Rezension zu »Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste«
The International Newsletter of Communist Studies, Vol. 20/21, No. 27-28 (2014/2015)
Rezension von Marcel Bois
Herbst 1944: Die Ostfront rückt immer näher, das
Konzentrationslager Plaszow südöstlich von Krakau steht kurz vor
der Räumung. Nach und nach sollen die Gefangenen Richtung
Deutsches Reich abtransportiert werden. In diesen Tagen fällt der
jüdischen Schreibkraft Hilde Berger zufällig ein Papier in die
Hände. Dem ist zu entnehmen, dass die rund eintausend Gefangenen
eines kleinen Nebenlagers nach Brünnlitz (Brněnec) in der
Tschechoslowakei gebracht werden sollen. »Mir wurde klar, dass
dieser Brünnlitz-Transport bessere Überlebenschancen hatte als
alle anderen Transporte«, erinnert sich Berger später (S. 54).
Kurzerhand trägt sie sich und einige Freunde auf dieser
Transportliste ein. Bergers Gespür ist richtig: Sie überlebt – es
handelt sich um die vom Krakauer Industriellen Oskar Schindler
zusammengestellte Liste, das Papier erlangt ein halbes Jahrhundert
später Berühmtheit, als Steven Spielberg ihm in »Schindlers
Liste« 1993 ein filmisches Denkmal setzt. [1]
Mit der restlichen Familie Berger meint es das Schicksal hingegen
weitaus weniger gut: Bruder Hans wird 1942 in Auschwitz ermordet.
Im selben Jahr bringen die Nazis auch die Eltern und Schwester
Regina um. Hildes erster Mann Alfred Bakalenik überlebt den
Holocaust ebenfalls nicht. Einzig Schwester Rose übersteht – in
der Illegalität in Frankreich – die NS-Zeit unbeschadet. Nach dem
Krieg siedeln die beiden Schwestern in die USA über, wo sie bis
vor wenigen Jahren lebten. Die 1918 geborene Rose verstarb im Jahr
2005. Hilde, Jahrgang 1914, lebte sogar bis 2011.
Der Freiburger Philosophie-Professor Reinhard Hesse kannte die
Bergers seit seiner Jugend und war schon lange von deren
Lebensgeschichten fasziniert: »Zwei Berlinerinnen, die keine
Deutschen waren, jedenfalls keine deutschen Staatsbürgerinnen, und
die doch ein Leben geführt haben, das auf dramatische,
existenzielle Weise durch ihren Kampf für ein besseres Deutschland
geprägt gewesen ist. Zwei Jüdinnen, die sich früh vom Judentum
abwandten und die doch den moralischen Impetus ihres jüdischen
Vaters und die menschliche Haltung ihrer jüdischen Mutter, gerade
auch in ihrem Kampf für ein besseres Deutschland, durchgehalten
haben« (S. 9).
Kurz vor ihrem Tod überzeugte Hesse die Schwestern davon, »dass
ihre Lebenserinnerungen nicht einfach in einer Ablage in Denver
oder in einem New Yorker jüdischen Museum verstauben sollten« (S.
15). Er hat nun einen Band zur Geschichte der beiden
Holocaust-Überlebenden herausgebracht, in dem zahlreichen
Dokumente versammelt sind – neben Fotos und Briefen vor allem
verschiedene Interviews, die Familienangehörige und Freunde
zwischen 1978 und 2005 mit Hilde und Rose geführt haben. Den
Einstieg liefert ein längerer Erinnerungsbericht von Hilde Berger
aus dem Jahr 1980. Er umfasst die Zeit bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs.
Die Berger-Geschwister wuchsen in Berlin in ärmlichen
Verhältnissen auf. Ihre Eltern waren als polnische Juden vor dem
Ersten Weltkrieg in die deutsche Hauptstadt gekommen. Der
strenggläubige Vater besaß zunächst eine kleine Schneiderei.
»Weil er den Sabbat streng einhielt«, erinnert sich Hilde, »war er
nicht konkurrenzfähig. Daher versuchte er es mit einem
Einzelhandelsgeschäft für Damenbekleidung.« Im Grunde sei er
jedoch »an allem Geschäftlichen uninteressiert« gewesen. »Als
streng religiöser orthodoxer Jude sah er seinen Lebensunterhalt
vor allem darin, Gott zu dienen und seine Kinder zu guten Juden zu
erziehen« (S. 21). Doch gerade damit sollte er scheitern: Abgesehen
von Regine gingen alle Kinder schon früh auf Distanz zu seinen
religiösen Ansichten und schlossen sich stattdessen einer
sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation an.
Bei dieser Gruppe blieben die Geschwister jedoch nicht lange.
Hilde, Hans und einige Mitstreiter gelangten bald zu der
Einschätzung, »dass es nicht ausreichte, nur die Juden befreien zu
wollen. Wir wollten ganz Deutschland befreien, alle Arbeiter« (S.
121). Deshalb traten sie im Jahr 1931 dem Kommunistischen
Jugendverband (KJVD) bei. »Wir nannten das die ›rote Assimilation‹«
(S. 23). Obwohl Hilde der Meinung war, politisch den richtigen
Schritt getan zu haben, fühlte sie sich in der neuen Organisation
nie richtig heimisch: »Ich muss gestehen, dass die Art der Leute in
der kommunistischen Jugend nicht nach meinem Geschmack war. Ich
meine deren geistigen Standards, welche Art von Büchern sie lasen,
wie sie über Dinge diskutierten. Ich hatte mich an das
intellektuelle Kaliber der Leute in der sozialistisch-zionistischen
Bewegung gewöhnt. Dort hatte ich Jugendliche kennengelernt, die
belesen und nicht nur an Politik interessiert waren, sondern auch
an Kunst und Literatur und die eine bessere Allgemeinbildung hatten
als die meisten Genossen in der kommunistischen Jugend« (S.
91).
Nach einiger Zeit kamen Zweifel am Zustand der KPD hinzu. Die
Stalinisierung der Partei war schon weit fortgeschritten: Die
innerparteiliche Demokratie war abgestorben, die politische Linie
wurde aus Moskau vorgegeben. Das entsprach nicht Hildes
Vorstellungen: »Ich war davon überzeugt, dass eine wirklich
revolutionäre Partei offene Debatten über ihre eigene Politik
erlauben müsse, auch Fraktionsbildungen, dass sie mit anderen
Worten in ihrer inneren Struktur demokratisch und frei sein müsse«
(S. 111).
Vor allem die aus Moskau vorgegebene »Sozialfaschismusthese« fand
sie falsch. Die Parteiführung setzte Sozialdemokraten mit
Faschisten gleich. Ein gemeinsamer Kampf gegen die Nazis war
dementsprechend nicht möglich. »Ich war naiv genug, gegen dieses
m.E. verheerende kommunistische Konzept anzugehen und so stieß ich
mit dem Apparat der Jungkommunisten zusammen, der Linientreue
gegenüber der KPD einforderte und genauso rigide war wie die KPD
selbst. Was mich am meisten aufregte, war das Verbot kritischer
Äußerungen. Die Antwort auf meine Zweifel lautete: ›Wenn du nicht
für die Parteilinie bist, stellst du dich außerhalb der
Organisation und bist unser Feind.‹ Wieder hörte ich
antiintellektuelle und sogar antisemitische Untertöne, obwohl
einige der Jungkommunistenführer Juden waren« (S. 25f.).
In dieser Zeit kam Hilde Berger in Kontakt zur trotzkistischen
Linken Opposition der KPD: »Wir lasen Trotzkis Bücher über die
russische Revolution, erst ›Februar‹, dann ›Oktober‹, alles was wir
von ihm auftreiben konnten« (S. 68). Das bestärkte sie in ihrer
Haltung: »Je mehr ich über das las, was Trotzki wollte, je mehr
ich mit Trotzkisten sprach, desto mehr war ich davon überzeugt,
dass die Linie der kommunistischen Partei nicht die richtige war«
(S. 111). Im Jahr 1932 schloss sie sich zusammen mit ihrem Bruder
der Gruppe an. Hans stieg bald in deren Führung auf und arbeitete
während der NS-Zeit als Kurier. Auch die wesentlich jüngere Rose
wurde Mitglied der Trotzkisten, war aber aufgrund ihres Alters
»nicht so richtig« aktiv (S. 153).
Rückblickend wertete Hilde den Schritt zur trotzkistischen
Opposition als den »prägendste[n] für die Entwicklung der
politischen Person, die ich später wurde« (S. 68). Auch privat
hatte er Auswirkungen für die Berger-Schwestern. Rose lernte hier
Arthur Reetz kennen, ihren späteren Mann, mit dem sie ins
französische Exil ging und später nach Denver zog. Und auch Hilde
arbeitete hier eng mit einem Mann zusammen, den sie zwei Jahrzehnte
später heiraten sollte. Sein Name war Alex Olsen. Doch zunächst
ging dieser nach Mexiko und wurde Trotzkis Mitarbeiter. Ende der
1930er Jahre übersiedelte er schließlich auf Trotzkis Rat hin in
die USA. Erst dort traf er Hilde nach dem Krieg wieder und die
beiden wurden ein Paar.
Größtenteils berichten Hilde und Rose Berger über ihr Leben
während der NS-Herrschaft. Doch immer wieder blitzt gerade in
Hildes Erzählungen ihre Kritik am Stalinismus auf. Beispielsweise
beschreibt sie, wie die KPD sie und andere Oppositionelle den Nazis
offen denunziert und damit quasi ans Messer geliefert habe: »Die
Kommunisten unseres Viertels kannten uns als Trotzkisten. Auf ihren
illegalen Flugblättern veröffentlichten die Kommunisten Namen von
Trotzkisten und anderen ›Konterrevolutionären‹ und beschimpften
sie als gefährliche Feinde der revolutionären Bewegung.
Unweigerlich fiel solches Material der Gestapo in die Hände« (S.
28).
Später, zu Kriegsbeginn, lebte sie für eine kurze Zeit im
russisch besetzten Teil Polens. Hier beobachtete sie, wie der
vermeintlich sozialistische »Arbeiter- und Bauernstaat« mit den
Arbeitern umging: »Das Leben unter der russischen Besatzung war
hart und trostlos. Es wurde eine strenge Arbeitsdisziplin
eingeführt. Wenn ein Arbeiter dreimal zu spät kam, wurde er
gefeuert. Auf Betriebsversammlungen forderten Arbeiter bessere
Arbeitskleidung und humanere Arbeitsbedingungen, aber der, den sie
zum Sprecher auserkoren hatten, wurde verhaftet und man sah ihn nie
mehr wieder. Bald traute sich niemand mehr, solche elementaren
Dinge anzusprechen, die in kapitalistischen Ländern zu den
normalen Forderungen der Gewerkschaften gehörten und als legitime
Streikgründe galten.« (S. 38)
Reinhard Hesse ist nicht der erste, der auf die Geschichte der
Familie Berger aufmerksam macht. Im Jahr 2003 veröffentlichte
beispielsweise Steffen Mensching den Roman »Jacobs Leiter« und
berichtete darin ausführlich über die Akivitäten von Hans und Hilde
im antifaschistischen Widerstand. [2] Auch in Peter Berens’
wissenschaftlicher Arbeit über »Trotzkisten gegen Hitler« spielten
die Bergers eine Rolle. [3] Doch erst in Hesses Buch kommen die
Geschwister selbst ausführlich zu Wort. [4] Hesse gebührt damit das
Verdienst, wichtige Quellen zur Geschichte der sogenannten
Zwischengruppen der 1920er und 1930er Organisationen, die jenseits
von Sozialdemokratie und Parteikommunismus wirkten, sind viel zu
wenige Zeitzeugenberichte überliefert.
Schade ist, dass die Nachkriegsgeschichte in den Erzählungen der
Berger-Schwestern fast keine Rolle spielt. Vor allem Berichte über
den New Yorker Emigranten-Stammtisch, an dem Hilde und ihr Mann
Jahrzehnte lang teilnehmen, wären sicher eine Bereicherung
gewesen. Umgekehrt gibt es vor allem zur Kriegszeit einige
Dopplungen in dem Band. Doch diese Problematik lässt sich, da Rose
und Hilde Berger bestimmte Etappen ihres Lebens mehrfach erzählen,
schwerlich umgehen.
Bemängeln kann man hingegen einen fehlenden Personenindex, der
gerade für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Band
hilfreich gewesen wäre. Außerdem wäre es hilfreich gewesen, wenn
Hesse bestimmte Sachverhalte für nichtkundige Leserinnen und Leser
erklärt hätte. Beispielsweise erfährt man hier nicht einmal den
Namen der trotzkistischen Organisation, der sich die Bergers
anschlossen, geschweige denn etwas zu deren organisatorischer
Entwicklung.
Stattdessen wendet Hesse in seinem einleitenden Beitrag
verhältnismäßig viel Energie in die Ehrenrettung des späteren
Krupp-Generalbevollmächtigten Bertold Beitz auf. Dieser war
während des Krieges Leiter der Karpathen-Öl AG in Boryslaw,
rettete hunderten jüdischen Zwangsarbeitern das Leben und wurde
später dafür als »Gerechter unter den Völkern« geehrt. Zu seinen
Mitarbeitern zählte auch Hilde Berger. Als Beitz sie nach dem
Krieg bat, ihm ein Leumundszeugnis auszustellen, weigerte sie sich.
Der Manager reagierte darauf mit der Vermutung, Berger sei wohl
»seelisch durcheinander – und schickte gleich hinterher: »[...] mit
Ihnen müsste man mal richtig ›deutsch‹ reden« (S. 216). Angesichts
solch harscher Worte verwundert die einseitige Parteinahme Hesses:
Er verteidigt Beitz und bezeichnet Berger als »selbstgerecht«.
Hildes Kritik daran, dass Beitz Geschenke von den Geretteten
annahm, empfindet er als »an den Haaren herbeigezogen« (S. 12).
Hier hätte dem Buch sicher ein wenig mehr Zurückhaltung seitens
seines Herausgebers gut getan.
Doch dies soll den ansonsten hervorragenden Gesamteindruck nicht
schmälern. Die Textsammlung, die Reinhard Hesse zusammengestellt
hat, ist unbedingt lesenswert.
[1] Nach dem Roman von Thomas Keneally (deutsch: München,
Goldmann, 1985).
[2] Steffen Mensching: Jacobs Leiter, Berlin, Aufbau-Verlag,
2003.
[3] Peter Berens: Trotzkisten gegen Hitler, Köln, Neuer ISP Verlag,
2007.
[4] Zumindest gilt dies für schriftlich publizierte Werke.
Regisseur Yosh Tata m interviewte Hilde Berger bereits für seinen
Dokumentarfilm »Glückselig in New York« (USA 1995). Im Jahr 1996
wurden Hilde und ihr Mann Alex Olsen zudem in die ARD-Talkshow
»Boulevard Bio« eingeladen, um über ihr Leben zu berichten.
www.incs.ub.rub.de