Rezension zu Jacques Lacan trifft Alfred Lorenzer
Journal für Psychoanalyse, 57, 2016
Rezension von Olaf Knellessen
Robert Heim und Emilio Modena (Hrsg.): Jacques Lacan trifft Alfred
Lorenzer
Das vorliegende von Robert Heim und Emilio Modena herausgegebene
Buch versammelt die Beiträge einer Tagung, die im Juni 2014 vom
Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ) und der Stiftung für
Psychotherapie und Psychoanalyse veranstaltet wurde. Sowohl bei
Jacques Lacan als auch bei Alfred Lorenzer steht die Sprache im
Zentrum ihrer Theorien und dennoch könnten sie verschiedener kaum
sein. »Hob Lorenzer die Freud’sche Lehre des Unbewussten auf die
Höhe einer Metatheorie, tauchte Lacan mit seiner ›Rückkehr zu
Freud‹ in die klassische Psychoanalyse ein, um mit einer
vergleichbar anspruchsvollen Theorie das wissenschaftliche und
klinische Feld der Psychoanalyse radikal umzupflügen« (S. 129 f.),
so fasst Robert Heim in seinem abschliessenden, sehr ausgewogenen
Beitrag die Differenz, die schon in der Ausrichtung der beiden
Theorien besteht.
Es ist also kein einfaches Unterfangen, eine Begegnung zwischen den
beiden so verschiedenen Autoren zu Stande zu bringen. Schon das
Cover und seine Anordnung der Konterfeis der beiden Protagonisten
legt ein Treffen zwischen ihnen nicht unbedingt nahe.
Emilio Modena weist in seiner Einführung darauf hin, dass wir uns
als Psychoanalytiker immer wieder eingestehen müssen, »dass wir
mit unserem Wissen sehr oft an Grenzen stossen, nicht mehr
weiterkommen, verunsichert, ja verzweifelt sind«, und ortet die
Funktion der Theorie darin, »den Analytiker und die Analytikerin
vor Selbstzweifeln zu schützen (...)« (S. 11). Damit markiert er
eine Schwierigkeit, an der solche Begegnungen scheitern können.
Wenn nämlich Theorien eine solche Funktion haben und die
Differenzen zwischen ihnen – wie es für den vorliegenden Fall dem
Zitat von Robert Heim schon zu entnehmen ist – sehr grundsätzlich
sind, kann dies die Neigung verstärken, sich in Selbstgewissheit
zu retten und die Identität mit der eigenen Theorie zu betonen.
Eine solche Tendenz ist dem vorliegenden Band anzumerken. So
entlarvt gleich zu Beginn Peter Widmer anhand von Descartes und
seinem Cogito ergo sum die Identität, die in diesem Ich gefasst
werden soll, als Illusion, so betont Ulrike Prokop die Irritation
beim Verstehen kultureller Erscheinungen als Quintessenz des
Vorgehens nach Lorenzer. Bei der Begegnung mit der anderen Theorie
und der damit möglicherweise verbundenen Irritation vertraut man
allerdings weitgehend doch dem eigenen Wissen und bleibt sich und
diesem treu. Von einem Reiz zum Verrat oder abtrünnig zu werden,
was ja zu einer Begegnung mit dem Anderen durchaus gehören könnte
– wie es die Wahlverwandtschaften, die in diesem Buch einen
zentralen Stellenwert haben, vorführen –, ist jedenfalls nicht
sehr viel zu spüren.
Didaktik ist da ein sicherer Wert und die beiden Einführungen von
Widmer und Hans-Dieter König in die jeweiligen Theorien vertrauen
sich ihm ganz an. Die Faszination am Anderen hält sich da sehr in
Grenzen. Trotzdem kommt es zu einem Geplänkel. Aus Empörung über
einen Diskussionsbeitrag eines Lacanianers – seine Ausführungen
seien eine »Orgie des Verstehens« – ergänzt König seinen Vortrag
an der Tagung für dieses Buch um ein weiteres Kapitel, in dem er
Lacans Theorie des Spiegelstadiums in der Perspektive von Lorenzers
psychoanalytischer Interaktions- und Sozialisationstheorie zu
demontieren versucht. Damit wird alles wieder zurechtgerückt.
Allerdings bleibt unklar, weshalb die Bemerkung über die Orgie zu
einem Vorwurf wurde. Sie könnte auch Zeichen von Irritation und
Anziehung durch den Anderen sein, die scheinbar von beiden Theorien
als zentrales Moment jeder Begegnung gesucht wird.
Die Mitte des Buches bilden zwei Interpretationen der
Wahlverwandtschaften von Goethe. Wahlverwandtschaften vermögen ja
– insofern ist das eine schöne Wahl – solcherart Begegnungen sein,
um die es in diesem Buch geht.
Marianne Schuller legt auf bestechende Weise einen Ansatz vor, der
nicht vom Inhalt, sondern radikal von der Form ausgeht und sich an
den Namen der Protagonisten dieses Romans orientiert. Es beginnt
mit Eduard, der sich später den Namen Otto gibt. Einen Namen, der
sich von vorne und von hinten gleich liest und somit ein Palindrom
darstellt, dessen Mitte von einem doppelten t gebildet wird. Der
Mittler – der auch das doppelte t aufweist – ist ein Bote, der an
Hermes, den Friedensbringer, erinnert, aber einer, der in beide
Richtungen wirksam wird, also Beziehungen stiften, sie aber auch
auflösen kann. Schon allein dass über die Buchstaben dieses
Namens seine Bedeutung entwickelt wird, macht unverkennbar Lacans
Ansatz deutlich: »Goethes Roman ist nicht zuletzt deswegen als
Sprach-Roman bezeichnet worden, weil er lesbar macht, dass nicht
die Figuren diese symbolische Struktur beherrschen, sondern dass
sie ihr unterworfen sind: Das ist es, was sie zu Subjekten macht«
(S. 72).
Ganz anders ist die Interpretation von Prokop gebaut. Sie geht vom
Inhaltlichen – daher ja auch (Tiefen-)Hermeneutik – und vor allem
von einer Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung aus. Bei
aller Betonung der Irritation: »Die Tiefenhermeneutik – so Lorenzer
– soll solche Unverträglichkeiten im Textgeschehen nicht
übergehen« (S. 78), ist diese Dynamik jedoch darauf ausgerichtet,
eine Eindeutigkeit, eine geschlossene und auch abgeschlossene
Deutung zu geben. Die Brüche, Unverträglichkeiten und
Irritationen werden dann – entsprechend zu Lorenzers Verständnis
der Symbolfunktion in der Analyse selbst – auf eine Auflösung der
Widersprüche ausgerichtet, die zu einer allgemeinverständlichen
und -gültigen Deutung führen soll.
In diesem Mittelteil wird in der Methodik etwas von den
beträchtlichen Differenzen der beiden Theorieansätze deutlich.
Umso bemerkenswerter ist es, dass beide Interpretationen zu einem
sehr ähnlichen Schluss kommen. Der heutzutage sich ständig
wiederholende Vorbehalt gegenüber einer im Roman beschriebenen
»Auflehnung gegen den Tod« (S. 85) geht bei beiden Autorinnen
einher mit der »Kritik an der säkularen Welt: an einer Welt, die
alles herstellen will, die über alles verfügen will, die Grenzen
verleugnet und verschiebt und das Nicht-Verfügbare in der Welt
leugnet.« (S. 88). Von hier ist es dann nicht mehr weit zur
Anprangerung aktueller totalitärer Glücksversprechen neoliberaler
Ökonomie, gentechnischer Manipulationen und dem illusionären
Anspruch auf Vollkommenheit auch des Körpers.
Diese inzwischen wenig originelle Position müsste sich den Einwand
gefallen lassen, dass die Weiterentwicklung der säkularen Welt
solche Auflösung herkömmlicher Beziehungs- und familiärer
Strukturen längstens verwirklicht hat, ohne dass es zu einem
Zusammenbruch der Kultur, der Gesellschaft oder des Lebens gekommen
wäre.
Bei Thierry Simonelli und seiner Arbeit zum »Kleinen Hans« ist es
mit den Gemeinsamkeiten schnell wieder zu Ende. Wenn er sich auf
Wittgensteins Diktum »Wahrscheinlich gibt es viele verschiedene
Arten von Träumen und nicht eine Erklärungsweise für alle.
Genauso wie es verschiedene Arten von Witzen gibt. Oder genauso wie
es verschiedene Arten von Sprache gibt« (S. 107) bezieht, dann
jedoch mit dem Hinweis, dass daran jede psychoanalytische Theorie
kranke und genau darin der Grund für jenes Diktum von Karl Krauss
läge, dass die Psychoanalyse diese »Geisteskrankheit (ist), für
deren Therapie sie sich selbst hält.« (S. 106).
André Michels unternimmt dann unter dem Titel Wissen der Sprache –
Sprache des Unbewussten seinerseits den substanziellen Versuch
einer Begegnung zwischen Lacan und Lorenzer als Bestimmung ihrer
Differenz. In seiner Auseinandersetzung mit Lacan nimmt Lorenzer
Bezug auf Lucien Sève, «der Lacans Formulierung ‹Das Unbewusste
ist wie eine Sprache strukturiert› einiges abgewinnen kann» (S.
121). Sève fragt weiter: »Und warum auf halbem Wege stehen
bleiben? Warum dann das sprachliche Verhältnis vom Ensemble der
gesellschaftlichen Verhältnisse abstrahieren? Höchstens doch um
zu vermeiden, dass man bei den Produktionsverhältnissen anlangt«
(S. 123). Damit ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Lacan und
Lorenzer markiert, insofern es Letzterem eben nicht einfach darum
ging, eine Metasprache zu formulieren, so wie es König meinte,
sondern vor allem um eine Vermittlung marxistischer,
materialistischer Theorie der objektiven Verhältnisse mit der
Psychoanalyse als Theorie des Subjekts. Michels schreibt weiter:
»Dem Autor geht es vor allem, seinem Verständnis des
gesellschaftlichen Materialismus entsprechend, um den Hinweis auf
den harten Kern des Realen, auf die ›Produktionsverhältnisse‹,
insofern sie ›real existierend‹, d. h. nicht rein sprachlich
strukturiert sind« (S. 123).
Damit steht das Verständnis von Produktion im Zentrum der
Differenz der beiden Theorien. Wird sie im einen Fall unter
nationalökonomischen Aspekten betrachtet, geht es im anderen Fall
– unter dem Stichwort von Reproduktion und Übertragung – um ihre
triebökonomischen Bedingungen. Beide Perspektiven treffen sich –
so könnte man weitergehen – im Fetisch und der von ihm markierten
Entfremdung. Wird diese Entfremdung im einen Fall als eine
verstanden, die – in Theorie und Praxis – aufgehoben werden kann,
ist sie im anderen Fall eine, der nicht zu entkommen ist, die sich
– in Reproduktion und Übertragung – immer weiter fortsetzt, ohne
den Bruch und die Zäsur aufheben zu können, welche die Sprache
und die symbolische Kastration ausmachen. So bleiben Irritation wie
auch Anziehung durch das Objekt treibende Kräfte jeder
Begegnung.
Sicher etwas vereinfacht kann man sagen, dass die Theorie Lorenzers
an eine Überwindung von Entfremdung glaubt, Lacans Denken dem
gegenüber skeptischer ist und ein Gelingen vielleicht eher in der
Einsicht und Akzeptanz des Scheiterns und des Bruchs sieht. Das
hier anvisierte Treffen zwischen Lacan und Lorenzer würde dann
eher Lacan Recht geben. Man kann wohl kaum von einer gelungenen
Begegnung sprechen. Manchmal schlägt es Funken und blitzen die
Unterschiede auf, die Selbstdarstellung und Behauptung des eigenen
Wissens gewinnt aber schnell wieder Überhand.
In diesem Sinn stellt Robert Heim in seinem dieses Buch
abschliessenden Encore solche Begegnungen von Theorien und ihren
Begründern unter das Zeichen der Liebe, indem er die Liebe zur
Theorie als Aufleben der Übertragungsliebe versteht. Sie ist im
konkreten Fall der Weitergabe psychoanalytischen Wissens
idealtypisch »vom Modell der Beziehung zwischen einem Meister und
einem Schüler (...) getragen« (S. 166) und kreist um die
Anerkennung und Zustimmung des Anderen und das Bemühen, ihm zu
entsprechen und ihm gleich zu werden. Übertragung ist aber, das
ist unsere Erfahrung, nicht nur eine der Liebe, sondern auch eine
des Triebs und seines Konflikts.
Begegnungen – auch zwischen Theorien – sind also kein einfaches
Unterfangen. Sie stehen im Zeichen des Scheiterns ebenso wie in der
Hoffnung auf Gelingen. Und das – so könnte man sagen – wird in
diesem Buch eindrücklich vorgeführt. Es lohnt sich, dieses Buch
gerade unter diesem Aspekt zu lesen. Dann wird man sehen, wo einem
das Herz schlägt.
www.psychoanalyse-journal.ch