Rezension zu »Liebe auf Abwegen«

Psycho-News-Letter Nr. 74

Rezension von Michael B. Buchholz

Einen ganz eigenen Weg in der psychoanalytischen Deutung von Filmen geht Mathias Hirsch in seinem Buch »Liebe auf Abwegen – Spielarten der Liebe im Film psychoanalytisch betrachtet« (Psychosozial-Verlag 2008). Er betrachtet 15 Filme unter Überschriften wie Mutterliebe, Vaterliebe, Sohnesliebe, Bruderliebe; aber es fehlen auch nicht die Liebesunfähigkeit oder die Selbstliebe, die perverse Liebe oder die Liebe in der Therapie.

Was dem Band von Döring/Möller den Titel gab, der Film »Belle de Jour« taucht hier unter dem Stichwort der perversen Liebe auf und war dort als filmische Illustration des sexuellen Masochismus von Tanjana Noemi Tömmel und Sieglinde Eva Tömmel beschrieben worden. Der Regisseur Bunuel zielte aber fraglos auch auf eine Kritik der Institution Ehe, einen Aspekt, den Hirsch stärker herausstellt. Und wir finden auch hier wieder die Anspielung auf die Gegensätze von Schwarz und Weiß, wenn Hirsch die anspielungsreichen Details der Protagonistin Séverine (eine verheiratete Frau, die sich als Prostituierte in einem Tagesbordell verdingt), beobachtet und analysiert:

»Im Film übrigens scheinen mir die gegensätzlichen Welten durch die Kleidung Séverines markiert zu werden: Im Skiurlaub und auf dem Tennisplatz ganz in Weiß gekleidet (als Ausdruck der ›reinen‹ äußeren Welt), erscheint sie auf dem Weg zum Etablissement, dass ihre dunkle Seite repräsentiert, in schwarzem Mantel und mit schwarzer Kappe. Erst im weiteren Verlauf wird auch einmal das Schwarz im bürgerlichen Heim getragen; gegen Ende kommen beide Welten zu ihrem Recht, ausgedrückt wohl mit dem schwarzen Kleid Séverines, unter dem ein weißer Kragen und weiße Manschetten hervorragen; sie sieht aus wie eine frühreife Schülerin« (S. 102).

Und ein paar Zeilen weiter findet Hirsch eine am Material des Films gewonnene anschauliche Erklärung:

»Was steckt nun hinter der Notwendigkeit für Séverine, die Welten der Liebe und der Sexualität derartig getrennt zu halten? Bunuel versteckt den Schlüssel geschickt genau an der Stelle, an der erstmalig eine Vereinigung der Welten droht: Husson, der Bote der ›schwarzen Welt‹, dringt ein in die ›weiße‹, indem er Rosen schickt. Séverine zerbricht die Vase, in der die Rosen stehen, anscheinend mehr absichtlich als durch Fehlleistung, wie sie gleich anschließend das Parfumfläschchen fallen lässt: Dieses erscheint mir die ›weiße‹ Bürgerwelt zu repräsentieren, wie die Rosen die ›schwarze‹« (S. 103).

Hirsch geht mit dieser Deutung über die Vorstellung, dass die Seele gespalten sei, hinaus; er sieht die Protagonistin in verschiedenen »Welten« lebend. Und diese bilden für sie durchaus je eine Realität. Eine solche Deutung ist sympathisch, weil sie etwas Wichtiges verständlich macht: in verschiedenen, ja sogar in vielen Welten leben wir alle und wir halten sie – etwa die Welt der Arbeit und die des Privaten, die Welt des Alltags und die des Sonntags, die der Kinder und die der Erwachsenen, das Tag- und das Nachtleben – meist recht ordentlich auseinander. Es ist diese Normalitätskompetenz, auf der die entsprechende Leistung von Séverine basiert. Indem wir diese »Welten« auseinanderhalten, ordnen wir die »Welt« und darin unterscheidet uns nichts von einer Figur wie Séverine. Hirsch renormalisiert so, wie Freud einst die Symptome der Neurose mit der Traum- oder der Witzarbeit verglich und ausdrücklich herausstellte, wie normal das alles ist. Normal ist ja auch die Existenz von solchen Bordellen in dieser Welt und im Text von Tömmel/Tömmel finden sich bemerkenswerte Hinweise auf die Theorie des Masochismus, worin deutlich auf Geschlechtlichkeit als »soziale Kategorie« im Anschluß an die Arbeiten von Christa Rohde-Dachser verwiesen wird (S. 371). Dementsprechend sehen diese Autorinnen auch die filmische Absicht des Regisseurs:

»Auch Bunuel deutet sexuellen Masochismus nicht als im Spiegel der Normalverteilung abweichende, aber angeborene Neigung, sondern als Ergebnis der zeitgenössischen, kulturell tradierten und legitimierten Herrschaftsstrukturen der Geschlechter, deren bewusste Inszenierung Séverines Träume darstellen, während sie sich sonst in subtileren Formen äußern. Dabei bietet die Dichotomie von Reinheit und Schmutz ein Instrument normativer Bewertungen, mit der sich insbesondere Frauen kategorisieren lassen« (Tömmel/Tömmel, S. 372).

Zur seelischen Implantierung solcher Bewertungen gehören etwa die Rolle der katholischen Kirche und der katholischen Sexualmoral; Séverine verweigerte die Kommunion. Und genau passend dazu formuliert Hirsch:

»Bunuel nimmt nicht die in der menschlichen Natur enthaltene tragische Schwierigkeit oder letztliche Unmöglichkeit, triebhafte, leidenschaftliche Sexualität mit lang-dauernden Beziehungen zu verbinden, aufs Korn, sondern die Verlogenheit einer Gesellschaft, die vorgibt, eine solche Integration zu schaffen, gleichzeitig aber heimlich in der Welt ›verkehrt‹, die sie projektiv zu unmoralischen, nicht diskutabel ›schlechten‹ macht« (Hirsch, S. 105).

Diese Bezüge zur Dimension des Gesellschaftlichen verfolgt Hirsch auch in allen anderen Beiträgen und lässt sich dabei auch hinsichtlich der Interpretationsmethodik durchaus über die Schulter schauen. Beeindruckend ist seine Analyse des Films Der Nachtportier (von Liliana Cavani), der von der Wiederbelebung der Lagererfahrung handelt. Der Nachtportier Max ist ehemaliger SS-Mann und trifft auf einen Hotelgast, Lucia, der er bereits im Lager begegnet war, die er quälte und sich auch sexuell unterwarf. Max gehört einer Art »Geheimorden« ehemaliger SS-Männer an, die sich heimlich treffen. Dieser Orden wird von einem »Professor« geleitet, der die Frage der Schuld in einer »Gruppenanalyse« zu klären vorgibt – wieder begegnen wir der engen Verlötung von Therapeutik und Film – im Film. Die Pirouetten werden wir nicht los.

Dieser Film war 1974 gedreht, dann verboten worden, dann doch als Kunstwerk rehabilitiert und zur Aufführung frei gegeben worden, die Rezensionen nun spalteten diesmal das Publikum. Während die einen feierten, wie der Film die Grausamkeiten des Lagers zeige und so Annäherung an brutale Wahrheiten möglich mache, verachteten andere ihn als schmierigen Versuch, das Publikum durch Ausschlachtung grausamer Szenen zu erregen. Diese Gegensätze dokumentiert Hirsch in einer schönen Zusammenstellung von Zitaten aus Rezensionen. Dann geht er einen Schritt darüber hinaus und versucht diese gespaltene Reaktion als Gegenübertragungsphänomen zu deuten, indem er auf die Internalisierung des Täters abhebt und so die auffallend unrealistischen Darstellungen sexueller Gewalt im Film beschreibbar werden, weil ähnlich wie in Träumen der adäquate Affekt zu peinlichen oder entsetzlichen Szenen einfach nicht »mitgeliefert« wird – damit geträumt werden kann. Wenn dann manche Rezensenten sich über die affektive Teilnahmslosigkeit des Films beklagen, dann kann hier die psychoanalytische Deutung weiterhelfen:

»Vielleicht aber dient diese Form der Stilisierung nicht der Verharmlosung, sondern soll die Affektlosigkeit des Täters darstellen, so dass der Zuschauer in einer komplementären Identifikation in der Gegenübertragung (Racker 1959) die Affektlosigkeit des Täters entsetzt an sich selbst feststellen muss« (S. 118).

Diese Analyse vermag zu überzeugen, weil sie das Konzept der Gegenübertragung mit dem der Introjektion verbindet und die Zuschauerreaktion zum Ausgangspunkt nimmt und sie so zu erklären vermag. Und wir sehen, dass Gegenübertragung durchaus erlebt werden kann. Wenn man nur den individualistischen Standpunkt aufgibt, man müsse eine Gegenübertragung auf eine Person haben. Schneider hatte uns belehrt, dass man den ganzen Film bereits als Person auffassen kann, also auch mit Gegenübertragungen reagiert und dass man dazu jedoch Biographik benötigt. Gegenübertragung – das ist, wie die gegensätzlichen Rezensionen zeigen, vielleicht oft vielmehr Wertung als wir annehmen. Erst die Analyse der Gegenübertragung kann manchmal ein Integral schaffen, das die Gegensätze zu überbrücken vermag. Hirsch kommt aber durchaus auch zu Kritik am Film, wenn er etwa die Thematik der »Gruppenanalyse« aufgreift und die irrige Vorstellung, durch Gruppenanalyse könnten die Täter die Schuldfrage abschütteln, dem Film selbst vorhält. Es ist erfreulich, dass die psychoanalytische Methode sich dem Film nicht nur nach- oder sogar unterordnet. Dass Filmregisseure manche seelischen Dinge tendenziös oder reißerisch darstellen, muß natürlich einer Kritik zugänglich bleiben.

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