Rezension zu Sucht
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Rezension von Andreas Spohn
Fortgeschrittene Substanz-Selbstregulierer auf die Couch?
Voigtel weiss, wovon er schreibt: der Psychoanalytiker hat ein
Berliner Modellprojekt zur Suchtprävention geleitet und auch sonst
langjährig mit Abhängigen therapeutisch gearbeitet.
So referiert er zunächst die ersten Annäherungsversuche der
Psychoanalyse an Abhängigkeitserkrankungen, etwa Freuds Paradigma
der perversen Selbstbefriedigung (»Ersatz mangelnden
Sexualgenusses«, spezifisch oral auch als Nachfolger fürs
Daumenlutschen), Sándor Radós’ »Initialverstimmung«
(selbstallergische Abwehr gegen eine Unlustspannung), Edward
Glovers und Wolfgang Tress’ »Selbsthass« und Krystal & Raskins
»resomatisierter Uraffekt« (in Deutschland vertreten von Anneliese
Heigl-Evers).
Spätere psychoanalytische Einlassungen führen zu Léon Wurmsers
»Affektregression« (für die bald nur noch sekundäre Gefühle wie
Schuld und Scham vorherrschen), der Idee des Nachwirkens fehlender
nachahmbarer »Selbstobjekte« (Kohut, Burian) oder mehrere
Perspektiven nebeneinander zusammenfassenden Modellen (etwa
Wolf-Detlef Rost oder Andrés Rascovsky).
Leider fehlt im geschichtlichen Abriss das »Genießen« Lacans, das
die Disziplin auch im Exzess, die Irrationalität des
Rationalitätseskapismus als menschtypisch verallgemeinert.
Generell findet Voigtel, dass Suchtmittel für die Tendenz stehen,
Affekte autistisch, ohne Umweg über andere zu regulieren. Im
unkontrollierten Missbrauch finde man regelmäßig psychoanalytisch
benennbare Abwehrformen: Reaktionsbildung, Vermeidung und
Projektion bilden so etwas wie eine Form placeboartigen Glaubens an
ein subjektives Heilsversprechen.
Voigtel unterstellt Süchtigen eine über Symptombildern schwebende,
fixierte Persönlichkeit, für die er alsdann eine wahrscheinliche
Genese beschreibt:
Ausgehend von der anaklitischen (anlehnenden) »Überlassung« (um
Zurückweisungen auszuweichen alles mit sich machen lassen) übers
Aufsuchen isoliert-sicherer Rückzugsorte, die Erhebung halbgarer
materieller Zuwendungen wichtiger Bezugspersonen zu
verehrenswürdigen Objekten/Liebesrepräsentanzen kommt es
schließlich (unterm Flüggewerdezwang) zur Fetischisierung der
Droge.
Voigtel unterscheidet zwischen durch früh fixierte
Persönlichkeitsaspekte ausgelöster und auf Härten des Lebens
reagierender Sucht. So macht es Sinn, entsprechend therapeutische
Leitlinien für die Therapie symptomatischer und struktureller Sucht
an die Hand zu bekommen.
Ganz wunderbar sind die eingestreuten Fallvignetten, die
authentisch scheinen und so ganz ohne die sonst oft auffallend
bemühte Konstruktion zur Veranschaulichung der Theorie passen.
Die eigens behandelte Übertragungssituation wird als Chance
beschrieben, Affekt- und Beziehungsängste bewusst zu machen.
Therapeutisch sei es Ziel, das schwache Selbst der Patienten so
weit zu stärken, dass es immer weniger auf süchtige Abwehr
angewiesen ist.
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