Rezension zu Heinz Kohut zur Einführung
www.socialnet.de
Rezension von Hans-Peter Heekerens
Ralph J. Butzer: Heinz Kohut zur Einführung
Thema
Das vorliegende Buch widmet sich Leben (weniger) und Werk
(hauptsächlich) des 1913 in Wien geborenen und 1981 in Chicago
gestorbenen Arztes und Psychoanalytikers Heinz Kohut
(https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Kohut und
https://en.wikipedia.org/wiki/Heinz_Kohut). Dass man dessen Leben
und Werk nur schwerlich trennen kann, wird im Buch hie und da
deutlich.
Heinz Kohut wurde in eine großbürgerliche assimiliert-jüdische
Familie geboren. Forscher, die einen biographischen
Erklärungsbeitrag dafür liefern wollen, weshalb er sich später dem
Selbst und seiner Entwicklung zugewandt hat, verweisen auf die
physische Abwesenheit des Vaters wegen des 1. Weltkriegs – dessen
Ausbruch war knapp nach seinem ersten Geburtstag – und auf die
psychische Abwesenheit seiner Mutter, aber auch seines Vaters in
der Nachkriegszeit (vgl. etwa Wolf, 1996). Zu Heinz Kohuts Eltern
erklärt sein Sohn Thomas Kuhn 2016 (S. 11): »Seine Mutter war
schwierig und ernsthaft gestört, und sein Vater ließ ihn …
weitgehend allein, wahrscheinlich, um von seiner Frau
wegzukommen.«
Heinz Kohut schloss 1938 sein Medizinstudium an der Universität
Wien ab und befand sich zu der Zeit in (Heil-)Analyse bei dem
»Laien-Analytiker«, bedeutsamen Funktionär der frühen
psychoanalytischen Bewegung und als Begründer der
psychoanalytischen Sozialpädagogik geltenden August Aichhorn
(https://de.wikipedia.org/wiki/August_Aichhorn), der – er war nicht
jüdischstämmig – als einer von drei (Ex-)Mitgliedern der (früheren)
Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) von 1938 bis 1945 in
Wien blieb, »wobei er als einziger versuchte, die Psychoanalyse in
diesen Jahren in Wien am Leben zu halten«
(www.psyalpha.net/biografien/august-aichhorn). Er war der einzige
Wiener Psychoanalytiker, der – aus welchen Gründen auch immer das
möglich war – »seine Privatpraxis weitgehend unbehindert
weiterführte« (Thomas Aichhorn & Schröter, 2016, S. 16).
Heinz Kohut blieb mit August Aichhorn stets emotional eng
verbunden. Die erste Analysestunde war offensichtlich am 13. April
1938 (Thomas Aichhorn & Schröter, 2016, S. 16). In der
Volksabstimmung drei Tage zuvor hatte Heinz Kohut der Frage
zugestimmt (so Thomas Kohut, 2016, S. 12): »Bist Du mit der am 13.
März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem
Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres
Führers Adolf Hitler?«
(https://de.wikipedia.org/wiki/Anschluss_%C3%96sterreichs#Volksabstimmung).
Es half nichts. Er, der sich nie als Jude fühlte – »Mein Vater war
kein Jude, sondern Wiener.« (Thomas Kohut, 2016, S, ) –, wurde von
außen als solcher identifiziert. »Sich identifizieren mit – von
anderen identifiziert werden als« – darum geht es in der
Identitäts-Frage. Die hat Heinz Kohut stets unterschieden von der
Frage nach dem Selbst; möglicherweise stecken hinter der Schärfe,
in der er das tut, seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Welche
er – abgesehen von der Analyse bei August Aichhorn – in der Zeit
zwischen dem »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich und seiner
Flucht gemacht hat, wissen wir nicht: »Nie hat mein Vater über die
Zeit zwischen dem 11. März und seiner Abreise nach England im
Frühjahr 1939 gesprochen.« (Thomas Kohut, 2016, S. 10)
Heinz Kohut konnte im Frühjahr 1939 nach England fliehen und von da
aus im Februar 1940 in die USA emigrieren; beides war nur mit Hilfe
Wohlgesonnener möglich. In Chicago praktizierte und lehrte er
zunächst als Neurologe (und teilweise als Psychiater). Seine 1942
erfolgte Bewerbung am Chicagoer Psychoanalytischen Institut wurde
abgelehnt; der damalige Leiter des Instituts war der aus Ungarn
stammende und – auf einen Ruf (Visiting Professor of
Psychoanalysis) hin aus Berlin in die USA übergesiedelte Arzt und
Psychoanalytiker Franz Alexander
(https://en.wikipedia.org/wiki/Franz_Alexander), der 1930 erster
Professor für Psychoanalyse an der Universität Chicago und bis 1956
Direktor des Chicago Institute for Psychoanalysis war.
Aber nicht bei diesem machte er (ab 1943) seine nach dem Krieg als
Lehranalyse anerkannte Heilanalyse, wie das im deutschen
wikipedia-Eintrag (https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Kohut) zu
lesen ist, sondern bei Ruth Eissler-Selke (Strozier, 2001). Die war
die Ehefrau von Kurt Eissler
(https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Eissler), früher ebenfalls
Analysand bei August Aichhorn (Strozier, 2001; ja, die
psychoanalytische Community der frühen Jahre war sehr klein), der
in die psychoanalytische Geschichtsschreibung als prominentester
Vertreter der »normativen Idealtechnik (›basic model technique‹)«
(Thomä & Kächele, 2006, S. 44) einging. Auch diese »normative
Idealtechnik« griff Heinz Kohut zunehmend mehr an, woran die
jahrelange Freundschaft zwischen ihm und den Eisslers zerbrach.
Auch viele andere Freundschaften aus alten Tagen verlor Heinz Kohut
durch seine im vorliegenden Buch dokumentierten
(behandlungs-)praktischen und theoretischen (»metapsychologischen«)
Neuerungen. Darüber hinaus sah er sich ihn schmerzenden Angriffen
und beruflichen Benachteiligungen ausgesetzt.
Und dabei hatte es doch anfangs und für eine lange Passage seines
Lebens als Psychoanalytiker ganz anders ausgesehen. Er war aus
Sicht der psychoanalytischen Bewegung nicht einfach nur »a nice
guy«, er wurde »Mr. Psychoanalysis« genannt. Dies weil er ein
äußerst rühriger Funktionär der psychoanalytischen Bewegung war.
Zur Illustration: 1963-1964 Präsident der Chicagoer
Psychoanalytischen Gesellschaft, 1964-1965 Präsident der
Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung (dem damals noch mehr
als heute mächtigsten nationalen psychoanalytischen Verband) und
1965-1973 Vizepräsident der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung (IPV; »Vereinigung« und nicht »Gesellschaft«, wie es im
vorliegenden Buch aus S. 197 fälschlicherweise heißt).
Heinz Kohut sah sich bis zuletzt als Psychoanalytiker – und das
heißt (auch) für ihn: in der Tradition Sigmund Freuds stehend.
Viele andere Psychoanalytiker(innen) (die meisten von ihnen?) sahen
das für den Heinz Kohut ab den 1970ern und verstärkt in den 1980ern
anders; denen galt er als »Abweichler« (zur Rezeptionsgeschichte im
deutschsprachigen Raum vgl. Herzog, 2016), Milch, 2016). Und heute?
Wolfgang Milch, der 2001 ein »Lehrbuch der Selbstpsychologie«
(Stuttgart: Kohlhammer) vorgelegt hat, formuliert in einem
aktuellen Beitrag (Milch, 2016): »Für die gegenwärtige
Psychoanalyse ›im Mainstream‹ sind viele Vorstellungen der
Selbstpsychologie wie Konzepte zum Narzissmus, zur
Behandlungstechnik narzisstischer Störungen ebenso wie die
Integration von Wissen aus der Kleinkindforschung und der
Neuroforschung inzwischen zum allgemeinen Wissensgut geworden. Der
Artikel von Kohut und Wolf (1980) über die Behandlung
narzisstischer Persönlichkeitsstörungen hat seine Aussagekraft und
Aktualität behalten; er gehört zu den zehn bei PEP-Archives im
Jahre 2014 am häufigsten aufgerufenen Artikeln.« (S. 63; das
»PEP-Archive« ist »the most authoritative source of peer-reviewed,
psychoanalytic literature«;
https://www.ebscohost.com/academic/pep-archive).
In der Zeit zwischen dieser Einschätzung und Heinz Kohuts Tod,
einer Zeit, da die Diskussion um seine Ideen (auch) hierzulande
noch hohe Wellen schlug, wurde das vorliegende Buch von einem
deutschen Psychoanalytiker verfasst. Es erschien erstmals 1997 im
Hamburger Junius-Verlag, genauer: in dessen »Einführungs«-Reihe,
die sowohl Themen (von »Analytische Philosophie« bis
»Wissenschaftstheorie«) als Personen (von Theodor W. Adorno bis
Slavoj Zizek) zum Gegenstand hat. Unter den Themen findet sich
(Klinische) Psychologie bzw. Psychotherapie überhaupt nicht, und
unter den Personen nur vier Vertreter eines psychotherapeutischen
Ansatzes; neben dem Buch über Heinz Kohut gibt es drei weitere:
über Sigmund Freud, Carl G. Jung und Jacques Lacan. Eine
eigentümliche oder eigenwillige Mischung, die sich hier zeigt: zwei
wohletablierte Vertreter der psychodynamischen Psychotherapie und
zwei »Außenseiter« oder »Randständige«.
Aus der Sicht der Freudschen Orthodoxie, die damals die
deutsch(sprachig)e Psychoanalyse (und die Psychodynamik überhaupt)
weitaus mehr beherrschten als heute, waren Heinz Kohut und Jacques
Lacan »draußen vor der Tür«. Nach der Jahrtausendwende hat der
(auch in Sachen Psychoanalyse und Psychodynamik seit einem viertel
Jahrhundert aktive) Wiener Verlag Turia + Kant Jacques Lacan (für
sich) entdeckt und gibt dessen Schriften und Seminar-Bände heraus
(www.turia.at/lacan/). Die Rechte an Heinz Kohut hat sich der
Gießener Psychosozial-Verlag gesichert: 2016 editiert er dessen
»Gesammelte Werke in 7 Bänden« (vgl. meine Rezension). Zeitgleich
erscheint dort in 2. unveränderter Auflage das hier zu
rezensierende Buch.
Autor
Ralph J. Butzer, ist Dr. phil., Psychologe (PsyMsc) und
Psychoanalytiker in eigener Praxis, seit Jahren Lehrbeauftragter am
Institut für Psychologie der Goethe-Universität, Frankfurt am Main,
niedergelassener Mitarbeiter des Frankfurter
Sigmund-Freud-Instituts und Mitarbeiter des Frankfurter
Psychoseprojekts. Unter seinen Publikationen (vgl.
www.frankfurterpsychoseprojekt.de) findet sich nur ein Buch – das
vorliegende.
Aufbau und Inhalt
Das Buch hat zwischen Einleitung und Anhang fünf Kapitel.
Der Anhang, um mit dem Buchende zu beginnen, enthält
- die bald 150 Anmerkungen, von denen manche bloße Quellenangaben
sind, andere aber Informationen enthalten, die weit über den
vorliegenden Kontext hinaus bedeutsam sind,
- Literaturhinweise, gesondert für Heinz Kohuts Veröffentlichungen
sowie eine Auswahl von 1. Publikationen, die sein Werk darstellen
und 2. solchen, die sich mit ihm kritisch auseinandersetzen,
- Eine Zeittafel mit einer Kurzbiographie Heinz Kohuts.
Die Einleitung bietet eine Kurzbiographie Heinz Kohuts, die von
seinen Wiener Tagen bis zu seinen letzten Lebensmonaten. In denen
sah er sich wegen seiner (behandlungs-)praktischen wie
theoretischen (»metapsychologischen«) Neuerungen scharfen
Angriffen, die ihm berufliche Nachteile und persönliche
Verletzungen beibrachten, ausgesetzt. Sie kamen auch von Seiten des
psychoanalytischen Establishments, dem er selbst jahrzehntelang
angehört hatte.
In Kapitel 1 Von der Trieb- zur Selbstpsychologie finden sich
zunächst Ausführungen zur psychoanalytischen Trieb- und
Ich-Psychologie sowie den in diesen Kontexten entwickelten
Konzepten des Narzissmus (das dient als Hintergrundsfolie), bevor
dann in den Abschnitten »Kohuts Weiterentwicklung der
psychoanalytischen Narzißmustheorie« und QKohuts Narzißmus-Buch aus
dem Jahre 1971« die Entstehung und die besondere Struktur des
Kohutschen Narzissmus-Konzeptes (seine »Figur«) skizziert wird.
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass das genannte
»Narzißmus-Buch« 1973 als deutsche Übersetzung bei Suhrkamp
(Frankfurt am Main) unter dem Titel »Narzißmus: Eine Theorie der
psychoanalytischen Behandlung narzißtischer
Persönlichkeitsstörungen« erschien, das US-amerikanische Original
(New York: International Universities Press) aber den Titel
»Analysis of the Self« trägt. Im selben Verlag erscheint sechs
Jahre später »The Restoration of the Self« (1977) und dieses Mal
erscheint auch im Titel der deutschen Übersetzung (1979 bei
Suhrkamp) der Begriff »Selbst«: »Die Heilung des Selbst«. Ich führe
dies an, weil es eine zentrale Frage berührt: Ist die Entwicklung,
die Heinz Kohut vom ersten zum zweiten Buch genommen hat, eine, die
als »Bruch« oder als »Fortentwicklung« anzusehen ist? Man kann wie
bei allen geschichtlichen Prozessen, von denen die der
individuellen Entwicklung ein Teil sind, den Aspekt der Kontinuität
betonen – oder aber den der Diskontinuität.
Tatsache ist, dass Heinz Kohut seine Konzeptualisierungen des
Narzissmus immer weniger im Rahmen einer Trieb-/Selbst-Psychologie
verorten kann. Ob er mit seiner neuen »Rahmung«, einem von ihm
entwickelten (Re-)Framing sich noch innerhalb der Psychoanalyse
bewegt, ist eine Frage, deren Beantwortung davon abhängt, welchen
Maßstäbe man anlegt. Heinz Kohut selbst empfand sich bis zu seinem
Tode als Psychoanalytiker, bedeutsame Andere hingegen hielten ihn
nicht mehr für einen solchen. So etwa Anna Freud, mit der er
jahrelang freundschaftlich verbunden und in Fragen der
»Laien-Analyse« gegen die US-amerikanischen Psychoanalytiker(innen)
einig war. Die erklärte ein Jahr nach Erscheinen von »The
Restauration of the Self«, Heinz Kohut sei »antipsychoanalytisch«
geworden (S. 16). Und ihre Stimme, der sich gewichtige andere
zugesellten, wog schwer: Sie galt damals als die Gralshüterin der
»wahren« Freudschen Lehre.
Wie die Fortentwicklung vom ersten zum zweiten Buch konkret aussah
und worin die Kohutsche Selbst-Psychologie besteht, ist dargestellt
im 2. Kapitel »Eine eigenständige ›Psychologie des Selbst‹«, dessen
Basis im Wesentlichen »Die Heilung des Selbst« sowie der 1978
erstpublizierte und 1980 in deutscher Übersetzung erschienene
Aufsatz »Die Störungen des Selbst und ihre Behandlung« (Kohut &
Wolf, 1978; deutsch 1980) bilden.
Was bei aller Kontinuität des Denkens jetzt den Unterschied zu
früher markiert ist die Entwicklung einer Psychologie, in der das
Selbst nicht mehr (nur) als ein Inhalt des psychischen Apparates
gesehen wird (in konventioneller Manier und konservativer Absicht
wie noch in »Narzißmus«; Psychologie des Selbst im engeren Sinne),
sondern als Mittelpunkt des psychologischen Universums (Psychologie
des Selbst im weiteren Sinne). Das sprengt den traditionellen
Rahmen, und muss in den Augen der Traditionalist(inn)en als
»Verrat« erscheinen.
Dieser Veränderung parallel laufen andere (z.T. schon früher
einsetzende):
- Der Freudschen »Lust« wird die selbstpsychologische »Freude« zur
Seite gestellt.
- Im Dreischritt »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (Freud,
1914) wird dem Wiederholen (»Erleben«) gegenüber der Tradition
besondere Bedeutung beigemessen.
- Die prä-ödipale Entwicklungsphase bekommt in ihrer Bedeutung für
die Entwicklung des Individuums eine gleichwertige, ja sogar höhere
Bedeutung als die ödipale.
- Die äußere Realität bekommt ihre Dignität zurück: »In Kohuts
Selbstpsychologie erhalten die realen elterlichen Selbstobjekte
eine den traumatischen Kräften der Verführungstheorie analoge
Stellung.« (S. 120) D.h.: »Bei Kohut wird nun der Realität als
ätiologischem Faktor für die Entstehung psychischer Störungen große
Bedeutsamkeit eingeräumt…« (S. 120).
- Das Menschenbild verändert sich: »Kohut hatte demgegenüber [gegen
Freuds Menschenbild und in Übereinstimmung mit dem der
humanistisch-experienziellen Therapie] ein entfaltungsorientiertes
und positives Menschenbild: Er erachtet den Menschen, der von
Anfang an nach Anbindung und Einfühlung sucht, im Wesentlichen als
gut.« (S. 30)
Im Vorstehenden wurde erstmals der Begriff »Selbstobjekt« benutzt.
Er ist kennzeichnend für Heinz Kohuts Denken. Er markiert
einerseits die von ihm gegen die Tradition reklamierte Bedeutung
realer früh(st)kindlicher Bezugspersonen (Mutter, Eltern).
Andererseits markiert er auch, wie sehr er noch im traditionellen
Denken verhaftet, in seinem Befreiungsprozess an diesem Punkte also
gleichsam »stecken geblieben« ist: »[René] Spitz … hatte
aufgezeigt, dass Freud das libidinöse Objekt ganz vorwiegend vom
Standpunkt des Kindes (und seiner unbewussten Wünsche) aus und
nicht vor dem Hintergrund der wechselseitigen Beziehung zwischen
Mutter und Kind betrachtet hat. Diese Tradition hat sich jedoch so
tief eingegraben, dass selbst Kohut die Selbstobjekte aus der
hypothetischen narzisstischen Sicht- und Erlebnisweise des
Säuglings abgeleitet hat.« (Thomä & Kächele, 2006, S. 50)
In diesem Kapitel gibt es zwei durch Zwischenüberschriften
gekennzeichnete Abschnitte:
In »Die bipolare Struktur des Selbst« wird einmal auf die in der
Überschrift angesprochene Unterscheidung zwischen zwei wesentlichen
Bereichen des Selbst eingegangen: Exhibitionismus (des
Größen-Selbst) und Idealisierung(swünsche des kleinen Kindes) sowie
zum anderen vier Syndrome der Selbst-Pathologie und fünf nach
selbstpsychologischen Gesichtspunkten gebildete Charaktertypen
skizziert.
Der nächste Abschnitt »Selbstpsychologie und Ödipuskomplex«
behandelt einen für die binnen-psychoanalytische Diskussion
zentralen Punkt. Denn: »Kohuts Selbstpsychologie hat ihren
Ausgangspunkt in Unzufriedenheiten mit der neoklassichen Technik
und ihrer theoretischen Basis, den innerseelischen ödipalen
Konflikten bestimmter Übertragungsneurosen.« (Thomä & Kächele,
2006, S. 11)
Auch in Kapitel 3 »Wie heilt die Psychoanalyse?« steht im Zentrum
der Betrachtung ein neues – erst nach Heinz Kohuts Tod erschienenes
– Buch: »How Does Analysis Cure?« (1984, Chicago: University of
Chicago Press; deutsch »Wie heilt Psychoanalyse?«, 1987 bei
Suhrkamp erschienen). Dieses Buch entfaltet in vielerlei
Variationen, was in »Heilung des Selbst« (HdS) bereits als
Leitmotiv angeklungen war. Danach finden die strukturellen
Veränderungen, die wesentlich für eine Aufhebung der Pathologie von
Patient(inn)en sind, nicht infolge »intellektueller Einsichten
statt, sondern infolge der allmählichen Verinnerlichungen, die
durch die Tatsache bewirkt werden, daß die alten Erfahrungen
wiederholt von der jetzt reiferen Psyche durchlebt werden« (HdS
41). Damit relativiert Kohut den Aspekt der veränderungswirksamen
»Einsichten« (»Nicht die Deutung ist es, die den Patienten heilt«;
HdS 42) zugunsten einer stärkeren Akzentuierung der Beziehung zum
Analytiker. (S. 122)
Das 3. Kapitel hat drei durch eigene Überschriften abgesetzte
Abschnitte:
-»Neue Einschätzung der Selbst-Selbstobjekt-Beziehungen«
- »Zur Theorie des Heilungsvorgangs« und
- »Zum Umgang mit Abwehr und Widerstand«.
In den beiden letzten Abschnitten finden sich zentrale Aussagen zur
Behandlungstechnik. Die kann und muss verstanden werden auf dem
Hintergrund einer neuen (Behandlungs-)Theorie: Wesentlich an Kohuts
neuer Einschätzung der Selbstobjektbeziehungen ist, daß er die
frühere Position verläßt, die besagte, daß Selbstobjekte durch
Strukturen ersetzt werden können, indem durch
Internalisierungsvorgänge die Funktionen des Selbstobjektes
angeeignet und in innere Strukturen verwandelt werden. Stattdessen
vertritt er die Position einer Unentrinnbarkeit, eines
lebenslänglichen Angewiesenseins auf Selbstobjekte. Somit geht es
um die Entwicklung reifer Selbstobjektbeziehungen, letztlich also
um die Fähigkeit, solche Beziehungen für sich zu finden, die dazu
dienen, das eigene Selbst in einer responsiven reifen Matrix zu
stärken und somit gesund zu erhalten. (S. 134)
Mit dieser Bestimmung, das sei – ein Stück Diskussion vorwegnehmend
– gleich hier angemerkt, macht Heinz Kohut die Psychoanalyse
anschlussfähig an einen philosophischen Diskurs, für den in neuerer
Zeit etwa Axel Honneth (https://de.wikipedia.org/wiki/Axel_Honneth)
mit seiner »Philosophie der Anerkennung« steht, die aber eine lange
Tradition hat. In der steht auch (der junge) Hegel, der uns lehrte,
dass sich jedes Selbst-Bewusstsein nur in der Anerkennung des
jeweils anderen ausbildet. Besteht in diesem Vorgang (durch
gesellschaftliche Verhältnisse bewirkte) starke Asymmetrie, bilden
sich (nur) Deformationen aus: ein Selbstbewusstsein des Herrn und
eines des Knechts (woran dann Karl Marx theoretisch und Kommunismus
wie Sozialismus praktisch angeknüpft hat).
Der Jahrzehntewechsel von den 1960ern zu den 1970ern markiert eine
Wendemarke im Leben und Werk Heinz Kohuts. 1969 wurde nicht er, der
seit 1965 Vizepräsident der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung (IPV) gewesen war, deren Präsident (wie er sich das
gewünscht hatte), sondern der kalifornische Psychiatrieprofessor
Leo Rangell (https://en.wikipedia.org/wiki/Leo_Rangell), neben
(unter?) dem er weitere vier Jahre IPV-Vizepräsident war. 1969
hatte er die Arbeit an seinem »Narzißmus«-Buch beendet, das 1971
veröffentlicht wurde. In eben dieser Zeit um die Jahrzehntenwende
unterzog sich Heinz Kohut einer Selbstanalyse, um seine
(Heil-/Lehr-)Analyse bei Ruth Eissler aufzuarbeiten. Zeitgleich war
seine Mutter an einer paranoiden Störung erkrankt; sie starb 1972.
Im Herbst zuvor war bei Heinz Kohut Lymphzellenkrebs diagnostiziert
worden.
Von nun an, und er wusste das, hatte er nicht mehr allzu lange zu
leben; ein Jahrzehnt Lebens- und Schaffenszeit blieb ihm noch. Wir
wissen bis heute nicht mit der Sicherheit zu der gediegene
biographische Forschung gelangen kann, welche der genannten
möglichen Einflussfaktoren in welcher Kombination und welchem
Gewicht dazu beigetragen haben, bei Heinz Kohut als
Psychoanalytiker und Wissenschaftler eine Entwicklung zu
beschleunigen und zu radikalisieren, die unter anderen Umständen
vielleicht gemächlicher vonstatten gegangen wäre und von externen
Beobachter(inne)n mehr unter dem Aspekt der Kontinuität als dem der
Diskontinuität hätte bewertet werden können.
Wie auch immer. Fakt ist: Heinz Kohut, der mit seinem
»Narzißmus«-Buch von 1971 seinem Ruf als »Mr. Psychoanalysis« noch
alle Ehre gemacht hatte, wird spätestens mit »Heilung des Selbst«
von 1977 zum Gegenstand binnen-psychoanalytischer Kritik, die durch
»Wie heilt die Psychoanalyse« neue Nahrung erhält und weit über
seinen Tod hinaus andauert. Von dieser Diskussion werden uns im
4.Kapitel »Kritik an Kohut« Proben in drei gesonderten Abschnitten
– vom Autor bewertet – vorgeführt:
- In »Kohut und seine Vorläufer« wird die Frage behandelt, ob Heinz
Kohut so originär ist, wie er sich – durch Nicht-Benennung von
Vordenker(inne)n – gibt, oder aber ob er ein »Schwindler« ist. »Wie
dieser Bericht zeigt, ist Ferenczi in den letzten 50 Jahren für
viele zum Steinbruch geworden, aus dem sie die Materialien für ihre
›Neubauten‹ bezogen haben, oft ohne den Fundort anzugeben –
beschämend für die viel gerühmte Redlichkeit der Wissenschaft.« Das
hat Johannes Cremerius 1983 (S. 1006) vorgebracht zur Ehrenrettung
Sándor Ferenczis und zwei Jahre zuvor hatte er Heinz Kohut
wissenschaftliche Unredlichkeit im Umgang mit Denktraditionen und
Quellen vorgeworfen. Er war, wie vorliegender Abschnitt zeigt, mit
solchem Angriff weder der erste noch der letzte.
- Um inhaltliche Kritikpunkte geht es in den beiden nächsten
Abschnitten. Zunächst um seine These von »Komplementarität« als
Beziehung zwischen der traditionellen Konflikt- und seiner
Selbstpsychologie.
- Im Abschnitt »Selbstobjekt und ›true object‹« wird dann in Tiefe
und Breite dargestellt, wie Heinz Kohut das Konstrukt
»Selbstkonzept« im Laufe seiner Denkentwicklung in sich
verändernden Weise konzipiert hat und wie es von seinen
Nachfolger(inne)n wie seinen Kritiker(inne)n unterschiedlich
aufgefasst wurde.
Mit »Abschließende Perspektiven« (5. Kap.) endet der Textteil des
Buches. In den Abschnitten
- »Anspruch der Selbstpsychologie« und
- »Lösungswege«
diskutiert der Autor die Frage, wie und wo denn der Kohutsche
Ansatz im Gesamtzusammenhang der Psychoanalyse zu verorten sei.
Diskussion
Was, werden manche Leser(innen) fragen, was soll man denn anfangen
mit einem Buch, das schon vor zwei Jahrzehnten verfasst wurde? Ist
es denn nicht veraltet? Gibt es denn nichts Neueres? Die Antwort
ist eine dreifache:
- Erstens gibt es bis heute keine deutschsprachige Monographie zu
Heinz Kohut, die jüngeren Entstehungsdatums wäre. Allen M. Siegels
»Einführung in die Selbstpsychologie. Das psychoanalytische Konzept
von Heinz Kohut« erschien zwar 2000., doch handelt es sich um die
Übersetzung des englischsprachigen Originals von 1996.
- Zweitens ist das vorliegende Buch der Sache nach vollständig,
weil es keine bedeutsamen erst nach 1996 veröffentlichten Schriften
Heinz Kohuts gibt, und
- drittens wirkt es in keinem Sachpunkt veraltet. Sicher, man –
auch Ralph J. Butzer selbst – könnte heute unbefangener über Heinz
Kohut schreiben. Die geschichtliche Entwicklung lief zu dessen
Gunsten, und über »Neuerer« schreibt sich nun mal unbeschwerter als
über »Dissidenten«.
In der Psychoanalyse finden sich heute drei etablierte
Grundrichtungen: »die Selbstpsychologie neben Trieb- bzw. Ich- (die
beiden können zusammengefaßt werden) und Objektbeziehungstheorie«
(S. 171). Otto Kernberg
(https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_F._Kernberg) hat in seinem
berühmt gewordenen Vortrag »Wandlungen psychotherapeutischer
Konzepte« auf den Lindauer Psychotherapiewochen 1991 (Kernberg,
1991) eine vergleichbare Dreiteilung vorgenommen: die
»Ichpsychologie«, die »Objektbeziehungstheorien« und die
»interpersonellen Theorien«. Der ins Auge springende Unterschied:
Wo bei Ralph J. Butzer »Selbstpsychologie« steht, findet sich bei
Otto Kernberg »interpersonelle Theorie«. Ist die jeweils dritte
Grundausrichtung für die beiden eine verschiedene? Der Sache nach
nicht, wohl aber in der Bezeichnung. Unter den »interpersonellen
Theorien« findet sich bei Otto Kernberg (1991) nämlich neben Harry
Stack Sullivan (https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Stack_Sullivan)
auch Heinz Kohut. »Selbstpsychologie« und »interpersonelle
Therapie« sind beide, weil unterschiedliche Perspektiven bei
Betrachtung ein und desselben »Gegenstandes« einnehmend,
zutreffende »Katalogisierungen« des Ansatzes von Heinz Kohut.
Bei Otto Kernberg (1991), der in der Narzissmus-Frage in direkter
Konkurrenz zu Heinz Kohut stand, findet sich eine knappe
Charakterisierung des interpersonellen oder
Selbstpsychologie-Ansatzes:
»Die Einstellungen der interpersonellen Theorien gehen auch von
unbewußten intra-psychischen Konflikten aus, unterstreichen aber
die traumatischen Erlebnisse der Vergangenheit, die die normale
Entwicklung der Persönlichkeit verhindern. Diese traumatischen
Erfahrungen mit anderen werden in die Persönlichkeit relativ
unmotiviert eingebaut und tauchen dann in der Übertragung wieder
auf als eine Aktivierung dieser traumatischen Erfahrungen mit dem
Therapeuten.
Die Technik besteht nun darin, die Verzerrung der jetzigen
Beziehung angesichts dieser Aktivierung vergangener traumatischer
Beziehungen durch das korrigierende Erlebnis der jetzigen
Behandlung zu reduzieren.
Die Hauptvertreter der interpersonellen Theorien sind einerseits
Sullivan und andererseits Kohut. Vielleicht verwundert es Sie, daß
ich Sullivan und Kohut zusammenbringe, aber ich glaube, sowohl
Sullivan als auch Kohut haben auf der Bedeutung der realen frühen
Erlebnisse bestanden und darauf hingewiesen, die umgebungsbedingte
Ursache neurotischer Erkrankungen und die Realität dieser
traumatischen Erfahrungen zu respektieren. Sie haben beide die
reale Beziehung mit dem Therapeuten als ein heilendes Mittel
dargestellt.
Im Gegensatz dazu ist für die Objektbeziehungstheorie die unbewußte
Umwandlung der Vergangenheit viel wichtiger als ihre direkte
Reproduktion. Die Objektbeziehungstheorie und die Ichpsychologie
bestehen auf der Bedeutung der triebbedingten Ursachen der
pathologischen Interaktionen und traumatischen Erfahrungen in der
Vergangenheit.« (Kernberg, 1991, S. 10)
Die o.g. Trieb- bzw. Ich-Theorie hatte mit den Schriften von
Sigmund Freud (zusammenfassend: »Abriss der Psychoanalyse«, 1938)
und Anna Freud (insbesondere: »Das Ich und die Abwehrmechanismen«,
1936) ihre klassische Gestalt gewonnen. An den Anfang der beiden
anderen Richtungen wird in der psychoanalytischen
Geschichtsschreibung gemeinhin Melanie Klein
(https://de.wikipedia.org/wiki/Melanie_Klein), die ihre erste
analytische Ausbildung bei Sándor Ferenczi (vgl. Heekerens, 2014a,
2015) erfuhr, gestellt. Die Objektbeziehungstheorie ist in
Deutschland vor allem mit dem Namen von Otto Kernberg verknüpft,
und für die Selbst-Psychologie nach wie vor Heinz Kohut. Wenn man
in der Ausbildung zur Sozialen Arbeit und im Diskurs der Sozialen
Arbeit die Psychoanalyse nicht auf einen wie auch immer gearteten
Freudianismus einengen will, dann muss man neben den Freuds und den
Freudianer(inne)n auch die Vertreter(innen) der Objektbeziehungs-
und der Selbst-Theorie zur Kenntnis nehmen. Zur letzteren bietet
das vorliegende Buch einen guten Zugang, der im deutschsprachigen
Raum nach wie vor keinen besseren fürchten muss.
Was man nicht oft genug – der Autor tut das vielleicht nicht mit
allem Nachdruck – betonen muss: Die Entstehung des Theoriekonzepts
»Selbst« rührt aus der klinischen Erfahrung. Der langjährige
Kohut-Mitarbeiter Ernest S. Wolf hat den Entstehungsprozess so
beschrieben: »Eine seiner [Kohuts] Patient(inn)en, ein klarer Fall
von ödipaler Psychopathologie, reagierte auf seine Interpretationen
ihrer ödipalen Übertragungen nicht in der Weise, wie das von ihr zu
erwarten war. Wieder und wieder brachte er die Interpretation vor,
und jedesmal lehnte die Patientin sie ab. Widerstand? Daten und
Theorie passten gut zueinanander. Nicht analysierbar? Schließlich
entschied sich Kohut, dem zuzuhören, was die Patientin ihm
erzählte, [ab hier bewusst im Original] listen openly and
empathically, listen for what this patient was experiencing inside
herself. Thus was self psychology born.« (Wolf, 1996, S. 16; teilw.
Übers. d. Rez.)
Heinz Kohut hat, was hier in genetischer Weise skizziert wird, in
systematischer Hinsicht so beschrieben: »Doch ich muss langsam
vorgehen und meine Ansichten über frühe Entwicklung, seelische
Gesundheit und Heilung nicht isoliert vortragen, sondern in dem
fundamentalen Kontext, aus dem sich alle Erklärungen herleiten: der
empathischen Beobachtung der Erfahrungen meiner Analysanden in der
analytischen Situation.« Die analytische Situation charakterisiert
er wenige Zeilen später präzisierend dahin gehend, dass er von der
»aktivierenden Matrix der psychoanalytischen Situation« spricht
(beide Zitate in seinem kurz vor seinem Tod 1981 abgeschlossenen
Buch »Wie heilt Psychoanalyse?«, 1989, S. 20).
Stichwort »Empathie«. Von ihr spricht Heinz Kohut zeit seines
Berufslebens, von »Introspektion, Empathy, and Psychoanalysis«
(Vortrag anlässlich der 25-Jahr-Feier des Chigacoer Instituts für
Psychoanalyse im Jahr 1957) bis zu »Introspection, Empathy, and the
Semicircle of Mental Health« (verfasst für dessen 50-Jahr-Feier im
Jahr 1982). Heinz Kohut hat stets darauf hingewiesen, dass es
falsch wäre, seinen Begriff von »Empathie« gleichzusetzen mit
einem, den man von Carl Rogers her kennt – und dieser hat sich
gegen eine Gleichsetzung ebenfalls verwahrt (Rogers, 1986, 1987).
In der Tat: Das Kohutsche Konzept von »Empathie« ist breiter als
das Rogerianische; aber in mancherlei Hinsicht meinen beide der
Sache nach das Gleiche (vgl. Kahn, 1985; Kahn & Rachmann, 2000;
Staemmler, 2008 / 2009; Tobin, 1991). Mit diesem Aspekt seines
»Empathie«-Konzepts macht Heinz Kohut die Psychoanalyse
anschlussfähig sowohl an das Gespräch mit anderen therapeutischen
Schulen als auch an den Diskurs über eine evidenzbasierte
Psychotherapie (dazu unten mehr).
Helmut Thomä und Horst Kächele (2006) haben in der 3. Auflage von
»Psychoanalytische Therapie. Grundlagen« postuliert: »Tatsächlich
führt eine direkte Linie von Freuds gleichschwebender
Aufmerksamkeit über das dritte Ohr Reiks zu Kohuts (1959)
empathisch-introspektiver Methode psychoanalytischer Beobachtung.«
(S. 257) Gegen Ende seines Lebens benutzte Heinz Kohut den Begriff
»Empathie« in drei verschiedenen Weisen (vgl. Kohut, 2016). Mit
Rückblick auf die Rede von 1957 spricht er von »Empathie im
epistemologischen Kontext« (hier und nachfolgend aus vorliegendem
Buch S. 215), von »Empathie auf der erfahrungsfernsten,
epistemologischen Ebene«. »In diesem Kontext, das versteht sich von
selbst, ist Empathie eine wertneutrale Beobachtungsmethode – eine
Beobachtungsmethode, die auf das innere Leben des Menschen
eingestimmt ist …« Was diese Auffassung von »Introspektion«
betrifft, ist die referierte Einschätzung von Helmut Thomä und
Horst Kächele (2006) zutreffend.
Aber der späte Heinz Kohut hat noch zwei weitere,
lebensgeschichtlich jüngere Vorstellungen von »Empathie« und
spricht in diesem Zusammenhang von einem »bescheideneren
erfahrungsnahen Vorgehen [, bei dem] zwischen zwei Ebenen zu
unterscheiden ist: (a) zwischen der Empathie als Aktivität, die auf
das Sammeln von Informationen abzielt, und (b) der Empathie als
starke emotionale Bindung zwischen Personen« (ebd.). Da fühlt man
(so etwa auch Kahn, 1985; Kahn & Rachmann, 2000) sich doch erinnert
an Sándor Ferenczi und Otto Rank (Heekerens, 2014b, 2014c), der
Carl Rogers wie kein zweiter befruchtet hat (Heekerens, 2016). Ja,
man ist geneigt, sogar bei Sigmund Freud nachzuschauen. Freilich
nicht unter dem Stichwort »freischwebende Aufmerksamkeit«, sondern
unter dem Begriff »Einfühlung«.
Sigmund Freud hat in seinem ganzen Werk nicht mehr als ein Dutzend
Mal von »Einfühlung« gesprochen (Wolf, 1996). Einmal allerdings in
einer Weise, die für künftige Entwicklungen auf dem Gebiet der
Psychoanalyse und der Psychotherapie überhaupt anschlussfähig war.
Am Ende des 7. Kapitels (»Die Identifizierung«) von
»Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) vermerkt er in einer
Fußnote (zitiert werden die ersten Sätze): »Wir wissen sehr gut,
daß wir mit diesen der Pathologie entnommenen Beispielen das Wesen
der Identifizierung nicht erschöpft haben und ein Rätsel der
Massenbildung ein Stück unangerührt lassen. Hier müsste eine viel
gründlichere und mehr umfassende psychologische Analyse eingreifen.
Von der Identifizierung führt ein Weg über die Nachahmung zur
Einfühlung, das heißt zum Verständnis des Mechanismus, durch den
uns überhaupt eine Stellungnahme zu einem anderen Seelenleben
ermöglicht wird.«
(http://gutenberg.spiegel.de/buch/massenpsychologie-und-ich-analyse-934/7)
Man darf aus guten Gründen annehmen, dass Sigmund Freud hier eine
Konzeption des deutschen Philosophen und Psychologen Theodor Lipps
(https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Lipps) aufgreift (Pigman,
1995), mit dem er seit 1898 in wechselseitigem Respekt verbunden
war (Kanzer, 1981). Der englischstämmige US-amerikanische und bei
Wilhelm Wundt in Leipzig 1892 promovierte Psychologe Edward
Bradford Titchener
(https://en.wikipedia.org/wiki/Edward_B._Titchener), übersetzte
1909 den deutschen und von Theodor Lipps näher bestimmten Begriff
»Einfühlung(svermögen)« ins Englische mit »empathy«, von wo es als
»Empathie« (und nicht »Sympathie«) Eingang in die deutsche Sprache
finden sollte (Jahoda, 1995). Und umgekehrt wurde Sigmund Freuds
»Einfühlung« ab den 1920ern in englischen Übersetzungen mit
»empathy« wiedergegeben (Depew, 2005).
»Empathie« in dem zuletzt behandelten und der Sache nach
Rogerianischen Sinne ist ein bedeutsamer Wirkfaktor der
Psychotherapie. Im Jahre 2011 hat die Task Force on Evidence-Based
Therapy Relationships (Leitung: John C. Norcross), gebildet von den
Sektionen »Klinische Psychologie« (von der behavioralen Richtung
dominiert) und »Psychotherapie« (dort sammelt sich das
nicht-behaviorale Lager) der American Psychological Association als
erste zwei ihrer auf umfangreicher Forschungsarbeit basierenden
Schlussfolgerungen und Empfehlungen (Norcross, 2011)
festgehalten:
Die therapeutische Beziehung leistet substantielle und konsistente
Beiträge zum Ergebnis einer Psychotherapie – und das unabhängig von
einem spezifischen Behandlungsansatz.
- Die therapeutische Beziehung trägt zum Gelingen (oder Misslingen)
einer Therapie in mindestens demselben Maße bei wie eine bestimmte
Behandlungsmethode. (Übers. d. Rez.)
- Zu den sechs identifizierbaren Beziehungselementen, die mit hoher
Sicherheit wirksam sind (demonstrable effective), gehört
»Empathie«.
Fazit
Heinz Kohut ist ein bedeutsamer Neuerer der Psychoanalyse, er ist
einer der Wegbereiter dessen, was man heute »Relationale
Psychotherapie« (vgl. etwa Sassenfeld, 2015) nennt. Sein Verdienst
besteht nicht zuletzt darin, dass er die Psychoanalyse modernisiert
hat auch in dem Sinne, dass er sie anschlussfähig machte.
Anschlussfähig einmal an die empirisch verfahrende
Entwicklungspsycho(patho)logie durch seine Konzeption des Selbst
und dessen Entstehungsbedingungen. Anschlussfähigkeit aber auch –
durch einen bedeutsamen Aspekt seines »Empathie«-Konzeptes – an den
von verschiedenen therapeutischen Schulen betriebenen Diskurs zu
einer Allgemeinen Psychotherapie und deren Evaluation
(Effektivitäts- und Prozessforschung).
Wer unter Psychoanalyse nicht nur den eingefleischten Freudianismus
verstanden wissen will, sondern auch – neben der
Objektbeziehungstheorie – die Theorie des Selbst als dritten
bedeutsamen Ansatz der modernen Psychoanalyse kennenlernen möchte,
der oder dem sei das vorliegende Buch zur Lektüre empfohlen. In den
Bibliotheken von Hochschulen mit Studienmöglichkeiten in Sozialer
Arbeit sollte es vorhanden sein; an solchen mit
(Master-)Schwerpunkt »Klinische Sozialarbeit« in mehreren
Exemplaren.
Literatur
Aichhorn, Thomas & Schröter, Michael (2016). August Aichhorn und
Heinz Kohut. Aus ihrem Briefwechsel 1946 – 1949.
Cremerius, J. (1983). Sándor Ferenczis Bedeutung für Theorie und
Therapie der Psychoanalyse. Psyche, 37, 988 – 1015.
Depew, D. (2005). Empathy, psychology, and aesthetics: Reflections
on a repair concept. Poroi.
An Interdisciplinary Journal of Rhetorical Analysis and Invention,
4 (1), 99-107. Online verfügbar unter
http://ir.uiowa.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1033&context=poroi
[letzter Aufruf am 30.10.2016].
Heekerens, H.-P. (2014a). Rezension vom 20.03.2014 zu Ferenczi, S.
(2013). Das klinische Tagebuch. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Socialnet Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/16363.php).
Heekerens, H.-P. (2014b). Rezension vom 10.09.2014 zu Lieberman, E.
J. (2014). Otto Rank. Leben und Werk (2., unveränderte Aufl.).
Gießen: Psychosozial-Verlag. Socialnet Rezensionen
(www.socialnet.de/rezensionen/16563.php).
Heekerens, H.-P. (2014c). Rezension vom 10.09.2014 zu Lieberman, E.
J. & Kramer, R. (Hrsg.) (2014). Sigmund Freud und Otto Rank. Ihre
Beziehung im Spiegel des Briefwechsels 1906-1925. Gießen:
Psychosozial-Verlag. Socialnet Rezensionen
(www.socialnet.de/rezensionen/16964.php).
Heekerens, H.-P. (2015). Rezension vom 26.08.2015 zu Haynal, A.
(2015). Die Technik-Debatte in der Psychoanalyse. Freud, Ferenczi,
Balint. Gießen: Psychosozial-Verlag. Socialnet Rezensionen
(www.socialnet.de/rezensionen/19358.php).
Heekerens, H.-P. (2016). Otto Rank und sein Einfluss auf
Sozialarbeit und humnanistisch-experienzielle Therapie. In H.-P.
Heekerens, Psychotherapie und Soziale Arbeit (S. 13-46). Coburg:
ZKS-Verlag. Online verfügbar unter www.zks-verlag.de/katalog
[letzter Aufruf am 31.10.2016].
Herzog, D. (2016). Die Politisierung des Narzissmus: Kohut mit und
durch Morgenthaler lesen. Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte
der Psychoanalyse, 29, 67-97.
Jahoda, G. (1995). Theodor Lipps and the shift from "sympathy" to
"empathy". Journal of the History of the Behavioral Sciences, 41
(2), 151-63.
Kahn, E. (1985). Heinz Kohut and Carl Rogers: A timely comparison.
American Psychologist, 40, 893-904.
Kahn, E. & Rachman, A.W. (2000). Carl Rogers and Heinz Kohut: A
historical perspective. Psychoanalytic Psychology, 17, 294-312.
Online verfügbar unter https://de.scribd.com [letzter Zugriff am
4.11.2016].
Kanzer, M. (1981). Freud, Theodor Lipps, and "scientific
psychology". Psychoanalytic Quaterly, 50 (3), 393-410.
Kernberg, O. (1991). Wandlungen psychotherapeutischer Konzepte. In
P. Buchheim, M. Cierpka & Th. Seifert (Hrsg.), Psychotherapie im
Wandel. Abhängigkeit (S. 8-19). Berlin u.a.: Springer.Online
verfügbar unter http://www.lptw.de/archiv/ [letzter Zugriff am
12.10.2016].
Kohut, H. (1977). Introspektion, Empathie und Psychoanalyse. Zur
Beziehung zwischen Beobachtungsmethode und Theorie. In H. Kohut,
Introspektion, Empathie und Psychoanalyse. Aufsätze zur
psychoanalytischen Theorie, zu Pädagogik und Forschung und zur
Psychologie der Kunst (S. 9-35). Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Original
1959).
Kohut, H. (2016). Introspektion, Empathie und der Halbkreis der
psychischen Gesundheit (1982). In H. Kohut, Psychoanalyse in einer
unsicheren Welt. Gesammelte Werke Bd. 1 (S. 211-234). Gießen:
Psychosozial-Verlag (Original 1982).
Kohut, H. & Wolf, E. (1980). Die Störungen des Selbst und ihre
Behandlung. In U.H. Peters (Hrsg.), Die Psychologie des 20.
Jahrhunderts“ Bd. 10(2), Psychiatrie (S. 667-682). Zürich: Kindler.
Original: Kohut, H. & Wolf, E. (1978). The disorders of the self
and their treatment: An outline. International Journal of
Psychoanalysis, 59, 413-425. Online verfügbar unter [letzter Aufruf
am 30.10.2016].
Kohut, T. A. (2016). Heinz Kohut und Wien. Luzifer-Amor.
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 29, 7-13.
Milch, W. (2016). Die Rezeption von Heinz Kohut in Deutschland.
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 29,
47-66.
Norcross, J.C. (2011). Conclusions and Recommendations of the
Interdivisional (APA Divisions 12 & 29) Task Force on
Evidence-Based Therapy Relationships. Online verfügbar unter
http://societyforpsychotherapy.org [letzter Zugriff am
12.10.2016].
Pigman, G.W. (1995). Freud and the history of empathy.
International Journal of Psychoanalysis, 76 (2), 237-56.
Rogers, C. (1986). Rogers, Kohut and Erickson: A personal
perspective on some similarities and differences. Person-Centered
Review, 1, 125-140. 1987 unter gleichem Titel erschienen in J. K.
Zeig (Hrsg.), The evolution of psychotherapy (S. 179- 187). New
York: Brunner / Mazel.
Sassenfeld, A. (2015). Relationale Psychotherapie. Grundlagen und
klinische Prinzipien. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Siegel, A.M. (2000). Einführung in die Selbstpsychologie. Das
psychoanalytische Konzept von Heinz Kohut. Stuttgart u.a.:
Kohlhammer. Original: Heinz Kohut and the psychology of the self.
London u.a.: Routledge, 1996.
Staemmler, F.M. (2009). Das Geheimnis des Anderen – Empathie in der
Psychotherapie. Wie Therapeuten und Klienten einander verstehen.
Stuttgart: Klett-Cotta (socialnet-Rezension:
www.socialnet.de/rezensionen/7966.php). Online verfügbar ist die
dem vorgenanntem Buch zu Grunde liegende Dissertation „Empathie in
der Psychotherapie aus neuer Perspektive“ von 2008 unter
https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de [letzter Zugriff am
4.11.2016].
Strozier, C.B. (2001). Heinz Kohut: The making of a psychoanalyst.
New York: Farrar, Straus and Giroux.
Thomä, H. & Kächele, H. (2006). Psychoanalytische Therapie:
Grundlagen (3. überarbeitete und aktualisierte Aufl.). Heidelberg:
Springer Medizin.
Tobin, S.A. (1991). A comparison of psychoanalytic self psychology
and Carl Rogers/'s person-centered therapy. Journal of Humanistic
Psychology, 31, 9-33.
Wolf, E.S. (1996). The Viennese Chicagoan. In A.M. Siegel, Heinz
Kohut and the psychology of the self (pp. 7-18). London u.a.:
Routledge. Online verfügbar unter https://de.scribd.com/ [letzter
Zugriff am 5.11.2016].
Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an
der Hochschule München
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 17.11.2016 zu: Ralph J. Butzer:
Heinz Kohut zur Einführung. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN
978-3-8379-2610-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/21193.php, Datum des Zugriffs
22.11.2016.
www.socialnet.de