Rezension zu Freuds Lektüren

Neue Umschau Mai 2006

Rezension von Hans-Werner Dielitzsch

Viele Neuerscheinungen zum 150. Geburtstag

Reichlich Lesestoff zum Jubiläum Sigmund Freuds

Am 6. Mai 2006 jährt sich der Geburtstag Sigmund Freuds zum 150. Mal. Für die einen ist Freud ein Genie, der die Weitsicht der Menschen maßgeblich verändert hat und auf einer Stufe mit Kopernikus und Darwin steht. Freud kommt dabei der Verdienst zu, dem Menschen verdeutlich zu haben, dass ihr Denken und Handeln mehr von ihren unbewussten Anteilen als von ihrem Bewusstsein geprägt ist.

Wenn es um solch entscheidende Einsichten geht, liegt es nahe, dass nicht nur wertschätzende Stimmen den Gratulantenchor bestimmen, sondern auch kritische Stimmen laut werden oder besser laut bleiben, denn Freuds Werk wird seit seinen Lebzeiten von starker Kritik begleitet. Und Freuds Werk ist die Schaffung eines neuen Wissenszweiges, der Psychoanalyse, die im Kern eine neue Behandlungsmethode von psychischen Erkrankungen, vornehmlich von Neurosen, ist.

Zu diesem Jubiläum sind eine Vielzahl von neuen Büchern über Sigmund Freud, seine Familie und sein Wirken erschienen. Die Germanistin und Musikwissenschaftlerin Eva Weissweiler wollte eine Geschichte der Familie Freud schreiben, doch ist dabei im Wesentlichen ein Buch über den Jubilar herausgekommen, das an Fakten wenig Neues bringt. Sigmund Freud wird uns vorgeführt als ein Ehemann, der vermeintlich seine Ehefrau betrügt und dies nach der Ahnung der Autorin mit der Schwester seiner Frau. Auch als Vater habe er ein wenig liebevolles Verhältnis zu seinen sechs Kindern gehabt.

Wo die Faktenlage nicht hinreicht, die Thesen zu belegen, treten bei Weissweiler Vermutungen und unbelegte Behauptungen an die Stelle von gesicherten Erkenntnissen. So formuliert sie z. B.: »Denn Politik ist immer noch kein Thema im Hause, nicht einmal jetzt, wo der Antisemitismus eines Karl Lueger so viel Anlaß zur Sorge gibt. Sie ist aus Prinzip tabu, denn es erklärt sich doch alles aus der Sexualität und dem Verdrängtem.« Soweit Eva Weissweiler.

Der Pädagogikprofessor Micha Brumlik weist in seinem sehr lesenswerten Buch »Sigmund Freud« nach, dass Freuds Werk geprägt ist durch »die Auseindersetzung mit dem Zeitalter der Massen und totalitären politischen Ideologien« ebenso wie seine Erfahrungen mit dem massenhaften Töten und Sterben »und deren traumatische Nachwirkungen im ersten Krieg«.

Brumlik zeigt Freud als auch heute noch wichtigen Kulturtheoretiker, der Politik durchaus wahrnahm, und dessen Thesen heute auch in der Bildungstheorie fruchtbar sein können. Brumlik argumentiert auf gesicherter Materialbasis und eröffnet interessante Ansätze für einen produktiven Umgang mit Freuds Werk.

Michael Rohrwasser nähert sich Freud von der Seite der Literaturwissenschaft. Er zeigt Freud nicht nur als einen literarischen interessierten Leser, sondern widmet sich Freud als Interpreten von literarischen Werken. Sehr materialreich und gewinnbringend lesen sich die Abschnitte zu Arthur Canon Doyle, Conrad Ferdinand Meyer und Wilhelm Jensen. Das Schlusskapitel ist Canetti gewidmet, Rohrwasser bezeichnet die Beziehung von Canetti zu Freud als einen »heimliche(n) Dialog mit Freud«. Canetti setzt sich in seinen Werken eher von Freud ab, Sigmund Freud ist aber nicht ohne Einfluss auf ihn und sei es als theoretischer Antipode wie in Canettis Werk »Masse und Macht« , in der er eine nicht psychoanalytisch ausgerichtete Massentheorie entwickelt hat.

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