Rezension zu Inter* und Trans*identitäten (PDF-E-Book)
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Rezension von Elisabeth Vanderheiden
Maximilian Schochow, Saskia Gehrmann u.a. (Hrsg.): Inter*- und
Trans*Identitäten
Thema
Der vorliegende Sammelband stellt eine interdisziplinäre
Zusammenstellung von Perspektiven auf das komplexe Thema Inter* und
Trans*identitäten dar. Es bietet spannende Einblicke aus
unterschiedlichen Disziplinen wie etwa Recht, Theologie,
Soziologie, Medizin, Naturwissenschaften, klinische Psychologie,
Ethik, Geschlechter- und Medienstudien, Sexualwissenschaft,
Sportwissenschaft und der Pädagogik Alle Autor*innen verbindet »die
Würdigung geschlechtlicher Vielfalt und der Abbau von
Diskriminierung und rechtlicher Benachteiligung ein zentrales
gemeinsames Anliegen« (11f).
Herausgeber*innen
Die Herausgeber*innen des Sammelbandes sind:
Maximilian Schochow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für Geschichte und Ethik der Medizin an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine
Arbeitsschwerpunkte sind Wissenschaftsgeschichte, Gender und
Diversity Studies sowie Theorie und Ethik der Medizin.
Saskia Gehrmann promoviert am Institut für Geschichte und Ethik der
Medizin der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg.
Florian Steger ist Universitätsprofessor und Direktor des Instituts
für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm,
zuvor und seit 2011 in gleicher Funktion am Institut für Geschichte
und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg.
Das Buch enthält außerdem Beiträge von Ilke Glockentöger, Danielle
Verena Kollig, Ursula Kuhnle-Krahl, Luisa Lettrari, Friederike
Maaßen, Harald Matern, Laura Münker, Alexander Naß, Timo O. Nieder,
Konstanze Plett, Livia Prüll, Eike Richter, Anja Schmidt, Katharina
Scholz, Kerstin Schumann, Bernhard Strauß, Mathias Wirth, Manuel
Willer, Jörg Woweries und Simon Zobel.
Aufbau und Inhalt
Das Buch setzt im Wesentlichen vier Schwerpunkte:
1. Selbstbestimmte, medizinische und naturwissenschaftliche
Perspektiven auf ›Identität‹ und ›Geschlecht‹
2. Ethische Fragen im Umgang mit vulnerablen Gruppen
3. Rechtliche Aspekte inter*und trans*identer Menschen
4. Individuelle und gesellschaftliche Herausforderungen der
sexuellen Identität.
Inhalt
Das erste Kapitel widmet sich den Aspekten Selbstbestimmung und den
medizinischen und naturwissenschaftlichen Blicken auf das Thema.
Livia Prüll führt unter Bezugnahme auf ihre eigene Biographie und
einer historischen Biographie (Roberts Cowell, 1917-2011) in das
Thema Selbstbild der trans*identen Frau nach 1945 und die sich
daraus ergebenden Konsequenzen im Hinblick auf den Umgang mit
Geschlechteridentitäten ein. Sie fordert dabei u. a. das
Selbstbestimmungsrecht auf »ein Leben mit einem kongruenten
seelischen und körperlichen Geschlechtsempfinden« (54) ein.
Bernhard Strauß und Timo O. Nieder fragen in ihrem Beitrag danach,
wie die Versorgung trans*identer Menschen sichergestellt werden
kann. Eine ihrer zentralen Schlußfolgerungen ist dabei, dass es
erforderlich ist Transsexualität als »Krankheit« zu stigmatisieren,
die entsprechenden diagnostischen Kategorisierungen zu überwinden
und in Folge dessen auch die Behandlungsempfehlungen zu
überarbeiten.
Ursula Kuhnle-Krahl untersucht in ihrem Beitrag den Einfluss der
Gene und Hormone auf die Geschlechtsentwicklung bzw. das Verhalten
und kommt zum Schluß, dass Gene und Hormone unzweifelhaft eine
große Rolle spielen, Umweltfaktoren diese aber modifizieren können,
auch wenn dies noch ein Gebiet mit großem zukünftigen
Forschungsbedarfen ist.
Simon Zobel liefert einen weiteren Beitrag aus
naturwissenschaftlicher Perspektive und macht deutlich, dass die
Natur daran interessiert ist, Vielfalt hervorzubringen und so zu
»Mehrwertigkeit« führe, was sich auch in einer Vielfalt von
Geschlechtern zeige, die über die klassische Vorstellung von
binären Kategorien wie männlich und weiblich hinausgeht.
Die ethischen Implikationen der Thematik stehen im Fokus des
zweiten Kapitels, das fünf Beiträge umfasst. Mathias Wirth
beleuchtet zunächst das Thema aus advokatorisch-ethischer
Perspektive. Dabei betont er das Recht auf Anerkennung und den
Schutz vor Missachtung von marginalisierten Personengruppen und
fordert dazu auf, daran zu erinnern, »was wir Menschen sind:
Individuen, die ihre Würde gerade daraus beziehen, nicht sein zu
müssen wie das ›Man‹ in Adornos ›Schmelztiegel des
Kollektiven-Ichs‹« (129).
Harald Matern widmet sich den theologischen Facetten des Themas und
weist auf die Notwendigkeit einer diskriminierungsfreien
theologischen Ethik hin. Einen ersten Entwurf dazu legt er in
seinem Beitrag vor. Dabei versteht er Nächstenliebe vor allem als
Haltung. Eine solche – so fasst der Autor u. a. zusammen – »zielt
nicht auf die ›Angleichung‹ anderer Menschen, sondern betrachtet
Abweichungen vom Normverhalten und normalen Schemata, die bleibend
irritieren können, als Ausdruck der Freiheit der individuellen
Biografie und des kreativen Selbstausdrucks – ebenfalls so, wie
gegenüber anderen Menschen auch.« (149).
Laura Münker stellt Lösungsstrategien vor für das Problem des
angemessenen Umgangs mit frühen medizinischen Eingriffen bei
Intersexualität. Sie spricht sich gegen entsprechende Eingriffe
aus, die im Kleinkindalter ohne entsprechende Einwilligung der
betroffenen Person vorgenommen wurden, da diese nachträglich von
den Betroffenen häufig als schwere Verletzung der körperlichen
und/oder seelischen Integrität empfunden werden. Zugleich
formulierte sie fortgesetzten Klärungsbedarf hinsichtlich der
Kriterien der »Einwilligungsfähigkeit, das Problem der
eingeschränkten möglichen Antizipation der Geschlechtsidentität und
von Bedürfnissen an Sexualität durch Kinder wie Eltern und auf ein
besseres empirisches Wissen über mögliche folgende Eingriffe«
(169).
Friederike Maaßen diskutiert in ihrem Artikel das
Selbstbestimmungsrecht von Kindern mit Variationen der
Geschlechtsentwicklung (DSD) und reflektiert ihre Rolle als
moralische Akteur*innen in der medizinischen Behandlung. Dabei
untersucht sie insbesondere Fragen danach, was es bedeuten kann,
ein Kind mit Variationen der Geschlechtsentwicklung zu sein, wie
mit kindlicher Selbstbestimmung, dem Kindeswohl und dem
Kindeswillen generell im Kindesalter umgegangen wird und was dies
für den Umgang mit Kindern mit Variationen der Geschlechter
bedeuten kann.
Jörg Woweries erweitert in seinem Beitrag die vorangegangenen
medizinethischen Beiträge um die rechtliche Perspektive. Seiner
Auffassung nach muss jeder einzelne Inter*Mensch die eigene
geschlechtliche Identität als Kriterium beim Eintrag ins
Personenstandsregister vorbringen dürfen und fordert folgerichtig,
dass nur dieses Argument rechtlich anerkannt wird. Er wünscht sich
eine Vorstellung von Geschlechtern als Kontinuum (206) und schlägt
vor, gänzlich auf den Eintrag eines Geschlechts im
Personenstandsregister zu verzichten: »Dann wäre Geschlecht als
individuelles Menschenrecht zu denken.« (209), das die Freiheit und
das Selbstbestimmungsrecht des Menschen uneingeschränkt achtet und
respektiert.
Das dritte Kapitel diskutiert insbesondere die rechtliche Aspekte
in Bezug auf inter*und trans*idente Menschen. Konstanze Plett
eröffnet diese Debatte, indem sie untersucht, welchen Anteil das
Recht an der Konstruktion von Geschlecht hat. Dabei ist ihre
zentrale These, dass die Kategorie Geschlecht erst im Familienrecht
an Bedeutung gewinnt. In diesem Zusammenhang reflektiert sie, ob es
nicht am besten wäre, eine Reprivatisierung von Geschlecht zu
fordern. Dabei nimmt sie unter anderem Bezug auf das argentinische
Gesetz zur Geschlechtsidentität von 2012, das es den Menschen
selbst überlässt und freistellt, unter welchem Geschlecht sie
registriert sein wollen und jederzeit Änderungen gestattet.
Anja Schmidt diskutiert in ihrem Artikel das Recht »auf Anerkennung
der selbstbestimmten geschlechtlichen Identität« gemäß Art. 2 I, 1
I GG im Hinblick auf den geschlechtlichen Personenstand. Sie kommt
dabei zu der Auffassung, dass alle Geschlechtsidentitäten durch das
Grundgesetz geschützt sind und dementsprechend gleich zu behandeln
sind. Daher sind alle existierenden Geschlechtsidentitäten
rechtlich anzuerkennen und dürfen nicht rechtlich ungleich
behandelt werden. Sie spricht sich weiterhin dafür aus, dass sich
das Recht nicht typisierend auf die Anerkennung bestimmter
Geschlechtsidentität beschränken darf, da hier der
höchstpersönliche Bereich der Identitätsfindung betroffen ist. Dies
muss sich auch in anderen rechtlichen Kontexten widerspiegeln, dem
Personenstandsrecht etwa, dem Namensrecht etc, und dürfe nicht nur
über »Sondergesetze« abgebildet werden.
Luisa Lettrari und Manuel Willer sprechen in ihrem Beitrag weitere
ausgewählte aktuelle Aspekte der Rechtslage für intersexuelle
Menschen an. Sie zeigen auf, dass es zwar erste positive
Veränderungen für inter*sexuelle Menschen gibt, aber noch
weitergehende Novellierungen folgen müssen, etwa im Hinblick auf
das Personenstandsrecht, aber auch in Bezug auf die derzeitige
Regelung im Bereich der Ehe beziehungsweise der eingetragenen
Lebenspartnerschaft und der Mutter- sowie der Vaterschaft. Neben
einer weiteren Entpathologisierung fordern sie ein
geschlechterneutrales Personenstands- und Familienrecht, denn
dieses würde insbesondere inter*sexuellen Menschen die Möglichkeit
bieten, selbstbestimmt über sexuelle Identität zu entscheiden
Eike Richter geht der Frage nach, inwieweit sich geschlechtliche
Identitäten als rechtsgestalterische?und rechtsreformerische
Herausforderung darstellen. Er diagnostiziert in diesem
Zusammenhang ein regelrechtes Reformdefizit: »die zunehmende
Ausdifferenzierung und Variabilisierung des Geschlechterbegriffs
stellen die geltende Rechtsordnung vor grundlegende, menschen- und
grundrechtliche Herausforderungen der Reform.« (279). Der Autor
fragt nach Gründen für diese schwache Reformdynamik und widmet sich
auch aktuelle Reformbestrebungen und -aktivitäten ab 2015.
Im Mittelpunkt der Betrachtungen des vierten und letzten Kapitels
stehen die individuellen und gesellschaftliche Herausforderungen,
die mit der sexuellen Identität in Verbindung stehen. Dazu bietet
zunächst Alexander Naß soziologische Betrachtungen an. Naß nimmt
dabei insbesondere Bezug auf eine Forschungsarbeit, die ein
umfassendes Bild der biografischen Selbstdeutung und Lebenswelten
transparenter Personen in Deutschland untersucht. Im Fokus der
Forschungenstand die Frage, welche gesellschaftlichen Faktoren den
Eintritt in eine Geschlechtsangleichung der Behandlung
beschleunigen beziehungsweise entschleunigen. Hier wurden
insbesondere Unterschiede zwischen Trans*Frauen und Trans*männern
offenkundig, die genauer ausgeführt werden. In der Regel ist bei
trans*identen Frauen nämlich ein um 10 Jahre späterer
Behandlungsbeginn als bei trans*identen Männern zu
konstatieren.
Kerstin Schumann und Katharina Scholz stellen Ergebnisse eines
empirischen Forschungsprojektes aus dem Jahre 2014 vor, dass die
Wege von Trans*kindern, -jugendlichen und jungen -erwachsenen in
Sachsen-Anhalt untersuchte. Es wurden 13 Personen befragt,
hinsichtlich ihrer Biografien im Kontext der eigenen
Trans*Geschlechtlichkeit oder der ihres Kindes. Dabei bekommen sie
zum Schluss, dass es notwendig ist einen Blickwechsel zu
vollziehen. Das würde bedeuten, jüngeren wie älteren Trans*Menschen
auf eine »selbstverständliche Art und Weise« unterstützend und
offen zu begegnen, sowie sie an den medizinischen, ethischen und
juristischen Debatten aktiv zu beteiligen
Timo O. Nieder und Bernhard Strauß fragen nach der
Leitlinienentwicklung in der Transgender-Gesundheitsversorgung.
Ihrer Einschätzung nach muss in diesem Zusammenhang von einer
systematischen Diskriminierung und Destabilisierung von
Trans*gender Menschen im und durch das Gesundheitssystem
ausgegangen werden. Gemeinsam mit anderen arbeiten die Autoren
aktuell an Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung der
Geschlechtsdyphorie. Ziel dieser Leitlinie ist es, das sie
Trans*gender-Menschen als Instrument zur Qualitätssicherung im
Gesundheitswesen dienen soll.
Danielle Verena Kollig unternimmt in ihrem Beitrag eine Analyse von
Trans- und Intersexualität in öffentlichen Mediendiskursen in den
Jahren zwischen 2010 bis 2013. Sie kommt dabei zum Schluss, dass
gegenwärtige mediale Berichterstattungen bereits viel dazu
beigetragen haben, die Interessen trans*- und inter*sexueller
Menschen zu fördern. Sie spricht sich daher für eine
Berichterstattung aus, die das Gespräch mit trans* und
inter*sexuellen Menschen weiterführt: »Dann wird es möglich sein,
Trans und Intersexualität nicht mehr als essentielle, sondern als
akzidentielle Beigabe zur menschlichen Vielfalt und Vielfältigkeit
zu verstehen.« (381)
In ihrem Artikel »Geschlechtskonstruktionen im Spitzensport
jenseits von Zweigeschlechtlichkeit?« untersucht Ilke Glockentöger
aus sportsoziologischer Perspektive, wie Zweigeschlechtlichkeit im
Spitzensport regulativ hergestellt und festgeschrieben wird. Dabei
konstatiert sie, dass sich der Spitzensport in Bezug auf die
Liberalisierung und Vervielfältigung von Geschlechterkonzepten
bislang als resistent erweist (401).
Diskussion und Fazit
Den Herausgeber*innen ist es gelungen, interdisziplinäre und
vielfältige Perspektiven zum Thema Transidentitäten und
Inter*Identitäten zusammenzutragen. Die Beiträge sind aktuell und
hoch informativ, wichtige Aspekte und Forschungsergebnisse werden
kenntnisreich angesprochen und diskutiert.
Die Herausgeber*innen formulieren als wichtiges Anliegen, »dass
dieser Band bei der Bewältigung medizinethischer Probleme helfen
und zur Überwindung sozialer Diskriminierungen und juristischer
Schranken beitragen möge.« (12) Dazu leistet dieses Standardwerk
definitiv einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag!
Rezensentin
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der
Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung
zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung,
allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher
Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen
Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen
berufliche und politischen Bildung
Zitiervorschlag
Elisabeth Vanderheiden. Rezension vom 19.09.2016 zu: Maximilian
Schochow, Saskia Gehrmann, Florian Steger (Hrsg.): Inter*- und
Trans*Identitäten. Ethische, soziale und juristische Aspekte.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2453-4. Beiträge
zur Sexualforschung, Band 102. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/20788.php, Datum des
Zugriffs 03.11.2016.
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