Rezension zu Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse?

Dr. med. Mabuse. Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe, Nr. 224 November/Dezember 2016

Rezension von Norbert Schmacke

Thomas Hartung, Eike Hinze u. a.
Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse?
Eine kritische Bilanz nach 50 Jahren Richtlinien-Psychotherapie

Drei Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV), die sich für die »hochfrequente Psychoanalyse« einsetzt, blicken auf 50 Jahre Psychotherapierichtlinie zurück, die zuletzt 2016 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) aktualisiert wurde. Diese Richtlinie und der im Psychotherapeutengesetz verankerte und von der Bundesärzte- und Bundespsychotherapeutenkammer geleitete „Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie“ bestimmen maßgeblich, welche Formen von Psychotherapie in welchem Umfang und mittels welcher Genehmigungsprozeduren von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden. In sechs Kapiteln geht es in Variationen darum, die Entwicklung und den Einfluss dieser Richtlinie vor dem Hintergrund der Geschichte der Psychoanalyse (PA) in Deutschland zu beschreiben und zu interpretieren. Ziel dieser Publikation ist in erster Linie, noch einmal die Grundsatzdebatte um den besonderen Stellenwert der Psychoanalyse im Allgemeinen und die von der DPV favorisierten vierstündigen PA ins Gespräch zu bringen.

Die Argumentationskette beginnt mit der Feststellung, dass Sigmund Freud den medizinischen Krankheitsbegriff nicht akzeptierte, dass er sich ausdrücklich ge­gen die Vereinnahmung der PA durch die Medizin wandte und es der PA nicht um Symptombekämpfung gehe. Schäfer schreibt dazu: »Die Psychoanalyse erarbeitet mit dem Patienten jedes Mal aufs Neue ein tieferes Verständnis unbewusster Konfliktdynamik und somit eine Steigerung an Freiheitsgraden von Lebensbewältigung«. Psychoanalytiker können unter der Überschrift »Analytische Psychotherapie« zunächst bis zu 160 Stunden, maximal 300 Stunden, auf Kosten der Krankenkassen durchführen. Dies ist für die DPV ein Kompromiss, der ihrer Vorstellung einer wöchentlich vierstündigen Analyse mit prinzipiell unbefristetem Verlauf widerspricht. Der Status quo wird von den Autoren vor allem im Lichte der Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Vertreter der PA und der sehr komplizierten Suche nach einem neuen Standort der PA nach 1945 prinzipiell als Fortschritt betrachtet. Damit ist die PA auch für diejenigen erreichbar, die sie sich aus Eigenmitteln unmöglich leisten könnten.

Die Hauptkritik richtet sich dann aber auf den Einfluss, den die Richtlinie auf die neue Generation von Analytikern und vor allem auf das obligatorische Begutachtungsverfahren ausübt. Die Richtlinie führe zur Akzeptanz des medizinischen Krankheitsverständnisses und zur Beschränkung des erforderlichen Behandlungsumfangs: Das Akzeptieren der Richtlinie wird demzufolge als eine Art Unterwerfungsritual gedeutet. Damit wird der Leserschaft die Haltung der DPV eindrucksvoll nahe gebracht, auch durch – für einen Psychotherapie-Laien erstaunliche – narrative Passagen aus der Welt der PA.

Der Rezensent (stellvertretendes Mitglied im G-BA, mit der Psychotherapierichtlinie allerdings nicht befasst) nimmt zur Kenntnis, dass die Begründungen für die Grundannahmen der DPV sehr knapp ausfallen. Man muss schon den wenigen Literaturhinweisen vor allem zur vergleichenden Psychotherapieforschung ausführlicher nachgehen, um sich ein eigenes Bild darüber zu machen, ob eine analytische Psychotherapie mit vier statt mit drei Sitzungen pro Woche tatsächlich überlegen ist oder wie es um den Standort der PA innerhalb der psychotherapeutischen Verfahren generell bestellt ist. Das Klagen über ungenügende Vergütungen teilt die­se Darstellung nun aber mit allen interessengebundenen Publikationen im Feld der Gesetzlichen Krankenversicherung. So ganz schlecht ist die PA bislang jedenfalls doch wohl nicht mit der Aufnahme in die Richtlinie gefahren. Es sei daran erinnert, dass Ina Weigelt, Vorsitzende der Dt. Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) von 1981 bis 1983, zum Streit zwischen den psychoanalytischen Gesellschaften der Zeitzeugin Regine Lockot zufolge gesagt hat: »Als es um’s Geld ging, hörten die Konflikte auf«. »Mehr Geld« – das ist die Melodie, auf die nach Niklas Luhmann das Gesundheitswesen am liebsten hört.

Norbert Schmacke,
Bremen


www.mabuse-verlag.de

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