Rezension zu Tat-Sachen

Trauma & Gewalt. Forschung und Praxisfelder, 10. Jahrgang, Heft 1/2016

Rezension von Katharina Rasche

In »Tat-Sachen« analysieren die Autoren erstmals weltweit die besonderen Erzähl- und Sprechformen von Sexualstraftätern und gelangen zu tiefen Einblicken in das Erleben, Täuschungs- und Aufdeckungsstrategien, Zweifel und Rechtfertigungen und geben Hinweise für die therapeutische Praxis. Denn obwohl über Sexualstraftaten viel berichtet wird, mangelt es an hochwertigen Auseinandersetzungen. Die empirische, an der Identifikation von Wirkfaktoren, Therapieprozess und -ergebnis orientierte Forschung im Bereich der Forensischen Psychiatrie steht zu diesem Thema noch relativ am Anfang. An dieser Forschungslücke wollen die Autoren ansetzen und verfolgen dabei einen qualitativen Forschungsansatz. Sie nutzen eine neuartige Verbindung qualitativer Methoden, nämlich die KANAMA (Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse), die sie vor dem Hintergrund ihres psychoanalytischen Grundverständnisses anwenden.

Von 90 videographierten Gruppentherapiesitzungen mit 16 Sexualstraftätern aus der Sozialtherapeutischen Abteilung einer deutschen JVA wurden die 21 Sitzungen transkribiert, die zur Erstellung eines Tatnarrativs für jeden Teilnehmer erforderlich waren. Die Transkripte untersuchten die Autoren auf linguistischen Besonderheiten und Abwehrmuster. Die Teilnehmer waren wegen sexuellen Missbrauchs an Jungen und Mädchen, Exhibitionismus oder Inzest verurteilt.

Das Buch ist in 8 Kapitel mit jeweiligen Unterkapiteln gegliedert. In »Text und Kontext« wird der Leser an das Themenfeld herangeführt, mit dessen Forschungsstand und den Zielen der Autoren vertraut gemacht. Die Stu die möchte überprüfen, inwieweit sich »Wahrheit« im Sprechen selbst und weniger im gesprochenen Inhalt, finden lässt, möchte ein Bild der untersuchten Täter zeichnen und ihre Tatmotive sichtbar machen.

Im Kapitel »KANAMA: Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse« stellen die Autoren ihren Ansatz vor, die Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse zu kombinieren. Sie stellen die einzelnen Analyseformen und ihre Tradition ausführlich vor und erläutern dann ihre Arbeitsschritte.

»Der therapeutische Kontext in der Darstellung« zeigt, welche Mittel die Teilnehmer zu Beginn der Gruppensitzungen anwenden, um sich zu differenzieren, Gemeinsamkeit (und damit Sicherheit) herzustellen oder Hierarchien zu etablieren. Die Autoren gehen auf »dritte Option« ein, d.h. den »Raum zwischen Ja und Nein«. Gruppenteilnehmer versuchen diese beständig zu schaffen, um Klarheit und Auseinandersetzung zu vermeiden: »er muss sich darstellen als einer, der immer auch der andere sein könnte«. (S. 171) Die »dritte Option« korrespondiert mit einer Armut an Metaphern in der Sprache, die hier Aktenvermerken ähnelt. Im Verlauf von Gruppensitzungen, wenn die Teilnehmer konfrontativer werden, nimmt die Metaphorik zu.

In »Abwehrformationen in der Gruppe« geht es um die Kategorisierung von Ereignissen (als »Blutschande« oder nicht) und wie die Teilnehmer auch hier keine Entscheidung treffen (können), solange sie sich selbst nicht als »Sexualstraftäter« kategorisieren wollen. Die Autoren gehen u. a. ein auf das Dementieren der Verantwortungsübernahme durch Passivierungen (»es kam zum Missbrauch«) und ihrer Steigerung, der Entsubjektivierung. Besondere Bedeutung erhält die »Zählt-als«-Umwandlung, bei der das Delikt als etwas anderes konstruiert wird. Die Szene ist keine Sexualstraftat mehr, wenn sie als harmloses Kuscheln geschildert wird, bei dem durch »Zufälle« (»ihr ist das Nachthemd hochgerutscht«) »Vorfälle vorgekommen« sind, die das Gericht später als sexuellen Missbrauch gewertet hat. Über lange Zeit bestätigen sich die Teilnehmer auf diese, konfrontieren einander im späteren Verlauf jedoch mit ihren Unwahrheiten und Ausreden, die jeder so gut von sich selbst kennt.

»Mikrostrukturen der Konversation« widmet sich den Mitteln, mit denen die Gruppenmitglieder ihrer Darstellung Glaubhaftigkeit verleihen, wie sie die Glaubhaftigkeit anderer prüfen und wie sie durch »diabolisches Nachfragen« manchmal auch andere Ziele als die therapeutischen verfolgen. Die Gruppe gelangt zu einer Position, von der aus Empathie mit den Opfern möglich wird. Das Unterkapitel »Initialzündung - Der Blick« zeigt die Auseinandersetzung da¬mit, wie die Täter ihre Opfer von Anfang an als etwas anderes konstruiert haben und wie dies dem Delikt lange vorausging.

Im Kapitel »Die Rolle der Metapher in der Konversation« werden passende, »schräge«, unpassende und kreative Metaphern an Beispielen dargestellt. Weil der Sprecher mit einer Metapher entscheidet, als was er eine Situation sieht (z.B. als »Ablasshandel«), reduziert er die Komplexität der Situation und bezieht Stellung. Gleichzeitig erhöht er die Dimensionalität (z.B. eröffnet »Ablasshandel« das Bildfeld für Sünde). Es wird erläutert, welche Metaphern die Teilnehmer für ihre Biographien finden und welche Erzählformate sie für ihre Biographie nutzen. Dabei arbeiten die Autoren vier typische Erzählformate heraus: Krankengeschichte, Entwicklungsroman, Vita sexualis und Familiendrama. Die Wahl des Formats liefert Ansatzpunkte für die Therapie und Prognose.

Im Kapitel über »Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen« beleuchten die Autoren, wie das »stählerne« Männlichkeitsideal einem schwachen Weiblichkeitsideal gegenübersteht, Anzeichen von Weiblichkeit zur Hierarchisierung genutzt werden und welche Formen »beschädigter Männlichkeit« sich bei den Teilnehmern finden lassen. Es wird die väterlich-männliche Dominanz mit schwächer weiblicher Repräsentation (verständnisvoller Retter der Frauen,- selbstbezogener, sexuell-aggressiver Mann) einer mütterlich-weiblichen Dominanz bei schwacher männlicher Repräsentanz (impotenter Mann; verführter, unschuldiger Mann; ausgelieferter, beschämter Mann) gegenübergestellt. Welche Konstruktionen jemand verwendet, gibt Hinweise auf die Art der Selbstkonfrontation. Nach einem »Rückblick auf eine lange Strecke« folgen das Literaturverzeichnis und die Kurzbiographien der 16 Gruppenteilnehmer.

Den Autoren ist es gelungen, die Besonderheiten des Sprechens und Erzählens sehr fein und detailliert herauszuarbeiten, derer sich Sexualstraftäter zur Erzielung bestimmter Effekte bei anderen und bei sich selbst bedienen. Sie bieten einen bedrückenden Einblick in die traurigen, verklemmten Sexualitäten dieser 16 Männer, die wenig gemein haben mit den enthemmten »Sexbestien« des Boulevards. Daneben vermittelt die Lektüre angesichts des enormen Backgrounds der Autoren viel an fundiertem Wissen der psychologischpsychotherapeutischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Für an qualitativen Methoden interessierte Forscher I ist der ausführliche Methodenteil (KANAMA) eine reichhaltige Informationsquelle.

Für den Leser ist es packend und lehrreich, im Laufe der Kapitel zu sehen, wie die Männer ihre Taten verschleiern, enthüllen, wieder verschleiern, wieder enthüllen, sich so an ihre eigene Schuld herantasten und an welchen Feinheiten sich ihre Veränderungen und Rückschritte ablesen lassen.

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