 überwiegend
osteuropäischen Migrantinnen und von Studien zu
lateinamerikanischen und philippinischen Migrantinnen analysiert.
Die hier getroffene Differenzierung zwischen »Sorge um-« und »Sorge
für die Kinder« bezieht die Nutzung sozialer transnationaler
Netzwerke ohne deren Romantisierung ein (125), und benennt negative
Effekte der Trennung als Risikofaktoren, ohne Verallgemeinerungen
das Wort zu reden. Weder Heroismus gegenüber den Leistungen der
transnationalen Mütter, noch Skandalisierung elterlichen Verhaltens
und Viktimisierung der Kinder bilden die Richtschnur für eine
Perspektive, die den Aufbau sozialer Unterstützung sowohl in den
Herkunfts- wie in den Zielländern einfordert. (Vgl. 133).
Die Forschungsarbeit von Simon Moses Schleimer ( »Remigrierte
Flüchtlingskinder im Irak«) untersucht anhand tiefenhermeneutischer
Verfahren sensu Lorenzer die Remigration kurdischer Jugendlicher im
Nordirak, die jahrelang in Deutschland gelebt haben und aufgrund
ihrer Rückkehr zwischen 2004 bis 2008 mit einer
»Retraditionalisierung von Geschlechter- und Lebensverhältnissen«
(87) und einer patriarchal orientierten Bevölkerung konfrontiert
waren. Retraumatisierungen zwischen Loyalitäts- und
Identitätskonflikten werden hier anhand einer vor allem auch
forschungsmethodisch interessanten Kombination aus narrativen
Interviews mit Elementen einer ethnopsychoanalytischen Haltung (88)
ermittelt. So kommt auch diese Studie zu dem Schluss, dass erst die
sozialpsychologische Perspektive Problemhorizonte offenlegt, die
allein unter den Vorzeichen ökonomischer, politischer und sozialer
Ressourcen unerkannt zu bleiben drohen.
Diskussion
Mehrere Beiträge dieses Bandes bezeugen in der Zusammenschau ein
Spannungsfeld hinsichtlich der Frage, wie in normativer Hinsicht
transnationale Migration und die darauf fokussierte Forschung, die
einhergehenden Chancen und (psychosozialen) Risiken werten soll:
Einerseits geht es um die Anerkennung neuer transnationaler
Netzwerke und ihrer Ressourcen für alle Beteiligten. Die in
Alltagsdebatten häufige moralisierende Geringschätzung
migrantischer Mütter als »Rabenmütter« verbietet sich vor dem
Hintergrund eines Wissens überaus komplexer Wirkungszusammenhänge,
das in diesem Buch verfügbar gemacht wird. Die Mehrzahl der
aufgeführten und hier diskutierten Studien tendiert jedoch auch zu
Befunden, die eine erhebliche Vulnerabilität vor allem für die
Kinder bescheinigt und die jedweder Romantisierung transnationaler
sozialer Netzwerke einen kritischen Spiegel vorhält.
Es ist gut, dass diese Spannung in der normativen Bewertung der
deskriptiv erfassten Migrationsverhältnisse nicht einfach einseitig
aufgelöst wird und hier widersprüchliche Tendenzen sichtbar werden
und bleiben.
Kritisch wäre anzumerken, dass eine einleitende Klärung des
inzwischen sehr weitläufig und systematisch unscharfen
Verständnisses von ‚Globalisierung‘ fehlt; Auch eine zumindest
kurze Hinführung zum Stand der transnationalen Migrationsforschung
wäre wünschenswert, wenngleich einige Autorinnen – etwa mit
Hinweisen auf die Studien von Ludger Pries – dies in ihren
Beiträgen tun.
Fazit
Der Anspruch, der relativ gut erforschten Lebenslage migrierter
Erwachsener hier Einblicke und Befunde aus einschlägigen Studien
und Forschungen zur Vulnerabilität ihrer Kinder zur Seite zu
stellen, ist gelungen. Die überwiegend forschungsbasierten
Einblicke zu psychosozialen Folgen im Kontext von
Migrationsverläufen sollten jedoch nicht dazu verführen, Migration
allgemein zu einem psychopathologischen Risiko zu erklären. Ein
überwiegend gut lesbares Buch, das auch für Betroffene
aufschlussreich sein dürfte. Die Lektüre ist für Studium und Lehre
wie für am Thema Interessierte zu empfehlen.
Zitiervorschlag
Thomas Eppenstein. Rezension vom 16.11.2015 zu: Elisabeth Rohr,
Mechtild M. Jansen, Jamila Adamou (Hrsg.): Die vergessenen Kinder
der Globalisierung. Psychosoziale Folgen von Migration.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. ISBN 978-3-8379-2352-0. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/17672.php, Datum des Zugriffs
30.11.2016.
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