Rezension zu Bruderheld und Schwesterherz (PDF-E-Book)
Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (Heft 172) XLVII. Jg., 4/2016
Rezension von Tillmann F. Kreuzer
Brock, Inés (Hrsg.): Bruderheld und Schwesterherz. Geschwister als
Ressource
Als einer der jüngsten Sammelbände zur noch immer im Schatten
aller Wissenschaften stehenden Thematik von und um Geschwister
wendet sich »Bruderheld und Schwesterherz« dem Laien sowie dem
Fachpublikum zu. Darin ist bereits das sich zum Problem
entwickelnde Anliegen der Herausgeberin in der Konzeption des sehr
ambitionierten Bandes zu erkennen, denn diese Problematik spiegelt
sich in den Qualitäten der einzelnen Beiträge, die sich eben
entweder dem Laien oder dem Wissenschaftler zuwenden.
Die von Hans Sohni formulierten »Wünsche« im Vorwort, »[Das]
Sehvermögen üben für horizontale Beziehungsprozesse [und damit]
einen unverstellten Blick auf Struktur und Bedingungen [zu]
entwickeln, in dem sich Geschwisterbeziehungen konstruktiv
entfalten können« (S. 10), kann nur zugestimmt werden. Leider
werden die im anschließenden Vorwort aufkommenden Irritationen in
Bezug auf die Adressaten genährt, wenn Autorinnen und Autoren mit
ihrem beruflichen Werdegang sowie ihren fachlichen Qualifikationen
dargestellt werden und in einer Selbstdarstellung der
Herausgeberin, die ihr Fachwissen betont, münden. Dies ist
bedauerlich, zumal dies der Thematik des Bandes wenig dienlich
erscheint und wie ein Ringen um Glaubwürdigkeit wirkt.
Gleichzeitig wird dadurch aber auch die Problematik des Themas
erkennbar: Die Geschwisterthematik ist bekannt, wird regelmäßig in
den öffentlichen Medien belletristisch behandelt, die Regale der
Buchhandlungen sind voll von Ratgeberliteratur – aber
wissenschaftlich fundierte Forschung in Familien-, Kinder- und
Jugendforschung wurde bisher weitgehend vernachlässigt.
Der Band ist übersichtlich und gut in vier Teilbereiche, die sich
alle um spannende Themen wie Geschwister »in unterschiedlichen
Lebenslagen« (erster Teil), »im psychischen Erleben« (zweiter
Teil), »in Familie und Institution« (dritter Teil), »und besondere
Herausforderungen« (vierter Teil) gegliedert.
Den ersten Teil eröffnet Helmut Figdor mit »Geschwisterbeziehungen
in Trennungs-, Stief- und Patchworkfamilien«, die er anhand einer
Vielzahl von interessanten Fallvignetten darstellt. Dazu greift er
anfangs auf den alten Vater der Psychoanalyse Sigmund Freud
zurück, der bereits in der Traumdeutung (1900, S. 255f.) über
negative Eigenschaften von Geschwistern schrieb, ihre Bedeutung im
Rattenmann (1909, S. 428) nicht außer Acht ließ und in den
Vorlesungen (1916/17, S. 346f.) auch die positiven Seiten
berücksichtigte (vgl. S. 21ff.). Figdor fährt mit seiner
Begründung, dass Geschwister sehr wohl in der Aufmerksamkeit der
Psychoanalytiker stehen, fort, indem er neben Anna Freud Horst
Petri und Hans Sohni nennt. Freilich widerlegt er somit die These
der Spiegel-Autorin Thimm, dass sich Psychoanalytiker nicht um
»Bruder und Schwester gekümmert« (S. 21) hätten, belegt
gleichzeitig aber auch, dass »die Zahl der Arbeiten in denen auf
[...] Geschwister eingegangen wird, äußerst bescheiden« (S. 22)
ausfällt. Somit bestätigt er das Forschungsdesiderat, das dem
Thema zugrunde liegt und in allen weiteren Zusammenfassungen und
Fazits erwähnt wird.
In seinen Fallvignetten greift Figdor die meisten der populären
Ausprägungen (Neid, Eifersucht, Rivalität, Aggression,
Entthronung und Liebe) von Geschwisterbeziehungen auf und stellt
diese gut verständlich und nachvollziehbar dar. Am Ende wendet er
sich dem kühnen, multikulturellen Projekt der Patchworkfamilie (S.
38ff.) zu und gibt einen prägnanten Einblick wie Patchworkfamilie
gelingen kann.
Im zweiten Beitrag sammelt Meike Watzlawik Fakten und Daten der
Zwillings- und Mehrlingsforschung und geht auf die »Besonderheit
der Geschwisterdynamik« (S. 43) ein. Die Autorin benennt die
Besonderheiten des Aufwachsens von Mehrlingen und bezieht dabei
auch pränatale Entwicklungsbedingungen ausführlich mit ein. Sie
schildert die interessante »Möglichkeit einer besonderen
vorgeburtlichen Interaktion« (S. 48) einerseits, andererseits nennt
sie sofort Gegenbeispiele, welche die getroffenen Aussagen
widerlegen. Auch die Aussagen bezüglich Sprachentwicklung (Menyuk
et al., 1995/2014) oder der Beitrag von Ross, Kraus und Permans
(2012), welche nachweisen, dass »eventuell besonerer Förderbedarf
bei dem Zwilling/Mehrling bestehe« (S. 49), sind nicht neu. So ist
die Darstellung der unterschiedlichen Forschungsrichtungen und
-ergebnisse im Beitrag der Autorin bemerkenswert, da sie die Breite
der noch jungen Forschungsrichtungen aufzeigt, doch der Bezug zur
»besonderen Geschwisterdynamik« hätte stärker herausgearbeitet
werden können und bleibt dem Leser verschlossen. Hingegen hätte
es dem anschließenden Beitrag von Lu Decurtins »Brüder und
Schwestern – Ein Rollenspiel innerhalb der Familie.
Geschlechtsspezifische Aspekte unter Brüdern und Schwestern« (S.
61) an einem Mehr von Watzlawiks Nachweisen gut getan, um
Unklarheiten oder fehlende Nachweise zu vermeiden (bspw. S. 69, S.
77).
Zu Beginn des zweiten Teils »Geschwister im psychischen Erleben«
wendet sich Corinna Onnen den »nicht-wählbaren Beziehungen« zu
Schwestern zu, wobei Geschwisterbeziehungen als Primärbeziehungen
nie wählbar sind. Dorothee Adam-Lauterbach wagt den Schritt von
Geschwisterbeziehungen hin zu einer »psychodynamischen Betrachtung
der Einzelkindsituation«, wobei es ihr jedoch gelingt, die
Geschwisterthematik einzuflechten, und liefert weitere Indizien
für die Bedeutung von Geschwistern. Ihren Beitrag eröffnet sie
mit der Aussage, dass »das Aufwachsen als Einzelkind eher [...] zur
Normalität geworden« (S. 115) ist, und rekurriert auf Kasten
(2007), nach dem »ca. 20 %« zeitlebens geschwisterlos bleiben.
Daraus liest sich auch eine Frage, die sie in der
psychoanalytischen Erweiterung von Mentzos’ (2009) Gedanken zu den
Grundkonflikten formuliert: »Wie gestaltet sich [...] diese
Spannung zwischen Selbst- und Objektbezogenheit?« (S. 116), wenn
keine Geschwister zur Verfügung stehen! Diese Ausdifferenzierung
ist erfreulich. Sehr interessant sind die Hinweise auf die
Unterschiede bei der Entwicklung der Sprach- und
Mentalisierungsfähigkeit (S. 118) sowie die psychodynamischen
Unterschiede (S. 122). Ein reifer und gut fundierter Beitrag.
Martina Stotz und Sabine Walper wenden sich in ihrem Beitrag
»Lieblings- oder Schattenkind« der Bedeutung und den Hintergründen
für elterliche Ungleichbehandlung zu. Der Hinweis der Autorinnen,
dass der Terminus »differential parental treatment oder übersetzt
elterliche Ungleichbehandlung rein deskriptiver Natur und [...]
lediglich ein wertfreies Mehr oder Weniger für ein Geschwister«
(S. 137) beinhalte, weist auf die nur sehr schwer fassbaren
Forschungsergebnisse hin, da die Aussagen einzelner Geschwister
immer und nur ausschließlich subjektiv gelesen werden können. So
sind die tatsächlichen Unterschiede im elterlichen
Erziehungsverhalten, dem Milieu und der subjektiven Wahrnehmung
eines jeden zu bedenken, was die Autorinnen ausführlich
beschreiben. Die Folgen solch eines Erlebens sind mitunter im
Positiven wie im Negativen eher fassbar bzw., »ob die
Ungleichbehandlung als ungerecht erlebt wird« (S. 152). Die
Autorinnen stellen in einem Fazit fest, dass es sich bei der
elterlichen Ungleichbehandlung um ein komplexes Zusammenspiel
handelt, was sicher nicht einlinear zu betrachten sein kann. Hier
liegt ein sehr erfreulicher Artikel vor, dessen Thema von
wissenschaftlicher Seite betrachtet unbedingt weiter erforscht
werden sollte, zumal das Thema der Ungleichbehandlung durch die
Zunahme von Patchworkfamilien hochaktuell ist.
Im dritten Teil »Geschwister in Familie und Institution« stellt
Inés Brock in ihrem ersten Beitrag »Ich hab mich so auf den
kleinen Bruder gefreut!« gewagte Aussagen auf – wie bspw.: »In
diesem Beitrag wird der 90 Jahre alte Mythos vom Entthronungstrauma
(Alfred Adler 1924) entzaubert« (S. 163). Solch eine »Entzauberung«
sucht man vergebens – wobei auch hier darüber nachgedacht hätte
werden können, dass sich solch ein »Zauber« eher an die
Erziehenden und werdenden Eltern richtet und bei einer guten
Vorbereitung die älteren Geschwister nicht vom Thron gestoßen
werden.
Brock vertritt die bereits in den 1970er Jahren diskutierte
Einstellung, dass ältere Geschwister bei der Geburt eines
Jüngeren anwesend sein sollten, und belegt dies anhand von
Aussagen aus ihrer eigenen, nicht publizierten Pilotstudie (S.
164). Interessant an dieser ungewöhnlichen Einstellung ist die
Verbindung, die sie zieht: Nicht nur der direkte Kontakt zu Mutter
und Vater ist von großer Bedeutung, sondern auch der direkte
nachgeburtliche Kontakt zum neugeborenen Geschwister.
Bindungstheoretisch könnte dies einleuchten, müsste aber durch
Langzeitstudien nachgewiesen werden (S. 166). Einzig auf die
»Fähigkeit von Kindern, die Geburt als bereichernd zu erleben« (S.
169), zu vertrauen, erscheint etwas zu kurz gedacht.
Selbstverständlich sollten Kinder wieder mehr an den
existenziellen Situationen des Lebens teilhaben, jedoch immer nur
in einem gesunden Maß. Zu bedenken wäre auch die Möglichkeit der
Traumatisierung eines Kindes durch das Erleben einer Geburt. Der
Hinweis, mehr auf die Fähigkeiten der Kinder zu vertrauen, könnte
sich auch als Überforderung eines Kindes bewahrheiten. Es kommt
ebenfalls darauf an, was Kinder sich selbst zutrauen und was ihnen
von Seiten der Erwachsener zugemutet wird.
Jürg Frick wendet sich in seinem Beitrag, welcher mit
interessanten Fallbeispielen bereichert ist, der spannenden
Thematik der »Auswirkungen und Dynamiken der Geschwisterthematik in
Schulklassen und im Lehrerteam« (S. 205) zu. So greift die Metapher
der älteren, hilfreichen Schwester, die »als Lehrerin, Vorbild und
Helferin [...] vor allem bei Schwestern« (S. 211) häufig in den
Rollenvorstellungen und -beschreibungen Jüngerer anzutreffen sind
(vgl. dazu ausführlich Kreuzer, 2016). Ebenfalls könnte dies ein
Studienwahlmotiv zum einen der jüngeren Geschwister sein, da sie
eben diesem Vorbild nacheifern möchten, zum anderen für ältere
Schwestern ein positiv prägendes Erleben darstellen, bei dem sich
eine mögliche Berufswahl manifestiert. Frick versteht es, die
Bedeutsamkeit von Geschwisterlichkeit als Lernfeld zu formulieren
und die »Auswirkungen von Geschwistererfahrungen« (S. 212) auf das
schulische Umfeld und besonders auf mögliche ungelöste Konflikte
zu lenken. Hierbei knüpft er ein loses Band zu Korczak, Bernfeld
und letztendlich zur Psychoanalytischen Pädagogik. Gerade dieser
Aspekt von Geschwistern sollte in keiner Ausbildung und keinem
Studium für angehende Pädagogen und Pädagoginnen vernachlässigt
werden, sondern muss ins Blickfeld gerückt werden, um unbewusste
Konflikte und Rollenvorstellungen bewusst zu machen.
Im abschließenden, vierten Teil »Geschwister und besondere
Herausforderungen« wenden sich die AutorInnen schweren Themen wie
denen des chronisch Somatischen sowie dem Tod von Geschwistern zu.
Eindrucksvoll schildern Lydia Morgenstern, Benjamin Grolle und
Silke Wiegand-Grefe, wie sich eine chronisch somatische Erkrankung
auf die Geschwister und ihre Beziehung und auf betroffene Eltern
auswirkt. Erfreulich an dieser Stelle ist, dass neben all den
harten Schicksalen auch »positive Effekte für die Geschwister
beschrieben« (S. 251) werden. »Demnach weisen Geschwister chronisch
erkrankter Kinder höhere Fähigkeiten in den Bereichen
kooperatives Verhalten und allgemeine Selbstbeherrschung auf«
(ebd.), und es wird auf »Interventionsmöglichkeiten für
Geschwister« (S. 254f.) hingewiesen.
Im abschließenden Beitrag fokussiert sich Rebecca Schmolke auf
»Geschwister in kinderreichen Familien«, die heute mehr oder
weniger verlorengegangen sind. Die anfangs traurig anmutende
Erkenntnis, dass das »Risiko, in eine wirtschaftlich schwierige
Situation zu geraten, besonders hoch ist« (S. 283), führt die
Autorin vom wirtschaftlichen zum lebensbereichernden Aspekt. Dass
Geschwisterschaft als Ressource dient und die Resilienzforschung
diesen Familien eine hohe positive Bedeutung für die Entwicklung
des Kindes zumisst, ist ein Faktum, welches vielleicht in Zukunft
wieder stärker in das Bewusstsein der Gesellschaft eindringen
sollte.
Geschwister sind in diesem durchaus lesenswerten Sammelband der
Gegenstand, der jeden Leser und jede Leserin ansprechen dürfte. So
wachsen nach verschiedenen Statistiken zwischen 25 % und 83 % (vgl.
Kreuzer, 2016) aller Menschen mit Geschwistern auf. Insofern sollte
der Band nicht nur das Fachpublikum, sondern auch den Laien
ansprechen können – mit der zu Beginn formulierten Anmerkung, dass
dies ein Unterfangen ist, welches nur dann gelingen kann, wenn
Geschwister als primäre Bezugspersonen stärker in den Fokus der
Fachwissenschaften und der Öffentlichkeit treten.
Literatur
Kreuzer, T. (2016): Geschwister als Erzieher?! Bedingungsgefüge,
Beziehung und das erzieherische Feld. Paderborn (Schöningh).
Dr. Tillmann F. Kreuzer, Freiburg
Weitere Informationen zur Zeitschrift: www.brandes-apsel-verlag.de