Rezension zu Inklusion - ein leeres Versprechen?
Behinderte Menschen 4/5 2016
Rezension von Ernst Berger
Georg Feuser
Inklusion - ein leeres Versprechen? Zum Verkommen eines
Gesellschaftsprojekts
Die Beiträge des demnächst erscheinenden Buches werden durch zwei
zentrale Gemeinsamkeiten verbunden, die das Buch zu einem Ganzen
machen: Die erste Gemeinsamkeit besteht in der Tatsache, dass die
Autorinnen und Autoren seit mehreren Jahrzehnten praktisch und
theoretisch integrationspädagogisch tätig sind – anders formuliert:
Sie gehören alle zum Urgestein der Integrationsbewegung. Die zweite
Gemeinsamkeit: die Irritation über den Titel der
Integrationsforscherlnnen-Tagung des Jahres 2015 in Halle
»Inklusion ist die Antwort – was war noch mal die Frage«. Um den
zentralen Gedanken vorwegzunehmen: Es geht um die Frage, was die
Gründe und die Bedingungen von Exklusion waren und sind. Die
Irritation über einen Tagungstitel, der diese zentrale Perspektive
ignoriert, war für Georg Feuser der Anlass, eine grundsätzliche
Auseinandersetzung mit dem Begriff der Inklusion anzuregen. Daraus
entstand ein gemeinsamer Grundgedanke, den man folgendermaßen
zusammenfassen könnte: Der heutige Diskurs um Inklusion ist ebenso
wie die daraus resultierende Praxis (fast immer) naiv, ahistorisch
und unpolitisch. Dies unter anderem deshalb, weil sie das Thema der
Exklusion ausschließt. Die Beiträge des Buches stellen sich die
Aufgabe, diese Defizite nachzuweisen und teilweise auch
auszugleichen.
Lanwer kritisiert, dass Unklarheit darüber besteht, was unter
Inklusion verstanden wird. Graf macht deutlich, dass Schule –
aufgrund ihrer gesellschaftlichen Funktion – per se eine
Exklusionsfunktion hat. Wolfgang Jantzen kritisiert die
Geschichtsverleugnung: »Der Diskurs der Inklusionsbefürworter ist
in vielerlei Hinsicht geschichtslos, insbesondere was die dort
behauptete radikale, nahezu abgrundtiefe Trennung von Integration
und Inklusion betrifft ... Inklusion wird ... unmittelbar aus der
Behindertenrechtskonvention als Menschenrecht abgeleitet, ohne die
lange dahin führende Geschichte der Integration hinreichend
wahrzunehmen.« Der Beitrag von Reichmann-Rohr füllt diese
Geschichtslücke u.a. mit einer ausführlichen Darstellung der
Biografien und Schriften von Georgens und Deinhardt, die im Kontext
der von ihnen geführten Anstalt »Levana« meist als Begründer der
Heilpädagogik apostrophiert werden. Er charakterisiert die »Levana«
als integratives Projekt und hält fest, dass »Schwierigkeiten,
Mängel und Scheitern nicht Temperamenten und Charakteren der
Reformer, sondern den rückschrittlichen Bedingungen vor und nach
der 48er Revolution geschuldet sind«. Auch der Beitrag von Stein
begründet – unter Bezug auf Arendt, Gramsci und Negt –, dass
Pädagogisches immer Politisches ist. Ein zentraler Satz aus dem
Beitrag von Peter Rödler: »Der Schritt zur Unsichtbarkeit geht hier
also nicht über eine veränderte Sonder-, Integrations- oder
Inklusionspädagogik auf die ehemals exkludierten Schülerinnen und
Schüler bezogen, sondern die Allgemeine Pädagogik [!], ändert sich
dahin gehend, dass auch die Regelschülerinnen und -schüler in ihrer
Heterogenität und individuellen Vielfalt anerkannt und entsprechend
behandelt werden! Kurz: Für die Inklusion muss sich die Allgemeine
Pädagogik ändern!«
Feuser spricht vom »Prozess der Integration der Inklusion in die
Segregation« und formuliert die zentrale Aussage des Buches: »Die
erfolgreiche Intervention der Politik im materialen Feld der
Bildung gegen Inklusion ist in erheblicher Weise den Akteuren
geschuldet, die die spezifischen Funktionen inklusiver Bildung zu
entwickeln hätten. Weil sie nicht wissen, was die Frage war, auf
die sie eine deshalb unglaubwürdige Antwort haben, betreiben sie
mit dem Etikettenschwindel der Inklusion letztlich die Selektion,
Ausgrenzung und Segregation von Menschen, die die normativ an sie
gerichteten Erwartungen nicht oder nicht weitreichend genug
erfüllen und damit das Geschäft der Gegenseite.« Schon die
Radikalität des hier formulierten Vorwurfs sollte jede und jeden,
die/der unter dem Banner der Inklusion pädagogisch tätig ist,
veranlassen, dieses Buch zu lesen.
Feusers These ist, dass man über Inklusion nicht sinnvoll reden
kann, wenn man über Exklusion – historisch und politisch –
schweigt. Er verankert das Phänomen der Exklusion in seinen
biografischen Erinnerungen an ausgeschlossene Menschen seines
Kindheitsumfeldes – den »Dorfdepp« und den »Polack« – und den
Aufbau der beschützenden Werkstätten. In einem weit ausholenden
Streifzug durch die Geschichte des Ausschlusses führt Feuser bis zu
Comenius und seiner Forderung nach Bildung für alle, um an der
Biografie von Comenius deutlich zu machen, welche
gesellschaftlichen und politischen Hürden dieser Position
gegenüberstehen.
Feuser spitzt den Diskurs zu, indem er zwischen sozialer Exklusion,
die persönlichkeitszerstörend und krankmachend ist, und Exklusion
als notwendiger Befreiung aus dem Einschluss in totale
Institutionen unterscheidet. Er macht auf diese Weise deutlich,
dass die heute dominierende Verwendung des Begriffs der Inklusion,
die er als »Inklusionismus« bezeichnet, inhaltsleer ist. Feuser
verweist schließlich auf die Bedeutung der Didaktik: »Es gibt aber
keine inklusive Mathematik, keine inklusive Fremdsprache oder
Geografie, keine inklusive politische Bildung! Es ist der
Unterricht, der sich z. B. und u.a. in verschiedenen Sprachen mit
mathematischen und geografischen Fragen, die es zu erkennen und
begreifen gilt, befasst, der so zu gestalten ist, dass er im
kooperativen Miteinander von Lerngemeinschaften Inklusion zu
ermöglichen vermag.«
»Das vornehmste Ziel pädagogischer Inklusionsbemühungen hätte dem
zu gelten: Ungleichheit abzuschaffen, was voraussetzt und verlangt,
Solidarität aufzubauen!« (Feuser)
Ernst Berger