Rezension zu Johann Christian Reil (PDF-E-Book)
Zeitschrift für Medizin-Ethik-Recht, 6. Jahrgang, 1/2015
Rezension von Andreas Walker
Jeder Hallenser kennt Johann Christian Reil zumindest dem Namen
nach: Es gibt eine Reilstraße, ein Reileck und eine Reilschule.
1803 bekam Reil vom preußischen König Friedrich Wilhelm III den so
genannten Schafsberg geschenkt. Reil ließ auf dem Areal eine Villa
bauen und einen Park anlegen. Heute beherbergt das seit 1901 in
Reilsberg umbenannte Gebiet die Anlagen des halleschen Zoos, auf
dem auch das Grab Reils zu finden ist. 1913 wurde auf dem höchsten
Punkt des Berges ein Turm errichtet, der ebenfalls Reils Namen
trägt.
Den gebürtigen Ostfriesen verschlug es 1780 als Student zum ersten
Mal nach Halle, wo er 1782 in Medizin und Chirurgie promovierte.
Das obligatorische Praktikum zur Approbation als preußischer Arzt
absolvierte er in Berlin. Danach war er einige Jahre als
praktischer Arzt in Norden tätig. 1787 nahm er eine
außerordentliche Professur der Medizin in Halle an, wo er von 1789
an auch das Amt des Stadtphysikus bekleidete. Ein Stadtphysikus war
für die hygienischen Bedingungen der Stadt und der
Gesundheitsvorsorge der Bevölkerung verantwortlich. Er habe aber
auch die Oberaufsicht über die Apotheken, Chirurgen und Hebammen
und musste jedem unabhängig vom Vermögen mit medizinischem Rat und
Tat zur Seite stehen. Reil hatte das Amt des Stadtphysikus zwanzig
Jahre inne, ehe er 1810 an die Berliner Universität berufen wurde.
Zu Reils Verdiensten zählte insbesondere sein Einsatz für die
Lazarettsituation, dienten diese damals noch häufig als soziale
Asyle. Reil setzte sich dafür ein, die Ansteckungsgefahr zu
mindern, indem er Kranke von den übrigen Bewohnern absonderte. Die
Verbesserung der Lazarette in ganz Preußen war ihm dann auch in
seiner Berliner Zeit ein besonderes Anliegen.
Darüber hinaus beschäftigt sich das von Florian Steger
herausgegebene Buch, dem eine Tagung 2013 anlässlich des 200.
Todestags Reils zugrunde liegt, mit »Reils Beitrag zur
Neuroanatomie« (Olaf Breidbach) – nach Reil ist die Reilsche Insel
des Großhirns benannt –, mit seinem »Konzept der Psychotherapie«
(Dietrich von Engelhardt), mit dem integrativen »Modell psychischer
Störungen« (Frank Pillmann und Dan Rujescu) oder mit der Rezeption
Reils durch Arthur Schopenhauer (Jürgen Brunner), der zwar Reils
»Modell des Cerebral- und Ganglienbegriffs übernimmt«, seinen
Begriff der Lebenskraft kritisiert, weil er ihm zu materialistisch
erscheint. (S. 206) So sehr Reil einen ganzheitlichen Ansatz
vertritt und zu Recht als Theoretiker des »Seelenorgans« gewürdigt
und als »Wegbereiter der Psychiatrie« (schließlich verdanken wir
ihm diesen Begriff) in dem Sammelband gesehen wird, umso mehr
vermisst man eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Reils.
Zwar weist Heidi Ritter in ihrem Beitrag (»Reils Diskurs über den
Wahnsinn und die romantischen Dichter«) darauf hin, dass Reils
Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf
Geisteszerrütungen auf wenig empirischem Material fußen, sondern
sich eher von Krankheitsbeschreibungen, die in Frankreich und
England entstanden waren, inspirieren ließen. Wie jedoch Klaus
Dörner zeigen konnte, war Reils Auseinandersetzung mit den »Irren«
eher philosophischer Natur und habe wenig praktische Konsequenzen.
Reil forderte allerdings eigene Heilanstalten für die »Irren«,
waren sie zuvor doch in Gefängnissen untergebracht. Die Methoden
der psychischen Kur jedoch, die Reil vorschwebten, damit die
»Synthesis im Bewusstsein« wiederhergestellt wird, erinnern an
Folter: Hierzu zählen das Hervorrufen von Hunger und Durst, die
Anwendung von Niesmisteln, Verwendung glühender Eisen beim
Kopfwirbel, das Peitschen mit Brennnesseln auf Rücken, Armen und
Beinen, das Verursachen der Krätze, »Züchtigungen durch
Ruthenstreiche«, die Dusche mit kaltem Wasser. »Diese und andere
Körperreize, welche direct durchs Gemeingefühl allerhand Arten des
Schmerzes erregen, passen vorzüglich zum Anfang der Cur und für die
erste Periode der Krankheit. Durch sie wird der Irrende unterjocht,
zum unbedingten Gehorsam genöthigt und zur Cur vorbereitet.« Reil
gibt sich hier als Erbe der Brown’schen Erregungstheorie zu
erkennen und gleichzeitg als Adept preußischer Gehorsamspflichten.
Im Anschluss an diese Methoden sollen die angenehmen Gefühle des
Kranken geweckt werden: »Wir lassen ihn frieren, hungern, dursten;
erwärmen ihn dann und laben ihn mit Speise und Trank«. Dennoch
verfolgte er mit seinen Methoden einen bestimmten Zweck. »Die
Züchtigungen müssen nicht unmässig und grausam sein, und gleich
unterbleiben, wenn der Zweck wegfällt, oder erreicht ist. Sie
werden in dem Maasse gemildert und abgeändert, als die Vernunft
wiederkehrt.« Diese Ambivalenz, die zumindest das von der
Naturphilosophie geprägte, romantisch orientierte Werk Reils
auszeichnet, hätte in dem Sammelband stärker herausgearbeitet
werden können. Gleichwohl bleibt das Buch äußert lesenswert, will
man sich einen ersten Eindruck von Reils Wirken verschaffen.
Reil übernahm 1813 die Leitung der Militärhospitäler in Halle und
Leipzig. Dort erlebte er im Oktober die Völkerschlacht gegen
Napoleon Bonaparte. Reil selbst erkrankte an Typhus. Am 22.
November verstarb er in Halle.