Rezension zu Lust-voller Schmerz

Psychotherapeutenjournal 4/2015

Rezension von Florian Steger

Kritische Sexualwissenschaft – eine Kommentierung der Reihe »Beiträge zur Sexualforschung«

Der 100. Band der »Beiträge zur Sexualforschung« ist vor Kurzem erschienen. Der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung gebührt für den mehr als 60 Jahre währenden Atem an dieser Unternehmung Respekt. Dies einmal mehr, als die Sexualwissenschaft einer institutionellen Marginalisierung unterliegt, nicht zuletzt an den Universitäten. 100 Bände machen Mut, dass es auch weiterhin ein großes thematisches Interesse an sexualwissenschaftlichen Fragestellungen gibt und dass die Reihe weiterhin von zahlreichen Bänden einer interdisziplinär zusammengesetzten kritischen Sexualwissenschaft fortgeführt werden kann. Die Reihe wird aktuell von Hertha Richter-Appelt, Sophinette Becker, Andreas Hill und Martin Danecker herausgegeben und erscheint seit dem Jahr 2000 im Psychosozial-Verlag, zuvor im Enke-Verlag.

In den 100 Bänden ist eine intensive sexualwissenschaftliche Diskussion seit 1952 dokumentiert, sodass mit dieser Reihe auch eine historische Dokumentation vorliegt. Die »Beiträge zur Sexualforschung« wurden 1952 von Hans Giese und dem Hamburger Psychiater Hans Bürger-Prinz als Publikationsorgan der jungen »Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung« gegründet. Es ist dies der Beginn und zugleich Versuch gewesen, die Sexualforschung universitär aufzustellen. Dabei schreckte Giese auch nicht davor zurück, bekannte Wissenschaftler verschiedener Disziplinen einzubeziehen, die während der NS-Diktatur politisch engagiert waren, sich dem Nationalsozialismus verpflichtet sahen und deren Karrieren über die NS-Diktatur hinaus kontinuierlich weitergegangen sind. Die kritische Sexualwissenschaft hat diese Vereinnahmung der nationalsozialistischen Sexualforschung aber erkannt und mittlerweile auch selbst dokumentiert und selbstkritisch beschrieben. Die »Beiträge zur Sexualforschung« wurden bis 1970 von Hans Giese und Hans Bürger-Prinz unter Beteiligung weiterer Wissenschaftler verantwortlich herausgegeben. Dann übernahmen Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch die Redaktion. Bis Band 49 waren Bürger-Prinz und Giese Herausgeber, ab 1972 und Band 50 wurde die Reihe von Hans Bürger-Prinz, Eberhard Schorsch, Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch herausgegeben.

Lange Zeit war also Hans Bürger-Prinz und damit ein durch die NS-Diktatur politisch Belasteter Mitherausgeber, was kritisch zu sehen ist, wenn auch die weiteren Herausgeber eine kritische und liberale Sexualwissenschaft vertraten. Erst 1993 mit dem 67. Band wurde der Hinweis »Begründet von Hans Bürger-Prinz und Hans Giese« gestrichen. Es hat also einige Zeit gebraucht, bis sich die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung von der eingegangenen Kontinuität mit einer nationalsozialistischen Sexualforschung in ihrer Publikationsreihe nach außen hin klar distanzieren konnte. Insofern ist diese Reihe ein wichtiges zeithistorisches Dokument für die Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, aber auch darüber hinaus für den individuellen wie gesellschaftlichen Umgang mit sexualwissenschaftlichen Fragestellungen.

Einige Bände möchte ich kurz beschreiben. Der 99. Band »Sexualität und Geschlecht« dieser Reihe, der von Katinka Schweizer, Franziska Brunne, Susanne Cerwenka, Timo O. Nieder und Peer Briken und damit vom Hamburger Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie als Festschrift für Hertha Richter-Appelt herausgegeben ist, vereint »Psychosoziale, kultur-s und sexualwissenschaftliche Perspektiven« einer kritischen Sexualwissenschaft. Die interdisziplinär zusammengestellten Beiträge sind thematisch gegliedert in Geschlecht und Sexualität in Gesellschaft und Politik, psychoanalytische Blicke auf Geschlechtlichkeit, Geschlechtervielfalt: Menschen, Medizin und Lebenswelten, Sexualität, Körper und Geschlecht in der Psychotherapie, Partnerschaft, Sexualität und Liebe; abschließend finden sich einige persönliche Festschriftbeiträge, welche die Geehrte in besonderer Weise würdigen. Liest man die Beiträge, bekommt man auf hohem Niveau einen guten Eindruck in die vielschichtigen Zugänge zu den anthropologischen Fragen von Sexualität und Geschlecht, die letztlich den Kern unseres Menschseins ausmachen. Im 100. Band mit dem Titel »Grenzverschiebungen des Sexuellen«, herausgegeben von Wiebke Driemeyer, Benjamin Gedrose, Armin Hoyer und Lisa Rustige werden »Perspektiven einer jungen Sexualwissenschaft« deutlich. Volkmar Sigusch freut sich im beigegebenen Vorwort, »wie gedankenreich und kritisch eine neue Generation der Sexualforscher_innen ist« (S. 9). Das Hamburger Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, mit welchem sich diese neue Generation vernetzt hat, zeigen, wie wichtig eine kritische Sexualwissenschaft ist, die nur interdisziplinär zu haben ist. Denn weit über Medizin und Psychologie hinaus haben viele – so auch aus den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften – etwas zu einer kritischen Sexualwissenschaft beizutragen. Dies führt aber auch dazu, dass die Sprache der Verständigung über die Themen vielschichtig und meines Erachtens nicht immer einfach zu verstehen ist. Liest man die Beiträge zu den »Grenzverschiebungen des Sexuellen« sind diese zwar durchaus anregend, sprachlich sind aber nicht alle Beiträge von gleicher Klarheit und Präzision. Dieser 100. Band enthält Beiträge, die im Herbst 2013 in Hamburg im Rahmen der 24. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung zum Thema »Grenzen« von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgestellt wurden, die dem Nachwuchsnetzwerk Sexualforschung und Sexualtherapie angehören.

Mit den »Grenzverschiebungen« wählen die jüngeren Autorinnen und Autoren ein Thema, das – verschafft man sich über die Reihe einen Überblick und liest man in die anderen Bände der Reihe hinein – schon immer ein Kernthema der Sexualwissenschaft war. Als 96. Band der Reihe haben Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt einen umfangreichen interdisziplinären Band »Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen« herausgegeben, in welchem handbuchartig über die Probleme berichtet wird, mit denen Menschen zu kämpfen haben, die nicht eindeutig einem biologischen Geschlecht zuzuordnen sind. Sigusch bringt den Gegenstand der Auseinandersetzung in seinem Vorwort auf den Punkt: »In unserer ach so neoliberalen Gegenwartskultur aber gibt nach wie vor nicht nur die Heteronormativität den Ton an, sondern auch die Zweigeschlechtnormativität.« (S. 11) Grenzen bzw. deren Überschreitungen sind aber auch in an deren Bänden dieser Reihe thematisiert: Sophinette Becker, Margret Hauch und Helmut Leiblein haben im 93. Band »Sexualwissenschaftliche und psychotherapeutische Perspektiven« zu dem für die psychotherapeutische Praxis relevanten Thema »Sex, Lügen und Internet« zusammengestellt. Hier werden Beiträge und Diskussionen dokumentiert, welche im Mai 2008 in Münster im Rahmen der 4. Klinischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung geführt wurden. Die Reihe »Beiträge zur Sexualforschung« wurde damals von Martin Dannecker, Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch herausgegeben. Im 90. Band »Lust-voller Schmerz«, herausgegeben von Andreas Hill, Peer Briken und Wolfgang Berner, geht es um »Sadomasochistische Perspektiven«. Und wieder wird ein interdisziplinärer Blick gewählt und die Lust am Schmerz, an der Demütigung und Ohnmacht weit über eine psychopathologische Perspektive hinaus als Teil eines kulturellen Selbstverständnisses deutlich. Und im 80. Band »Die Wirklichkeit transsexueller Männer« schreibt Jannik Brauckmann, der selbst betroffen ist, auch über Grenzen bzw. deren Verschiebungen, über »Mannwerden und heterosexuelle Partnerschaften von Frau-zu-Mann-Transsexuellen«. Doch noch einmal zurück zum 100. Band, den junge Sexualwissenschaftlerinnen und Sexualwissenschaftler geprägt haben. Es geht ihnen um Grenzverletzungen bei Tätern und Opfern, wenn der sexuelle Missbrauch thematisiert wird. Dann geht es um Konstitution und Institution von Grenzen des Sexuellen, so werden die sexuelle Aufklärungsarbeit bzw. die sexualmedizinische Lehre Gegenstand der Diskussion. Es geht um sexuelle Beziehungsweisen, Solosexualität und irgendwie andere Sexualitäten, wenn One-Night-Stand, Masturbation und hypersexuelles Verhalten thematisiert werden. Schließlich geht es um Geschlechtergrenzen und Intermediärräume.

Schon diese wenigen thematischen Einblicke in den 100. Band zeigen, dass auch auf sprachlicher Ebene die »Verschiebung von Grenzen der Geschlechterordnung« (S. 36) Thema einer kritischen Sexualwissenschaft ist. Hat man diesen 100. Band vor Augen, dann kommt hier eine jüngere kritische Sexualwissenschaft zu Wort. Interdisziplinär und damit vielschichtig werden sexualwissenschaftliche Fragestellungen aufgegriffen. Dabei werden zwar neue Wege des Verstehens und Beschreibens gesucht, aber es werden mit den Grenzverschiebungen auch zentrale sexualwissenschaftliche Fragestellungen aufgegriffen, welche, blickt man über die mehr als 60 Jahre bestehende Reihe »Beiträge zur Sexualforschung« hinweg, immer wieder Gegenstand waren. Das verwundert auch nicht, werden mit Sexualität und Geschlecht, dem Titel des 99. Bandes, anthropologische Themen aufgegriffen, die je nach Zeitumständen, gesellschaftlichen Vorstellungen bzw. individuellen Herangehensweisen neu und anders diskutiert werden. 100 Bände machen Lust auf mehr. Das wünsche ich der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung und ihrem Publikationsorgan »Beiträge zur Sexualforschung«: Ad multos libros!

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