Rezension zu Rhythmik und Autismus
MuG Musik und Gesundsein 30/2016
Rezension von Ludger Kowal-Summek
Lucia Kessler-Kakoulidis: Rhythmik und Autismus
Das hier vorliegende über 300 Seiten umfassende Buch der
Rhythmikerin und Musikpädagogin/Musiktherapeutin Lucia
Kessler-Kakoulidis befasst sich im Wesentlichen mit dem
integrativen Ansatz der Rhythmikerin und tiefenpsychologisch
orientierten Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Amelie Hoellering
(1920-1995) und deren Anwendung bei Menschen mit Autismus. Die
vorliegende Schrift umfasst fünf Kapitel, die die Theorie und
Praxis differenziert verdeutlichen, sowie ein ausführliches Sach-
und Personenregister.
Hoellering absolvierte ihre Ausbildung zur Rhythmikerin bei der
Schülerin und späteren Kollegin von Emile Jaques-Dalcroze
(1865-1950) Elfriede Feudel (1881-1966). Ihre tiefenpsychologischen
Erkenntnisse, die sie fortan in ihre Ausbildung mit einfließen
ließ, basierten auf ihrem an das Rhythmikstudium anschließenden
tiefenpsychologisch orientierten Studium am Institut für
Psychotherapie und Tiefenpsychologie in Stuttgart bei Dr. W.
Klosinski (1912-1996), dem damaligen Leiter des Stuttgarter
Instituts. Frau Kessler-Kakoulidis ihrerseits war am ehemaligen
Konservatorium der Stadt München, der heutigen Musikhochschule, an
dem Amelie Hoellering unterrichtete, eine ihrer Studentinnen.
Diese Zusammenhänge erscheinen mir wichtig, um zu verstehen, warum
sich z.B. der erste Teil des Buches mit dem musikpädagogischen
Ansatz von Emile Jaques-Dalcroze befasst, der dann später von
Elfriede Feudel erweitert wurde. Wie Frau Kessler-Kakoulidis
beschreibt, wird schon hier deutlich, dass sich erste Ansätze eines
psychologisch-therapeutischen Denkens bereits bei Dalcroze finden
lassen.
Feudel legte den Fokus ihrer Arbeit auf eine »Erziehung zur
Bewegung und über die Bewegung« (S. 14). Obwohl also die
musikpädagogische Dimension bei Feudel eindeutig belegbar ist und
auch in ihren Schriften deutlich wird, genügte er ihrer Schülerin
Amelie Hoellering nicht, sodass sie Feudels Ansatz für sich um den
Aspekt einer tiefenpsychologisch fundierten Pädagogik erweiterte
und damit ein völlig neues Konzept aufzeigte, das es bis dahin in
der Rhythmik nicht gab. Dass sie diesen Aspekt in ihrer Ausbildung
in den Mittelpunkt rückte, ist nur verständlich. Es ist der
Verdienst von Lucia Kessler-Kakoulidis, diesen Aspekt einer
tiefenpsychologisch orientierten Rhythmik bei Hoellering in ihren
Zusammenhängen und in deren Bedeutung für die Weiterentwicklung der
Rhythmik herausgearbeitet zu haben.
Mit Blick auf ihre seit Jahrzehnten andauernde
rhythmisch-musikalische Arbeit, u.a. bei Menschen mit Autismus in
Griechenland, hebt Kessler-Kakoulidis nicht nur die Elemente der
Rhythmik – Rhythmus, Musik und Bewegung – hervor, sondern legt
besonderen Wert auf die Komponenten Blick, Stimme und Sprache. Der
Aspekt einer tiefenpsychologisch orientierten Rhythmik und das
erweiterte Verständnis der Rhythmik bei Kessler-Kakoulidis sind es,
die letztlich auch die Möglichkeit eines Zugangs zum
musikpädagogisch-musiktherapeutischen Bereich eröffnen, der die
rhythmisch-musikalische Arbeit von Lucia Kessler-Kakoulidis
bestimmt. Die praktische Umsetzung dieses Ansatzes zeigt sich in
beeindruckender Weise in Form einer Intervention bei Menschen mit
Autismus.
Wenn Frau Kessler-Kakoulidis im Epilog ihres Buches schreibt, dass
es neben der Darstellung des integrativen Ansatzes von Hoellering
ihr Ziel war, über einen Einblick in ihre praktische Arbeit den
»Reichtum an Einsatzmöglichkeiten [der] Rhythmik nach Amelie
Hoellering« (S. 274) aufzuzeigen, dann hat sie auch dieses Ziel mit
Bravour erreicht.
Somit bietet das Buch von Lucia Kessler-Kakoulidis wesentliche neue
Erkenntnisse und Einblicke in die Zusammenhänge und
Weiterentwicklung hin zu einer tiefenpsychologisch orientierten
Rhythmik, deren Einsatzmöglichkeiten im therapeutischen Bereich
wünschenswert sind.
Nicht unerwähnt bleiben sollte die Bemühung der Autorin, in einer
Zeit der multikulturellen Gesellschaft dem Leser durch Bezüge auf
griechische Autoren oder Begebenheiten auch die Kultur ihrer
Wahlheimat Griechenland näher zu bringen. Damit soll ein
Brückenschlag zwischen ihrem Geburtsland und der neuen Heimat,
zwischen Nord und Süd mit seinen unterschiedlichen Lebensweisen und
Kulturen geschlagen werden.
Dieses Buch ist durch seine Praxisbezogenheit nicht nur eine
Fundgrube für alle Fachexperten im musikpädagogischen,
musiktherapeutischen und förderpädagogischen Bereich, sondern vor
allem auch für Eltern und Betreuer von Menschen mit
Autismus-Spektrum-Störung ein gut lesbarer Ratgeber.
Copyright Reichert Verlag Wiesbaden
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