Rezension zu Gesammelte Werke in 7 Bänden

www.socialnet.de

Rezension von Hans-Peter Heekerens

Eva Rass, Lotte Köhler: Heinz Kohut. Psychoanalyse in einer unsicheren Welt

Thema
Der Psychosozial-Verlag hat 2016 Gesammelte Werke Heinz Kohuts in sieben Bänden veröffentlicht. Dies geschah mit Unterstützung der Köhler-Stiftung (https://www.deutsches-stiftungszentrum.de/stiftungen/koehler-stiftung); errichtet wurde die Stiftung 1987 durch die hier als Mitherausgeberin fungierende Lotte Köhler (s.u.). Der Verlag schlug vor, nur den 1. Band zum Gegenstand einer Rezension zu machen, da die Bände 2 bis 7 Reprints von bereits erschienenem deutschsprachigen Material sind, Band 1 hingegen auch bisher unveröffentlichte Texte enthalte. socialnet und Rezensent zeigten sich mit diesem Vorschlag einverstanden, auch weil klar war, dass der 1. Band nicht nur aus Kohutsches Schrifttum besteht, sondern auch andere Teile enthält, die für die Gesamtsammlung Türöffner und Orientierungshilfe sein könnten. Zum Aufbau der Bände vgl. das Inhaltsverzeichnis.

Herausgeberinnen
Das Buch enthält keine Angaben zu den Herausgeberinnen; entsprechende Recherchen andernorts erweisen sich als schwierig und die Resultate sind mit Zweifeln behaftet, da Gegenprüfungen von aufgefundenen Informationen nicht stattfinden konnten.

Eva Rass, promovierte Pädagogin und analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Dozentin und Supervisorin, war im Vorstand des Institutes für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Heidelberg und lehrt(e) an der Hochschule Mannheim, der Pädagogischen Hochschule Heidelberg sowie der Ärztlichen Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen in München-Pasing. Sie ist manchen Vertreter(inne)n der Sozialen Arbeit bekannt als Autorin des Buches »Bindung und Sicherheit im Lebenslauf. Psychodynamische Entwicklungspsychologie« (Stuttgart: Klett-Cotta, 2011; Sozialnet-Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/11735.php). Sie gilt (vgl. Rass, 2012, 2014) als die im deutschen Sprachraum beste Kennerin des Gesamtwerks des kalifornischen Psychologen und Psychoanalytikers Allan N. Schore (https://de.wikipedia.org/wiki/Allan_N._Schore), in dessen Ansatz Heinz Kohuts Selbstpsychologie (natürlich, möchte man sagen) eine bedeutende Rolle spielt.

Die Ärztin und Psychoanalytikerin Lotte Köhler (https://de.wikipedia.org/wiki/Lotte_Köhler) ist als Stifterin der o.g. Köhler-Stiftung (seit 1987) womöglich weiter bekannt denn als Wissenschaftlerin, als welche sie sich insbesondere durch die Erforschung des Gedächtnisses von Kleinkindern und durch Arbeiten über die Bindungstheorie einen Namen machte. Sie ist Ehrenmitglied des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, gehört zu den frühen Vertreter(inne)n der Selbstpsychologie Heinz Kohuts im deutschsprachigen Raum (vgl. Köhler, 1978). In dem von Peter Kutter (https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Kutter) als 15. Band der »Psychoanalytischen Blätter« heraus gegebenen Sammelwerk »Psychoanalytische Selbstpsychologie« ist sie mit »Die von Heinz Kohut begründete Selbstpsychologie – umstrittenes Neuland der Psychoanalyse« (Köhler, 2000) als dem ersten Beitrag des Buches vertreten. Diese prominente Stellung ihres Textes ist sachlich vollkommen gerechtfertigt: Souverän und in einer auch Nicht-Psychoanalytiker(inne)n verständlichen Sprache bringt sie nahe, was es mit Heinz Kohuts Selbstpsychologie auf sich hat, und öffnet den Raum für vertieftes Nachdenken darüber.

Aufbau und Inhalt
Man kann den Buchinhalt nach sachlichen Gesichtspunkten in drei Blöcke gliedern. Ein erster Block ist in den ersten fünf Buchteilen zu sehen, die inhaltlich vorbereiten auf die Gesamtsammlung.

Im Vorwort skizziert Eva Rass in knapper Form die historische Bedeutung Heinz Kohuts für die (Weiter-)Entwicklung der Psychoanalyse. Dank wird abgestattet an Lotte Köhler, ohne deren Engagement die Gesammelten Werke Heinz Kohuts nicht jetzt und nicht hier hätten erscheinen können, und für seine Mithilfe gedankt wird Paul Ornstein (http://bpsi.org/meet-the-author-paul-ornstein/), den Herausgeber der mehrbändigen Serie »The Search for the Self. Selected Writings of Heinz Kohut«. Der Inhalt des Sammelwerkes wird so beschrieben: »In den vorliegenden sieben Bänden sind die meisten Schriften Kohuts aufgeführt. Seine Standardwerke wurden um verstreute und daher nur schwer aufzufindende Artikel ergänzt, die zum Teil auch erstmals in deutscher Sprache publiziert werden.« (S. 10)

»Erinnerungen an Heinz Kohut« von Lotte Köhler ist ein kurzer und sehr persönlich gehaltener Bericht über die persönlichen Begegnungen zwischen ihr und Heinz Kohut in den Jahren 1971–1980. Unklar, weil entsprechende Angaben fehlen, ist: Wurde dieser Beitrag eigens für das vorliegende Buch verfasst oder aber handelt es sich um eine Wiedergabe eines Textes, der (in weitgehend identischer Weise) Ende 1998 in den »Newsletters« der European Federation Psychoanalytic Selfpsychology zu lesen war (vgl. www.selfpsychology.com)?

»Heinz Kohut – Eine Einführung in Leben und Werk« – Eva Rass unternimmt diesen Versuch auf ganzen 12 Textseiten, je zur Hälfte dem Leben bzw. dem Werk gewidmet.

Die zweiseitige »Zeittafel zu Leben und Werk Heinz Kohuts« beginnt mit dem Jahr seiner Geburt (1913) und endet mit der posthumen Veröffentlichung von »How Does Analysis Cure?« (1984).

Die »Bibliografie der Arbeiten Heinz Kohuts«, angelehnt an jene bei Allen M. Siegel (1996/2000) zu findende, ist nach zwei Gesichtspunkten geordnet. Einmal nach Jahreszahlen (zwischen 1923 und 1987), die aber nicht immer das Jahr der Erstpublikation wiedergeben (dazu mehr im Diskussionsteil) und zum anderen nach bibliographischen Typen: Aufsätze, Bücher, (un-)veröffentlichte Vorlesungsreihen sowie veröffentlichte Diskussionen und Briefwechsel.

Ein zweiter Block ist zu sehen in dem am Buchende zu findenden rund 60-seitigen »
Register zu den sieben Bänden der Gesammelten Werke«.

Für jeden Band gesondert findet sich ein Namenregister, Sachregister und – recht ungewöhnlich selbst bei einem Psychoanalytiker – Register der behandelten Kunstwerke. Im Namenregister, es ist eben kein Personenregister, finden sich nicht nur Namen von Personen (wie etwa August Aichhorn), sondern auch von Körperschaften (wie Chicagoer Psychoanalytische Gesellschaft) und mythologische Figuren wie Odysseus und Ödipus.

Beim Register der im 1. Band behandelten Kunstwerke ist Franz Kafka mit sieben Nennungen und drei Werken – »Die Verwandlung«, »Der Proceß«, »Das Schloss«, veröffentlicht zwischen 1915 und 1926 – am häufigsten vertreten. Das verwundert wenig, dürfte Heinz Kohut diese Werke doch schon zu Wiener Schüler- oder Studentenzeiten gelesen haben und von ihnen ebenso beeindruckt gewesen sein wie Millionen Jugendlicher und Heranwachsender nach ihm. Franz Kafka hat wie wenige andere Schriftsteller(innen) Fragen behandelt, die sich zentral um das »Selbst« drehen. In dem hier abgedruckten Beitrag »Das Selbst in der Geschichte« (1975) findet sich eine Passage, die beispielhaft zeigt, wie Heinz Kohut Franz Kafka und das von ihm präsentierte Material sieht:

»Bei diesem Themenspektrum handelt es sich, grob ausgedrückt, um das Auseinanderfallen des Selbst und das Auseinanderfallen der Welt sowie um die Aufgabe, das Selbst und die Welt neu aufzubauen. Einer der Künstler, die sich diesem Problem mithilfe der Sprache annähern, ist Franz Kafka. In seinen Geschichten beschreibt er, dass es niemanden gibt, an den man sich um Hilfe wenden kann. Man sucht nach einem Ort, den man niemals erreicht, wie in dem Roman Das Schloß[.] Man sucht wie im Prozeß hoffnungslos nach einer Person, die die eigene Schuld wenigstens benennt, aber man wird sinnlos getötet. Man wacht eines Morgens auf und stellt mit Entsetzen fest, dass man auf schreckliche Weise verwandelt und sich selbst entfremdet ist, wie in der Verwandlung.« (S. 122; ob die für die beiden Kafka-Bücher unüblichen Schreibweisen »Schloß« und »Prozeß« vom Kohutschen Original stammen oder auf die Übersetzung zurück gehen, konnte nicht nachgeprüft werden.)

Nach diesem (Gesamt-)Register finden sich auf den beiden letzten Textseiten des Buches unter Textnachweise noch bibliographische Angaben zu den 14 vor dem Register platzierten Texten Heinz Kohuts; beides gehört, obschon räumlich getrennt, sachlich zusammen und bildet den dritten Block des Buches. Er enthält folgende Kohutschen Arbeiten (alle in Deutsch, meist als Übersetzung):

In »August Aichhorn – Bemerkungen nach seinem Tod (1949)« ist der Nachruf wiedergegeben, den er eine gute Woche nach August Aichhorns Tod bei einer Versammlung der Chicagoer Psychoanalytischen Gesellschaft hielt. Wer klären will, welches Verhältnis Heinz Kohut zu Wien nach seiner Flucht aus dieser Stadt hatte und in welchem Maße sein Handeln und Denken von August Aichhorn angeregt war, wird diese Rede mit Interesse lesen.

Bei »Kindheitserfahrungen und kreative Imagination (1960)« handelt es sich »um eine etwas ausführlichere Version einiger Anmerkungen, die Kohut bei einem Panel zum Thema ›Kindheitserfahrung und kreative Imagination‹ machte. Das Panel fand während der Jahresversammlung der Amerian Psychological Association im April 1959 statt« (S. 55 Anm. 1). Wer interessiert ist an der Geschichte der Psychoanalyse und/oder daran, wie Psychoanalytiker(innen) sich den künstlerischen Schaffensprozess erklären, vergleiche dieses kurzen Beitrag (sowie den gleich noch zu betrachtenden »Psychoanalyse in einer unruhigen Welt«) mit Otto Ranks »Der Künstler« (1907) und »Art and Artist« (1932).

Die in Deutsch gehaltene »Laudatio Alexander Mitscherlich (1969)« anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hat Heinz Kohut erstmals einem breiten Publikum im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht. Und seither war er, der damalige Vizepräsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (bis 1973) nicht nur für die hiesige Fachwelt, sondern darüber hinaus als Intellektueller präsent. Aus gutem Grund, wie die hier dokumentierte Rede zeigt.

Im Herbst des folgenden Jahres hielt Heinz Kohut einen zweiten Vortrag in Deutschland, der zu seiner Bekanntheit hierzulande beitragen sollte. Anlässlich des 50. Jubiläums des Berliner Psychoanalytischen Instituts sprach er vor Fachkolleg(inn)en und Laien, darunter viele Studierende an der FU Berlin – wohl im Audimax, wo man zwei Jahre zuvor noch Rudi Dutschke reden hörte – über »Psychoanalyse in einer unruhigen Welt« (1970). Nicht aber die unruhige Welt des Gesellschaftspolitischen scheint den Titel inspiriert zu haben, sondern der Umstand, dass die Welt der Psychoanalyse in Unruhe war. In den Anfangssätzen des Vortrags wird dies angedeutet. Allerdings in einer Weise, die nur wenigen unter den deutschen Zuhörer(inne)n etwas gesagt hätte. Die ihnen weitgehend unbekannte Situation der US-amerikanischen Psychoanalyse war die: »In den USA befand sich die Psychoanalyse freudianischer Prägung um 1970 in einer ernsten Krise, nicht zuletzt aufgrund des frauenfeindlichen, homophoben und überhaupt autoritären Rufs, den sie sich (notabene mit Absicht) während der zwei Jahrzehnte ihrer Glanzzeit erworben hatte …« (so Herzog in »Luzifer-Amor«, 2016, S. 67)

Mit dem »Brief an den Autor [T. Moser] (1973)« haben wir ein drittes Dokument vor Augen, das Heinz Kohuts Ruf im deutschsprachigen Raum begründete. Er wurde 1974 wiedergegeben im Vorspann von Tilmann Mosers »Lehrjahre auf der Coach« (Frankfurt a.M.: Suhrkamp), das damals – nicht zuletzt wegen Gerhard Mauzs Rezension im SPIEGEL (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41708361.html) – nicht nur in psychoanalytischen Kreisen gelesen und diskutiert wurde.

»Das Selbst in der Geschichte (1975)« bietet den Diskussionsbeitrag, den Heinz Kohut 1974 auf einem US-amerikanischen Symposium leistete. Dort machte er einige Bemerkungen zur weiblichen Psychologie, an denen sich Kritik entzündete.

Eine Antwort darauf bringt er in »Eine Anmerkung zur weiblichen Sexualität (1975)« vor. Dort erklärt er einerseits mit Blick auf die »Penisneid«-These: »Ich teile die klassische Auffassung, dass das kleine Mädchen eine Kränkung ihres körperlichen Narzissmus erfährt.« (S. 127) Andererseits sind da neue Töne zu hören; etwa die: »Wenn das Selbst des kleinen Mädchens empathisch gespiegelt und akzeptiert wird, wenn es mit der idealisierten und bewunderten elterlichen Imago verschmelzen kann, dann wird die Erkenntnis des sexuellen Unterschieds keinen dauerhaften Schaden anrichten und nicht zu einer dauerhaften Störung des narzisstischen Gleichgewichts führen.« (S. 133)

Mit Vorwort [zu J. v. Scheidt: Der Falsche (sic!) Weg zum Selbst] (1976) wird ein viertes Dokument präsentiert, das zeigt, auf welchen Wegen sich Heinz Kohut jenseits seiner Buchpublikation(en) hierzulande einen Namen machte. Das Buch des in Psychologie mit dieser Schrift promovierten Schriftstellers Jürgen von Scheidt (https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_vom_Scheidt_(Schriftsteller) war damals ein über den Fachkreis hinaus vielgelesenes Buch.

In Die Suche nach dem Selbst des Analytikers (1977) legt Heinz Kohut sich selbst und der Öffentlichkeit Rechenschaft darüber ab, wie seine professionelle Selbst-Entwicklung mit der Konzipierung der Selbst-Psychologie zusammenhängt. Er klärt hier in sehr prägnanter Weise seine Position, auch und gerade seine Position als Psychoanalytiker. Zwei Zitate sollen zur Illustration dienen: »Die grundlegend neue These, zu der ich gelangt bin … besagt, dass der wissenschaftliche Beobachter des menschlichen Innenlebens das von ihm untersuchte Gebiet nur partiell erfassen kann, solange er sich ausschließlich auf das theoretische Werkzeug der Konfliktpsychologie beschränkt. Anders ausgedrückt, die Konfliktpsychologie sieht nur den ›schuldigen‹ – die Psychologie des Selbst wird gebraucht, um die Erfahrungen des ›tragischen Menschen‹ beobachten, verstehen und erklären zu können.« (S. 146) Und wenig später: »Ich habe zwei komplementäre Theorien formuliert: eine Theorie der Psychologie des Selbst im engeren Sinne – derzufolge das Selbst ein Inhalt des psychischen Apparates ist – und eine Theorie des Selbst im weiteren Sinne – der zufolge das Selbst im Zentrum der theoretischen Struktur steht, Die Lösung, die ich gefunden habe, erfüllt die von mir aufgestellten drei Anforderungen. Die historische Kontinuität bleibt erhalten, die Angemessenheit der klassischen Lehren auf einem begrenzten Gebiet wird ausdrücklich anerkannt, und kreative zukünftige Entwicklungen werden nicht unzulässig behindert.« (S. 147-148)

Bei Die Störungen des Selbst und ihre Behandlung (1978), zusammen mit Ernst S. Wolf (Autor von »Theorie und Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie«) als Zweitautor, handelt es sich um die Wiedergabe des gleichnamigen Beitrags in »Die Psychologie des 20. Jahrhunderts« Bd. 10(2), Psychiatrie (S. 667-682; Zürich: Kindler, 1980; hrsg. von U.H. Peters). Wäre dies vermerkt worden, müssten sich Leser(innen) nicht über den unvermutet auftauchenden Gebrauch »ß« – etwa »daß« oder »narzißtisch« – wundern. Dieser Text demonstriert, dass sich die Selbst-Psychologie schon damals lehrbuchmäßig darstellen ließ, und der Ort seiner Veröffentlichung zeigt an, dass die Selbst-Psychologie schon früh zum kanonischen Wissen der deutschsprachigen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie gerechnet wurde.

Welch hohes Ansehen 1980 die Selbst-Psychologie in den USA genoss, kann man ablesen an »Die Störungen des Selbst (1980)« mit dem Untertitel »Die Psychopathologie der ersten Lebensjahre«, verfasst zusammen mit Marian Tolpin (https://iapsp.org/iapsp/marian_tolpin.htm) als Erstautorin. Geschrieben wurde dieser Artikel als Beitrag zu dem unter Schirmherrschaft des National Institute of Mental Health heraus gebrachten Werkes »The Course of Life: Psychoanalytic Contributions Toward Understanding Personality Development. Vol. I: Infancy and Early Childhood«, einem Buch, zu dem auch Anna Freud einen Beitrag leistete. Die hatte Heinz Kohut, dem sie jahrzehntelang freundschaftlich verbunden war, kurz zuvor wegen seiner Selbst-Psychologie zum Abweichler von der rechten Lehre erklärt. Der vorliegende Beitrag ist der erste, der die Selbst-Psychologie für die Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie fruchtbar gemacht hat.

Die nächsten beiden Beiträge behandeln mit »Empathie« ein Thema, von dem Heinz Kohut zeit seines Berufslebens als Psychoanalytiker spricht: von »Introspection, Empathy, and Psychoanalysis« (Vortrag anlässlich der 25-Jahr-Feier des Chigacoer Psychoanalytischen Instituts im Jahr 1957) bis zu »Introspection, Empathy, and the Semicircle of Mental Health« (verfasst für die 50-Jahr-Feier der Chicagoer Psychoanalytischen Gesellschaft im Jahr 1981). Die beiden nachfolgenden Texte stammen aus den letzten Lebenswochen Heinz Kohuts. In deutscher Sprache erstmals publiziert wurden sie 2001 im 4. Heft der ein Jahr zuvor gegründeten Zeitschrift »Selbstpsychologie«. Der erste Beitrag beruht auf dem Transskript einer Tonbandaufzeichnung, die einen spontanen Beitrag Heinz Kohuts auf der 5. Konferenz für Selbst-Psychologie im Oktober 1981 festgehalten hatte; das war wenige Tage vor seinem Tod. Der zweite Beitrag gibt die Rede wieder, die im November 1981 bei der Feier das 50-jährigen Bestehens der Chicagoer Psychoanalytischen Gesellschaft gehalten wurde – nicht von Heinz Kohut, der sie konzipiert hatte, aber im Monat zuvor gestorben war, sondern von seinem Sohn Thomas A. Kohut.

In »Über Empathie (1981)« findet sich am Ende eine Passage, die eindrucksvoll demonstriert, was mit »Empathie« als einem direkten und bedeutsamen Einflussfaktor auf das klinische Vorgehen gemeint ist: »Ich erinnere mich, und ich denke, dabei will ich es für heute Vormittag belassen, an eine Geschichte, die ich für aufschlussreich halte. Vor etwa 15 Jahren führte ich eine lange, lange Analyse mit einer Frau durch, die außerordentlich verletzlich war. Sie hatte eine vorangegangene Analyse abrupt abgebrochen und legte sich gleich beim ersten Mal, als sie zu mir kam, auf die Couch. Sie sagte, sie habe das Gefühl, in einem Sarg zu liegen, dessen Deckel sich nun mit einem durchdringenden Einschnappgeräusch schließen werde. Ich erkläre es Ihnen mit ihren Worten, weil sie so gut ausdrückten, was sie fühlte. Sie war sehr depressiv, und ich dachte manchmal, dass ich sie verlieren würde – dass sie einen Ausweg aus ihrem Leiden finden und sich umbringen würde. Aber sie hat es nicht getan. Einmal in dem schlimmsten Moment ihrer Analyse, während des ersten Jahres oder vielleicht nach eineinhalb Jahren, ging es ihr so schlecht, dass ich sie plötzlich fragte: ›Wie würden Sie sich fühlen, wenn ich Ihnen für eine kleine Weile meine Finger zum Halten gebe, während Sie erzählen? Vielleicht würde es Ihnen helfen?‹ Ein fragwürdiges Manöver. Ich empfehle es nicht, aber ich war verzweifelt. Ich war zutiefst beunruhigt. Deshalb gab ich ihr zwei Finger, rückte mit meinem Sessel ein wenig näher an die Couch heran und ließ sie zwei Finger halten. Sie umklammerte sie, und ich habe es für mich selbst sofort genetisch gedeutet. Es war der zahnlose Gaumen eines sehr kleinen Kindes, das sich an eine leere Brust klammert.« (S. 208-209)

Damaligen Hörer(innen) dürfte – ebenso wie späteren Leser(innen) – Heinz Kohuts hier geschildertes Vorgehen als »un-analytisch« erschienen sein – und auf orthodoxe Freudianer(inne)n mag das bis heute so wirken. Zur damaligen »Standardtechnik« gehörte das sicherlich nicht, aber Heinz Kohut steht hier, ob er dies nun wusste oder nicht, in einer – abgedrängten und totgeschwiegenen – Traditionslinie der Psychoanalyse, die zurück reicht in die frühen 1920er; man denke etwa an Sándor Ferenczi (vgl. Heekerens, 2014a, 2015) und Otto Rank (vgl. Heekerens, 2014b, 2014c, 2016).

Von den im Titel des nächsten Beitrags »Introspektion, Empathie und der Halbkreis der psychischen Gesundheit (1982)« enthaltenen Bestandteilen ist einer erklärungsbedürftig: »der Halbkreis der psychischen Gesundheit«. Worum es dabei geht, erklärt eine zentrale Stelle des Artikels: »Als sich die Griechen, so berichtet Homer, zu ihrer Expedition gegen Troja zu rüsten begannen, forderten sie alle Heerführer auf, sich ihnen mit ihren Männern, Schiffen und Kriegsgeräten anzuschließen. Odysseus aber, König von Ithaka, war ob der Aussicht, in den Kampf zu ziehen, alles andere als begeistert. Er war in den besten Mannesjahren und hatte eine junge Frau und einen kleinen Sohn. Als eine Abordnung der Griechen zu ihm kam, um die Situation zu klären und Odysseus zur Teilnahme zu zwingen, stellte er sich krank, geisteskrank. Die Abgesandten – Agamemnon, Menelaos und Palamedes – trafen ihn dabei an, wie er mit einem Ochsen und einem Esel, die er zusammen in ein Joch gespannt hatte, die Erde pflügte und Salz über seine Schultern in die Furchen warf; auf dem Kopf trug er einen albernen, konisch geformten Hut, wie er bei den Orientalen Sitte war. Er gab vor, seine Besucher nicht zu kennen, und wirkte ganz und gar so, als habe er den Verstand verloren. Doch Palamedes misstraute ihm. Er packte Telemach, Odysseus kleinen Sohn, und warf ihn vor den Pflug. Ohne zu zögern pflügte Odysseus im Halbkreis um sein Kind herum, um es nicht zu verletzen – eine Reaktion, die seine geistige Gesundheit bewies und ihn zu dem Eingeständnis zwang, dass er den Wahnsinn lediglich simulierte hatte, um sich der Expedition gegen Troja zu entziehen.

Hier haben wir des Rätsels Lösung. Es ist der Halbkreis des Odysseus den ich als »Halbkreis psychischer Gesundheit« dem Vatermord des Ödipus entgegenhalte. Das mag unwissenschaftlich und emotional sein (weil uns die schlichte Menschlichkeit der der Geschichte anrührt); aber schließlich verhält es sich mit der emotionalen Wirkung der Geschichte von König Ödipus und seinem Komplex nicht anders. Der Halbkreis, den Odysseus mit seinem Pflug zieht, hat natürlich keine Beweiskraft; aber er symbolisiert auf treffende Weise das freudige Bewusstsein des menschlichen Selbst für seine Zeitlichkeit, für das eigene Schicksal, das sich nach einem vorbereitenden Beginn entfaltet und schließlich vollendet – ein treffendes Symbol der Tatsache, dass der gesunde Mensch die nachrückende Generation mit inniger Freude als Erweiterung des eigenen Selbst erlebt.« (S. 230-231)

Odysseus versus Ödipus – Odysseus statt Ödipus! Die referierten Sätze dürften bei jenen Zuhörer(inne)n von 1981, die der klassische Analyse nach wie vor verpflichtet waren, die Furchen auf der Stirn vertieft haben. Mit dem Stirnrunzeln angefangen haben sie wohl schon zuvor; spätestens dann, als dargelegt wurde in welchem Sinne Heinz Kohut »Empathie« verstanden wissen will.

Mit Rückblick auf die oben erwähnte Rede von 1957 spricht er von »Empathie im epistemologischen Kontext« (S. 215), von »Empathie auf der erfahrungsfernsten, epistemologischen Ebene« (ebd.). »In diesem Kontext, das versteht sich von selbst, ist Empathie eine wertneutrale Beobachtungsmethode – eine Beobachtungsmethode, die auf das innere Leben des Menschen eingestimmt ist …« (ebd.) Daneben aber gibt es beim späten Heinz Kohut noch zwei weitere, lebensgeschichtlich jüngere Vorstellungen von »Empathie«. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem »bescheideneren erfahrungsnahen Vorgehen [, bei dem] zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden ist: (a) zwischen der Empathie als Aktivität, die auf das Sammeln von Informationen abzielt, und (b) der Empathie als starke emotionale Bindung zwischen Personen« (ebd.). Da sieht man sich an Carl Rogers erinnert. Und in der Tat gibt es eine breite Diskussion – Carl Rogers beteiligt sich selbst daran – darüber, worin in Sachen »Empathie« und überhaupt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Heinz Kohut und Carl Rogers bestehen (Kahn, 1985; Kahn & Rachmann, 2000; Rogers 1986 / 1987; Staemmler, 2008 / 2009; Tobin, 1991).

Der auf Anregung von Teilnehmer(innen) des Chicagoer Arbeitskreis geschriebene und hier in modifizierter Version gebotene Essay »Vier Grundbegriffe der Selbstpsychologie (1982)« ist der differenzierte und mit vielen Belegstellen versehene Versuch Heinz Kohuts, auf der Basis seiner früheren Schriften und in fortwährendem Bezug auf diese, vier für seine Selbst-Psychologie zentralen Konstrukte einer Systematisierung und begrifflichen Klärung zuzuführen: Selbst, Selbstobjekt, Fragmentierung und Selbstobjektübertragung.

Diskussion
Mit dem siebenbändigen Gesamtwerk stellt der Psychosozial-Verlag eine Sammlung der meisten, sicherlich der wichtigsten Arbeiten von Heinz Kohut in deutscher Sprache zur Verfügung; einige der Arbeiten sind erstmals in deutscher Sprache verfügbar, und manche schon früher in Deutsch veröffentlichte Arbeiten, die man vordem an mehreren Orten zu suchen hatte, sind hier vereint. Dieser Leistung gebührt Anerkennung. Über kurz oder lang werden im deutschsprachigen Raum »Heinz Kohuts Gesammelte Werke« als »Standardedition« gelten – und zwar für längere Zeit. Die hier vorgelegten »Gesammelten Werke« sind keine »Gesamtausgabe«, wie sie der Psychosozial-Verlag seit 2015 mit den Werken von Sigmund Freud herausgibt, und sie wollen auch keine historisch-kritische Ausgabe sein, wie das in Sigmund Freuds Falle vom Wiener Projekt »Sigmund Freud. Digitale Edition« (vgl. www.freud-edition.net) angestrebt wird. Es werden Jahrzehnte vergehen, bis – wenn überhaupt – eine historisch-kritische (Gesamt-)Ausgabe des Kohutschen Werkes in (zunächst) englischer und (danach) deutscher Sprache vorliegen wird. Bis dahin wird im deutschsprachigen Raum das vorliegende Sammelwerk den wesentlichen Referenzpunkt im wissenschaftlichen Diskurs über Heinz Kohut und die Selbst-Psychologie bilden, aus ihm wird zitiert und auf es wird verwiesen werden.

Aber deshalb darf, ja muss man die Frage stellen, ob das Werk als »wissenschaftliche Quelle« angesehen werden kann. Damit sind wir bei einer formalen Analyse, die hier nur für den ersten Band geleistet werden kann. Doch ist gerade der zur Beantwortung der Frage von vorrangiger Bedeutung. Harald Martenstein, der allwöchentliche eine große Fan-Gemeinde mit seiner Kolumne im ZEIT MAGAZIN erfreut, hat die vom 20. Oktober 2016 »Über böse Fallen beim Büchermachen« geschrieben. Darin lässt er sich in gewohnt ironischer und gekonnt pointierter Weise darüber aus, was er beim Machen seiner Bücher so alles Missliche erlebt hat. Der Beitrag endet mit den Sätzen: »Wenn die Rüstungsindustrie ähnlich arbeiten würde wie die Verlagsbranche, dann käme aus Afghanistan kein Soldat lebend zurück. Moralisch steht die Verlagsbranche natürlich besser da.« Vorher hatte er seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, weshalb in Rezensionen (Kritiken) seiner (nun insg. 17) Bücher die zahlreichen und zum Teil haarsträubenden formalen, der mangelnden oder mangelhaften Lektorats- /Korrektoratsarbeit der betreffenden Verlage zuzuschreibenden, Fehler unerwähnt blieben und die These aufgestellt: »Die meisten Kritiker überprüfen sowieso nur, ob ein Buch mit ihrer Weltanschauung übereinstimmt, der Rest ist ihnen egal.« Im vorliegende Fall kann und darf »das Formale« nicht egal sein.

Fangen wir mit den kleinen, auch in vielen anderen Fachbüchern zu findenden Mängeln an, die für sich genommen noch ganz in den Bereich der »Schönheitsfehler« fallen. Im Buch finden sich einige fehlerhafte Literaturangaben, von denen zwei aufgeführt seien. Auf S. 37 Anm. 1 wird angegeben, die Bibliografie der Arbeiten Heinz Kohuts sei angelehnt an »A.M. Siegel (1996). Einführung in die Selbstpsychologie…«. Dieses Buch erschien bei Kohlhammer aber erst im Jahr 2000, 1996 hingegen ist das Erscheinungsjahr des englischen Originals (»Heinz Kohut and the Psychology of the Self«. London u.a.: Routledge, 1996). Auf S. 47 wird der Titel der 1973 bei Suhrkamp erschienenen deutschsprachigen Übersetzung des ersten Kohutschen Buches »Analysis of the Self« (1971) mit »Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen« angegeben. Der Titel besagten Buches aber heißt, hieß damals und wird immer heißen: »Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen«. Dass neuzeitliche »Rechtschreib«-Programme die Eigenart haben, alle »ß« in »ss« zu ver(schlimm)bessern ist bekannt; aber da gibt es Gegenmaßnahmen, die hier offensichtlich nicht ergriffen wurden.

Was einem beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis zunächst nur ein Stirnrunzeln hervorruft, wird einem nach der Buchlektüre zur ärgerlich getönten Frage: Warum stehen die Textnachweise (S. 321-322) nicht unmittelbar nach dem Ende der hier gebotenen Texte (also auf den S. 259-260), sondern ganz am Buchende? Ebenfalls nach Lesen des Buches kommt man beim zweiten Blick auf den Buchtitel in verwundertes Staunen. »Texte aus den Jahren 1960 bis 1981« (Untertitel) heißt es dort, im Buch sind aber Texte aus den Jahren 1949 bis 1982 versammelt; wusste da die Linke nicht, was die Rechte tat? Nehmen wir im Weiteren einzelne Buchteile je gesondert unter die Lupe.

Die stichprobenartige Überprüfung des Registers zum vorliegenden Band 1 ergab, dass sich im Register mit Seitennennung(en) angezeigten Namen, Sachen oder Kunstwerke an den genannten Textstellen finden. Das sagt nun Zweierlei nicht, dass für im Register aufgeführte Namen, Sachen oder Kunstwerke alle Textstellen verzeichnet (worden) wären. Dies zu prüfen überschreitet das Zeitbudget einer Rezension bei Weitem. Ebenso wenig konnte überprüft werden, ob es in den Texten zu findende Namen, Sachen oder Kunstwerke gibt, die zur Verwunderung dieser Leserin oder jenes Lesers im Register nicht zu finden sind.

Was die Zeittafel zu Leben und Werk Heinz Kohuts anbelangt, so fallen zwei Punkte negativ auf.
1. Zum einen wird im Unterschied zu Angaben in anderen Heinz Kohut betreffenden Zeittafeln (etwa Butzer, 2016; Siegel, 1996) und im Widerspruch zur Angabe von Eva Rass auf S. 22, das Jahr 1931 als Matura-Jahr angegeben; das ist offensichtlich eine Falschangabe, das Döblinger Gymnasium in Wien 19 selbst weist Heinz Kohut unter »Maturajahrgang 1932« aus (www.g19.at/).
2. Zum anderen vermisst man zwischen den Angaben, dass Heinz Kohut 1963/64 Präsident der Chicagoer Psychoanalytischen Gesellschaft und 1965-73 Vizepräsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung war, die Angabe: 1964/65 Präsident der American Psychoanalytic Association (ApsA), was man auf der ApsA-Homepage nachlesen kann und auch in einer Fußnote des vorliegenden Buches (S. 200 Anm. 2) erwähnt wird. Von »vermissen« wird deshalb gesprochen, weil die Präsidentschaft des damals mit Abstand mächtigsten nationalen psychoanalytischen Verbandes mit erklärt, weshalb Heinz Kohut sich in den 1960ern die Bezeichnung »Mr. Psychoanalysis« erwarb.

Den meisten kritischen Anfragen gelten der Bibliografie der Arbeiten Heinz Kohuts. An der fällt zunächst Zweierlei auf. Erstens: Die im vorliegenden 1. Band des Sammelwerks gebotenen Schriften Heinz Kohuts werden dort unter »H. Kohut (Jahreszahl), Gesammelte Werke, Bd. 1 (S. xy-yz). Gießen: Psychosozial-Verlag« fein säuberlich aufgelistet. Nur: Die angegebene Jahreszahl stimmt nicht! Da steht jeweils 2015, wo es doch 2016 heißen muss. Man kann viele Fantasien entwickeln, die diese Fehldatierung erklären, entschuldigen kann dies den Fehler keineswegs. Zum anderen: Weshalb eigentlich sind in der Bibliografie nur die im 1. Band zu findenden Kohutschen Arbeiten bibliographisch erfasst, nicht aber die der Bände 2 – 7? Bei Erstellung des 1. Bandes waren die übrigen doch schon gesetzt; sonst hätte man sie ja im Register nicht berücksichtigen können. Darüber hinaus finden sich in der Bibliografie weitere Beispiele für mangelnde oder mangelhafte Lektorats-/Korrektoratsarbeit.

Wenn man beispielsweise nach der englischsprachigen Erstveröffentlichung von »Die Störungen des Selbst und ihre Behandlung (1978)« sucht, sucht man vergebens. Sowohl in der Bibliografie (unter den Aufsätzen mit der Jahreszahl 1978) wie unter den Textnachweisen wird man auf den 3. Band der Ornsteinschen Sammlung von 1990 verwiesen. Was sich dort nicht findet ist die bibliographische Angabe der Erstveröffentlichung: Kohut, H. & Wolf, E. (1978). »The disorders of the self and their treatment: An outline«. The International Journal of Psychoanalysis, 59, 413-425. Die genannte Zeitschrift ist die bedeutendste der internationalen Psychoanalyse. Dass ein so zentraler Text der Selbst-Psychologie dort – aber das muss man denn erst wissen – in den späten 1970ern veröffentlicht wurde, zeigt: Trotz aller Kritik maß die Psychoanalyse diesem Ansatz (schon) damals große Bedeutung zu. Und nur die Veröffentlichung an solch prominentem Ort erklärt, weshalb der Artikel Eingang fand in die »Psychologie des 20. Jahrhunderts«.

Ein zweites Beispiel, das illustriert, dass die Bibliografie mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet – was doch die zentrale Aufgabe einer jeden Bibliographie ist. Auf S. 69 Anm. 1 wird zu dem dort abgedrückten Beitrag Psychoanalyse in einer unruhigen Welt (1970), der auf Heinz Kohuts in Deutsch gehaltener Rede an der FU Berlin im Jahre 1970 beruht, angegeben: »Diese Ansprache wurde in The Annual of Psychoanalysis, 1 (1973), 3-25, New York (Quadrangle) publiziert.« In der Bibliografie wird diese Rede zwar unter der Jahreszahl 1973 aufgeführt, als einzige englischsprachige Quelle aber der 2. Band des Ornsteinschen Sammelwerks von 1978 genannt. Warum nicht die originale Quelle? Hier wird endgültig deutlich, was damit gemeint ist, wenn am Anfang der Bibliografie (S. 37 Anm. 1) gesagt wird: »In Anlehnung an A.M. Siegel« (1996 / 2000). (Schon) Der hatte im Falle von Aufsätzen nicht den Ort der Erstveröffentlichung, sondern die Stelle im Ornsteinschen Sammelwerk benannt.

Diese Art von »Anlehnung« führt zu vielen Komplikationen, von denen wir eine an einem fiktiven, aber realistischen Fallbespiel illustrieren wollen. Da liest eine Studentin im Masterstudiengang Klinische Sozialarbeit einen Text über Selbst-Psychologie und findet interessante Ausführungen, an deren Ende als Quellenangabe »(vgl.) Kohut, 1969« steht. Im Literaturverzeichnis des Textes findet sich die entsprechende Quellenangabe aber nicht (das kommt häufiger vor, als allgemein angenommen). Hilfe sucht sie nun bei der ihr bekannten und hier betrachteten Bibliografie. Aber sie wird nicht fündig: Unter 1969 findet sich dort überhaupt kein Eintrag. Besagte Studentin beschließt, den Quellenhinweis »(vgl.) Kohut, 1969« für falsch zu halten; die Entscheidung ist genährt von mancherlei früheren Erfahrungen (auch die macht man häufiger als angenommen). Aber die Studentin irrt! Der Literaturhinweis »(vgl.) Kohut, 1969« ist korrekt; er bezieht sich auf die von Heinz Kohut im Jahre 1969 gehaltene Laudatio auf Alexander Mitscherlich anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an diesen, die noch im selben Jahr durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels veröffentlicht wurde.

Die genaue Quellenangabe findet sich im vorliegenden Buch auf der vorletzten Druckseite unter Textnachweise, wohin unsere Studentin nicht gelangen konnte, weil sie dazu Vieles vorab hätte wissen müssen. Warum man diese korrekte Quelle in der Bibliografie nicht unter »1969« aufgeführt hat, gehört zu jenen vielen Rätseln, die diese insgesamt aufwirft. Nicht, dass jene Laudatio dort überhaupt nicht vorkäme; sie findet sich – in »Anlehnung« an die Siegelsche Bibliographie – unter »1973«. Aber dort wird – ebenfalls in Siegelscher Manier – nicht etwa angegeben, wo die Arbeit 1973 in englischsprachiger Gestalt erstveröffentlicht worden wäre. Sondern man wird wieder einmal verwiesen auf eine Publikation im Ornsteinschen Sammelwerk: diesmal auf den 2. Band von 1978.

In meiner Ausbildung zum Systemischen Therapeuten hat man mir die Lust am »Hypothetisieren« nahe gebracht. Was die Jahreszahlen in der Bibliografie anbelangt, habe ich drei Hypothesen entwickelt: Sie zeigen das Jahr der Erstpublikation an oder das Jahr, in dem die dort enthaltenen Gedanken erstmals einem Publikum vorgetragen wurden oder das Jahr der Abfassung des jeweiligen Textes. Alle drei Hypothesen scheitern (Falsifikationsprinzip) daran, dass es mindestens eine Ausnahme gibt. Vielleicht können andere Leser(innen) eine Hypothese entwickeln, die widerspruchsfrei bleibt. Bis dahin kann ich keine »Ordnung« erkennen, weshalb ich die Bibliografie auch in diesem Punkte als un-ordentlich bewerte.

Es dürfen auch Hypothesen gebildet werden über den Zusammenhang zwischen einerseits den Jahreszahlen, die den einzelnen im Buch wiedergegebenen Texten beigefügt sind und den Jahreszahlen der Bibliografie. Wer hier von einem eineindeutigem Verhältnis ausgeht, sieht sich getäuscht, wie folgendes Beispiel illustriert. »Vier Grundbegriffe der Selbstpsychologie« ist sowohl im Inhaltsverzeichnis (auf S. 4) als auch bei der Textdarstellung selbst (auf S. 235) mit der Jahreszahl 1982 versehen. Das steht in Übereinstimmung mit der auf S. 235 Anm. 1 zu findenden Angabe: »Überarbeitete Fassung des erstmals publizierten Aufsatzes aus: Psychoanalyse, 3, 1982, S. 181-205«. Wer nun aber unter 1982 in der Bibliografie nachsieht, findet dort überhaupt keinen Eintrag. Die in Frage stehende Arbeit ist dort unter der Jahreszahl 1979 zu finden. Wieso die entsprechenden bibliographischen Hinweise dort stehen, bleibt ein Rätsel, denn die dort zu findende englischsprachige Quellenangabe ist auf 1990 (4. Band des Ornsteinschen Sammelwerkes) und die deutschsprachige auf 2000 (in der Zeitschrift »Selbstpsychologie«) datiert.

Fazit
Mit dem siebenbändigen Gesamtwerk stellt der Psychosozial-Verlag eine Sammlung der meisten, sicherlich der wichtigsten Arbeiten von Heinz Kohut in deutscher Sprache zur Verfügung; einige der Arbeiten sind erstmals in deutscher Sprache verfügbar, und manche schon früher in Deutsch veröffentlichte Arbeiten, die man vordem an mehreren Orten zu suchen hatte, sind hier vereint. Über kurz oder lang werden im deutschsprachigen Raum »Heinz Kohuts Gesammelte Werke« als »Standardedition« gelten – zwar für längere Zeit. Deshalb sollte das siebenbändige Gesamtwerk auch in den Bibliotheken solcher Hochschulen stehen, die Studiengänge in Sozialer Arbeit anbieten und denen daran gelegen ist, dass Studierende sich ein Bild der modernen Psychoanalyse machen können.

Wer das Werk für wissenschaftliche Zwecke – und das fängt bei der Verfertigung einer Seminararbeit an – verwenden will, sollte Vorsicht walten lassen. Der vertiefte Blick in den 1. Band hat gezeigt, dass die biographischen Notizen Mängel aufweisen und die bibliographischen Angaben unvollständig (Angaben zur Erstpublikation fehlen oft) oder fehlerhaft sind.

Literatur
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Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München

Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 18.11.2016 zu: Eva Rass, Lotte Köhler: Heinz Kohut. Psychoanalyse in einer unsicheren Welt. Texte aus den Jahren 1960 bis 1981. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2377-3. Gesammelte Werke Band 1. Die ISBN und der Preis verweisen auf das nur geschlossen abnehmbare Paket mit allen 7 Bänden. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/21591.php, Datum des Zugriffs 23.11.2016.

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