Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 5
RISS Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud – Lacan # 84 (2016/2)
Rezension von Karl-Josef Pazzini
Christfried Tögel (Hg.); Urban Zerfaß (Mitarbeit):
Sigmund-Freud-Gesamtausgabe in 23 Bänden
Der fünfte Band der neuen Freud-Ausgabe versammelt 15 Schriften
Freuds aus den Jahren 1895 und 1896, vier davon bisher noch nicht
veröffentlicht.
Dazu gehört das »Protokoll der Verhandlungen der Gesellschaft
Deutscher Naturforscher und Ärzte. Abtheilung für Psychiatrie und
Neurologie«. Freud war Schriftführer. Allerdings lässt sich, da die
Handschriften hierzu verloren sind, nicht mehr genau eruieren,
welche Passagen tatsächlich von Freud selber protokolliert wurden.
Nichtsdestotrotz geben sie einen Einblick in die wissenschaftlichen
Auseinandersetzungen, in die Freud involviert war, und in die
Würdigung von Diskussionen dadurch, dass sie notiert wurden. Es
sprachen z.B. August Forel (Zürich), Alois Alzheimer (Frankfurt).
Max Herz (Wien) greife ich heraus: Er sprach über kritische
Psychiatrie, ausgehend von Kant: »Es ist weit gefehlt, derartige
Aussagen von Kranken einfach auf schwachsinnige Calculationen
zurückzuführen, nicht nur deshalb, weil sie den transcendentalen
Speculationen der Philosophen überaus nahekommen.« (S. 37), ein
Vorklang auf Freuds Analyse der Schrift von Schreber (1911). In
anderen Beiträgen geht es um Aphasie, Suggestion und um das
Zusammenspiel von hereditären und familiären Hirnkrankheiten.
Ferner eine Rezension von »Edinger: Eine neue Theorie über die
Ursachen einiger Nervenkrankheiten, insbesondere der Neuritis und
der Tabes«. An der Rezension lässt sich ablesen, wie sehr zu dieser
Zeit für Freud der Übergang zwischen Laborforschung und dem Boden
der Erfahrung im Umgang mit Kranken prägend war. Interessant ist
hierbei das Kreisen um den »mangelnden Ersatz« bei Überstrapazieren
von Nerven, der wie ein Trauma zu einer Schädigung führt.
Geradezu berührend ist die knappe Rezension von Julius Ludwig
August Kochs Buch »Die Nervenleben des Menschen (1895)« schon
dadurch, dass sich bei Freud eine Fehlleistung einschleicht: »Die
Nervenleiden des Menschen. Zur Belehrung, zu Rat und Trost«. Anders
als es das editorische Vorwort nahelegt – die Zeitung hatte ihre
Redaktion hinter der Votivkirche, in der Zeit beschäftigte sich
Freud mit Hysterie und Neurose, also Leiden –, könnte man auch
vermuten, dass hier Beweggründe eine Rolle spielen wie sie im
intensiven Briefwechsel mit Pfister eine Rolle spielen, eine Form
(säularisierter) Seelsorge. Freud versieht einen Satz in der
Rezension nämlich nicht mit einem Punkt, sondern mit einem
Fragezeichen: »Mit dem ›Trost‹, den der Titel des Buches
verspricht, wird man auf die Religion verwiesen?«.
Der vierte Beitrag «Ueber die Bernhardt/'sche Sensibilitätsstörung
am Oberschenkel» (1895) ist auch deshalb interessant, weil Freud
hier zum Zentrum der kleinen Mitteilung ans »Neurologische
Centralblatt« eine Selbstbeobachtung macht.
Die weiteren Beiträge sind aus den Gesammelten Werken oder den
Nachträgen bekannt. Sie werden hier, wie im Editionskonzept
vorgesehen in der Erstveröffentlichungsform wiedergegeben.
(vgl. zu dieser Rezension auch die der Bände 1–4 in RISS 83)