Rezension zu Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen (1964-1985) (PDF-E-Book)
Einsicht 16. Bulletin des Fritz Bauer Instituts. Hebst 2016
Rezension von Katharina Stengel
Betreuung von »Opferzeugen«
Merle Funkenberg
Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern
bei NS-Prozessen (1964-1985)
Hinter dem etwas umständlichen Titel verbirgt sich eine
erziehungswissenschaftliche Dissertation, mit der die Autorin sich
auf die Spur der vielen Frauen und wenigen Männer begibt, die sich
aus eigener Initiative der zahlreichen ausländischen »Opferzeugen«
in den NS-Prozessen annahmen. In dem hier besprochenen Zeitraum gab
es für diese Zeugen, abgesehen von Hotelreservierungen, meist
keinerlei »offizielle« Betreuung. Sie fanden sich – oft allein – in
einem als feindselig und furchteinflößend empfundenen Land wieder;
mit ihren Aussagen vor Gericht standen ihnen äußerst belastende
Situationen bevor, die nicht wenige an den Rand ihrer Kräfte
brachten.
Eine erste Initiative zur Betreuung dieser Zeugen entstand 1964
während des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main.
Ausgelöst durch einen Presseartikel über die Lage der ausländischen
Zeugen kam ein kleiner Kreis von Frauen und einem jungen Mann
zusammen, die den NS-Verfolgten beistehen wollten. Es ging um
einfache Hilfestellungen bei der Alltagsbewältigung, aber auch, wie
sich schnell herausstellte, um höchst anspruchsvolle
Kommunikationsarbeit. Bald entstanden an vielen Orten, in denen
NS-Prozesse stattfanden, ähnliche Helferkreise; teils waren es
informelle Zusammenschlüsse, teils waren sie verbunden mit Pax
Christi, der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit
oder dem Roten Kreuz. Alfons Erb, Vizepräsident von Pax Christi,
war bei der Initiierung von Betreuergruppen besonders aktiv. Er war
motiviert von einem christlichen Versöhnungsgedanken, der hier
häufig zitiert, aber nicht kritisch hinterfragt wird. In mindestens
22 Städten, so Funkenberg, waren Helferkreise bei der
Zeugenbetreuung aktiv, die Hunderte von Zeugen unterstützten und
oft noch viele Jahre mit ihnen in Kontakt blieben. Bei der
schwierigen Quellenlage – die Presse berichtete zunächst kaum und
die Betreuer/-innen selbst hinterließen selten Aufzeichnungen, die
in Archive gelangten oder gar publiziert wurden – ist es ein großes
Verdienst der Arbeit, so viele Informationen über dieses weitgehend
unbekannte zivilgesellschaftliche Engagement zusammengetragen zu
haben.
Zunächst leuchtet die Autorin historische Kontexte der
Zeugenbetreuung aus – von den Etappen der Auseinandersetzung mit
den NS-Verbrechen, der zeitgenössischen Sicht auf die psychischen
Spätfolgen der KZ-Haft und der Spezifik der NS-Prozesse bis zu den
besonderen Problemen des Zeugenbeweises in diesen Prozessen –, in
einem folgenden Kapitel stellt sie die Entstehung und
institutionelle Rahmung der verschiedenen Initiativen vor. Das
zentrale Kapitel, überschrieben mit »Die emotionalen Aspekte von
Zeugenschaft und Betreuung«, basiert auf Quellen der Oral History,
vor allem auf zahlreichen Interviews, die Funkenberg mit
Zeugenbetreuer/-innen und drei noch lebenden Prozesszeugen führte.
Die Autorin bleibt in der Darstellung sehr nah an ihrem
eindrucksvollen Material. Forschungsleitende Thesen oder
Interpretationen finden sich wenig, dafür erfährt man viel über die
Betreuer/-innen, ihre Motive, über die großen Herausforderungen,
die dieses Engagement mit sich brachte, die vielen intensiven
Begegnungen mit den Zeugen und deren weitreichende biographische
Folgen. Die Motive und Hintergründe der Betreuer/-innen waren
höchst unterschiedlich, was in der Arbeit aber nur auf einer
persönlich-biographischen Ebene untersucht wird.
Die Zeugen und Zeuginnen kommen zwar auch mit ihren Erfahrungen vor
den bundesdeutschen Gerichten zu Wort. Im Zentrum stehen allerdings
auch in ihrem Fall die Beziehungen zu den Betreuer/-innen. Das ist
ein enger Fokus, er ermöglicht aber dennoch viele Einblicke in die
Situation und die Erwartungen dieser NS-Verfolgten. So erfreulich
und überraschend der Kontakt mit den Betreuer/-innen für die Zeugen
oft war, so ernüchternd war für sie vielfach das geringe Interesse
der Öffentlichkeit und Medien an den Prozessen. Ab den späten
1970er Jahren nahm das öffentliche Interesse an den »Opferzeugen«
zwar zu, gleichzeitig führten ihre Aussagen aber immer seltener zu
Verurteilungen, so dass einzelne Betreuerkreise den Zeugen sogar
abrieten, überhaupt noch für Gerichtsverfahren anzureisen.
Trotz einiger gegenläufiger Zitate überwiegt in der Arbeit ein Bild
von den Zeugen als doppelter Opfer – Opfer des Nationalsozialismus
und Opfer der vielfachen Zumutungen der Gerichtsverhandlungen. Das
entsprach offenbar auch häufig dem Bild der Betreuer/-innen von den
Betreuten. Dass die NS-Verfolgten oft sehr klare eigene Motive
hatten, sich den Gerichtsverhandlungen auszusetzen, und dass sie
manche Aspekte der Verfahren nicht nur als Last, sondern auch als
Genugtuung erlebten, gerät so leicht in Vergessenheit.
Zuletzt muss angemerkt werden, dass das über weite Strecken gut
lesbare Buch ein gründliches, auch inhaltliches Lektorat benötigt
hätte. Damit hätten sich etliche Fehler (etwa die Bezeichnung du
Historikers Nikolas [sic] Berg als Angehöriger der »HJ-Generation«,
S. 51) sowie zahlreiche Redundanzen in den Zitaten vermeiden
lassen.
Katharina Stengel, Frankfurt am Main/Leipzig