Rezension zu Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung
Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 42.Jg. 2/2006
Rezension von Sonja Wuhrmann
Dieses erste Buch über gruppenanalytische Supervision und
Organisationsberatung zeigt, wie groß inzwischen das Praxisfeld
ist, in dem die gruppenanalytische Methode angewandt wird. Nicht
überraschend dabei ist die Tatsache, dass sie im Gesundheits- und
Sozialbereich breitere Anwendung findet als etwa in Politik und
Wirtschaft. Einer der Gründe dafür dürfte sein, dass die meisten
Gruppenanalytiker/innen über Feldkompetenz im erstgenannten Bereich
verfügen, in dem sie in der Regel auch beruflich sozialisiert
wurden. In den meisten Beiträgen des Bandes wird die gesellschafts-
und kulturrelevante Umgebung thematisiert. Dort aber, wo der Autor
oder die Autorin glaubt, neue Wege zu beschreiten oder allein auf
weiter Flur zu sein, wird der umgebende Hintergrund, der untrennbar
mit jeder Organisation in Verbindung steht, besonders sorgfältig
dargestellt. Und hier wird denn auch das gruppenanalytische Denken
sehr deutlich sichtbar, in welchem die Vernetzung immer im
Vordergrund steht. Die Herausgeber sehen zudem das Besondere der
gruppenanalytischen Supervision und Organisationsberatung in der
gruppenanalytischen Grundhaltung, der methodisch reflektierten
Subjektivität. Gemeint ist damit die Funktion des »holding
together« (Hearst), was bedeutet, dass Gruppenanalytiker/innen
alles, was ihnen verbal und nonverbal entgegenkommt, in der
Gegenübertragung aufnehmen, es sorgfältig wahrnehmen, als Figur vor
dem Hintergrund (Grundmatrix) den Sinn daraus zu erschließen
versuchen (containing) und auf Grund dessen ihre Interventionen
gestalten. Die Grundmatrix ist das, was S. H. Foulkes unter den
gesellschaftlichen, kulturellen und zeitlichen Einflüssen versteht,
denen jede Organisation in ihrer Gesamtheit unterworfen ist. Eine
Organisation wird immer als Teil eines Systems verstanden, in dem
alles von allem abhängig ist und sich damit in ständiger Bewegung
befindet. Gerade heute, in einer globalisierten Welt, in der
Veränderung zum einzig Stabilen wird, kann diese Sichtweise einer
sich durch Einflüsse von außen und innen ständig wandelbaren
Dynamik sehr hilfreich sein, um Konflikte zu verstehen. Rudolf
Heltzel spricht denn auch weniger von »containing« als vielmehr von
»connecting«. Die Aufgabe der Beratenden sei es, die einzelnen
scheinbar voneinander unabhängigen Teile miteinander in Verbindung
zu bringen.
Diese Sichtweise stellt insbesondere einen Gegensatz zur
psychodynamischen Organisationsberatung und zur Sozioanalyse dar,
die sich aus der Tavistock-Tradition entwickelt haben. Denn das
dyadische Denken – Berater auf der einen Seite und Organisation
oder Team auf der anderen – greift nach Meinung der Autoren und
Autorinnen zu kurz. Weil das Verständnis einer Störung oft auf
einem psychoanalytischen und damit individualpsychologischen
Hintergrund beruht. Im gruppenanalytischen Verständnis hingegen
steht die Vernetzung im Zentrum. Die Konflikte werden auf dem
Hintergrund des sozialen Handelns einer Gruppe verstanden. Also weg
vom Individuum hin zur Vorstellung, dass das Individuum im Rahmen
der Gruppe eine bestimmte Rolle übernimmt, die durch die soziale
Umwelt bestimmt wird. Damit bleibt immer die Gruppe im Blickfeld,
unabhängig davon, ob es sich in der Beratungsarbeit um das Coaching
Einzelner, eines Teams oder einer ganzen Organisation handelt.
Dieser Unterschied zur Tavistock-Tradition wird in der Einleitung
augenfällig. Während Wilfred Bion mit seiner Theorie der
Grundannahmen eine ausschließlich dyadische Situation zwischen
Leitung und Gruppe zum Untersuchungsgegenstand machte und ein
psychoanalytisches Konzept entwickelte, wird das die Gruppe
umgebende Umfeld vernachlässigt. Die Gruppenanalyse hingegen
repräsentiert seit ihren Anfängen bereits ein Netzwerk
verschiedener theoretischer Richtungen, in welches die
Psychoanalyse, die Soziologie, die Neurologie und die
Gestalttheorie einflossen. Auch Foulkes selbst erscheint als Name
außerhalb der gruppenanalytischen Bewegung kaum persönlich, sondern
vielmehr als Mitglied einer Gruppe, welche die gruppenanalytische
Methode entwickelt hat. Interessant dabei ist, dass sowohl die
Tavistock-Tradition als auch die Gruppenanalyse den Ursprung ihres
Denkens am selben Ort lokalisieren, nämlich im Northfield Military
Hospital. Bions Gruppenexperiment wird zum bedeutenden Grundstein
in der Theorie der Sozioanalyse, nicht zuletzt deshalb, weil er
aufgrund dieser Erfahrungen die Theorie der Grundannahmen
entwickelt hat, die auch für die Gruppenanalyse unverzichtbar ist.
Foulkes aber, als Nachfolger Bions im Northfield Military Hospital,
iniziierte mit Kollegen die erste therapeutische Gemeinschaft. Die
Tatsache, dass Foulkes dort erstmals nicht nur mit therapeutischen
Kleingruppen arbeitete, sondern einen im eigentlichen Sinne
systemischen Ansatz von Therapiegruppen, Aktivitätsgruppen und
Arbeitsgruppen anwandte und die Klinik insgesamt als ein
zusammenhängendes therapeutisches Feld verstand, ist bis heute fast
unbekannt. Von Beginn an floss also organisationales Denken in die
gruppenanalytische Theorie ein. Während ihr »Fremdes« zu
integrieren, immanent ist und sie sich dementsprechend auch von der
Tavistock-Tradition beeinflussen lässt, ist dies umgekehrt (noch)
nicht der Fall.
Um aber im außer-therapeutischen Feld erfolgreich zu arbeiten, wird
zusätzliches Wissen benötigt, was aus der Lektüre des Buches
deutlich wird. Theorien und Konzepte der Systemtheorie, der
Organisationssoziologie und der Organisationsentwicklung und
-beratung müssen miteinbezogen werden. Zudem wird deutlich, dass
Feldkompetenz als eine Notwendigkeit betrachtet wird oder, wenn sie
nicht vorhanden ist, die vertiefte Auseinandersetzung mit dem
fremden Arbeitsfeld. So nennt Georg Gfäller seine Arbeitsweise auch
»gruppenanalytisch fundierte Organisationsberatung«.
Das Essentielle der gruppenanalytischen Supervision und
Organisationsberatung ist die gruppenanalytische Grundhaltung,
worüber sich alle Autoren einig sind. Deutlich wird aber auch, wie
unterschiedlich bzw. individuell gearbeitet wird. Zwangsläufig
müssen so auch Widersprüche auftauchen. Hans Bosse stellt sein
Konzept im Beitrag »Vier Gründe, einen Organisationsberater oder
einen Supervisor zu rufen: Gesellschaftliche Bedingungen
gruppenanalytischer Organisationsberatung und Teamsupervision« vor.
In seinem Verständnis geht es allein darum, dem Klienten eine neue
Kenntnis seiner eigenen Praxis zu ermöglichen. Gerade die
Enthaltsamkeit, so Bosse. das heisst der Verzicht auf
arbeitspraktische Anweisungen, unterscheidet diese Beratungsform
von anderen. Erkenntnisziel ist immer das gemeinsame Aufspüren des
dynamisch unbewussten bzw. unbewusst gemachten Motivs einer
Handlungsroutine. Die Supervisionssituation wird als
gesellschaftliche Szene verstanden, in der unbewusste
Gesellschaftsprojektionen wirksam sind. Georg Gfäller dagegen
plädiert in seinen beiden Beiträgen. die aus dem Wirtschaftsbereich
und der Politik stammen, gerade dafür, eine Führungsposition
einzunehmen. Der gruppenanalytisch fundierte Führungsstil soll
Modellcharakter für den Führungsstil der Organisation
darstellen.
Die siebzehn Beiträge beinhalten eine Vielfalt an Themen. Während
die einen die Dynamik in Organisationen und dementsprechend
theoretische Konzepte in den Vordergrund stellen (Machtthematik.
Geschlechterdynamik), beschäftigen sich andere mit ausführlichen
Falldarstellungen. die das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld
(kirchliche. pädagogische. psychiatrische und strafrechtliche
Organisationen) oder gesellschaftliche Phänomene
(Migrationsthematik) ins Zentrum rücken. Im Weiteren wird die
Bedeutung der gruppenanalytischen Beratung in
Non-Profit-Organisationen in der Politik und in der Wirtschaft
dargestellt. Auch den Veranstaltungen von Großgruppen sind zwei
Beiträge gewidmet.
Im Folgenden möchte ich drei Beiträge der Herausgeber und der
Herausgeberin aufgreifen, weil sie spiegelbildlich für das ganze
Buch stehen und gleichzeitig die wichtigsten Bereiche der
Beratungsarbeit abdecken, nämlich vom gruppenanalytischen Coaching
(Haubl) über Organisationsberatung (Heltzel) bis zur Supervision
(Barthel-Rösing). Die unterschiedlichen Konzepte – aufgrund
individueller Erfahrungen entwickelt – zeigen. wie die Anwendung
der gruppenanalytischen Methode mit der Rolle und der
Persönlichkeit der Berater oder der Beraterin verschmilzt.
Der Beitrag von Rolf Haubl »Mikropolitik für gruppenanalytische
Supervisoren und Organisationsberater« untersucht das Thema der
Macht. Er unterscheidet zwischen Macht und Gewalt und differenziert
die Macht. Neben dem formalen Aspekt stellt die Macht immer auch
eine mikropolitische Determinante dar. Zentral dabei ist, dass die
Macht nicht bei einzelnen Individuen lokalisiert wird, sondern als
mitbestimmender Teil alles sozialen Handelns in Organisationen
verstanden werden muss. Jede Organisation verfügt über eine
Machtmatrix. Wie eine Landkarte spiegelt sie die Organisation auf
einer informellen Ebene. Subjektiverweise wird diese bei allen, die
in der Organisation mitarbeiten, wieder anders aussehen. Das heißt
auch, dass Macht nicht statisch ist, sondern ein sich ständig
veränderndes Beziehungsnetz widerspiegelt, in dem Macht genommen
und gegeben wird. Einleuchtend ist, dass es gerade im
Einzelcoaching hilfreich sein kann, den Fokus darauf zu richten,
etwa durch Fragen wie: Welche Macht haben Sie im Beziehungsnetz der
Organisation? Wer übt Macht über wen und mit welchen Mitteln aus?
Was muss man tun, um seine Interessen in der Organisation vertreten
zu können? Diese Fragen ergeben ein Bild der Machtstrukturen in
einer Organisation. Schließlich versteht Haubl Macht auch als
triadisches Element. So spiegeln sich die Machtverhältnisse immer
auch im Umgang mit dem Berater und ermöglichen so ein Verständnis
der Organisation. Sein Rollenverständnis als gruppenanalytischer
Organisationsberater ist, sich selbst als Lernenden zu begreifen.
Diese Haltung erlaubt es, die dem Berater oft zugewiesene
Expertenrolle nicht anzunehmen und damit den Prozess im Team zu
belassen. Was nicht heißt, dass er sein Wissen nicht einbringen
kann, denn entscheidend ist seine Haltung. Der Supervisor macht
sich damit auch ein Stück weit zum ausgeschlossenen Dritten, nimmt
also eine Position ein, die nach Norbert Elias als
»Distanzierungsfähigkeit-in-Beteiligtsein« verstanden werden kann.
Diese einsame Position muss ausgehalten werden, um der Organisation
die Autonomie des organisationalen Lebens zu lassen. Letztlich muss
das Bewusstsein vorherrschen, dass man in einer Organisation einen
Prozess iniziieren kann, die Organisation aber den Prozess so
integrieren muss, dass der Berater überflüssig wird. Eindrücklich
wird in diesem Artikel gezeigt, dass Macht nur gruppal zum Ausdruck
kommen kann, weil sie Teil der Dynamik ist, auch wenn die
Machtpositionen formal bei Einzelnen liegen.
Rudolf Heltzel beschreibt in seinem Beitrag »Gruppenanalytische
Beratung in Non-Profit-Organisationen« seine Methode, die er über
Jahre hinweg entwickelt hat, und schildert sehr anschaulich,
inwiefern er sich von anderen Beratungsmethoden abgrenzt und welche
Konzepte er mit einbezieht. So vergleicht er verschiedene
Beratungsmodelle mit der gruppenanalytischen Methode. Die
gruppenanalytische »Organisationssupervision« versteht er als
systematische Förderung der Selbstreflexion des Systems. Dies
ermöglicht die Wahrnehmung und das Verstehen tiefer unbewusster
emotionaler Prozesse ebenso wie die Klärung von
Aufgabenorientierung. Damit trägt sie insgesamt zur Entwicklung des
Teamgedankens und der Kommunikation innerhalb der Organisation bei.
Zentral ist, dass die Organisationsleitung immer in irgendeiner
Form miteinbezogen werden muss, auch wenn nicht die ganze
Organisation am Prozess beteiligt ist. Zudem schildert er
ausführlich den gesellschaftlich-kulturellen Hintergrund dieses
Bereiches und seiner Bedeutung als intermediäre Organisationen
zwischen Wirtschaft und Staat, denen eine immer wichtigere Funktion
zukommt.
Marita Barthel-Rösing zeigt in ihrem Artikel «Gruppenanalytische
Supervision als Integration von Fallarbeit und Teamentwicklung«
auf, wie förderlich gruppenanalytische Supervision sein kann, wenn
es keine Trennung zwischen Fall- und Teamsupervision gibt. Da
gruppenanalytisches Denken die Institution immer mitberücksichtigt,
ist es für jegliche Supervision erforderlich, Institutionsanalyse
zu betreiben. Das heißt, dass die Reduktion auf Fallsupervision
auch als Abwehrbündnis des Teams verstanden werden kann. Wichtig
ist es, so die Autorin, dem Auftraggeber verständlich zu machen,
dass Supervision nicht auf die Bearbeitung von Fällen beschränkt
werden kann, weil sich die Institutionsdynamik darin spiegelt. Denn
schwierige Themen werden nicht zum Verschwinden gebracht, indem sie
nicht ausgesprochen werden. Für Barthel-Rösing ist denn auch
wesentlich an ihrer Supervisionstätigkeit das Aufnehmen und
Aushalten von Angst, um sie der Bearbeitung zugänglich zu machen.
Dies ist aber nur dann möglich, wenn sich ein entsprechend freier
und sicherer Raum entfalten kann, in dem sich das Team seinen
Ängsten und Befürchtungen langsam annähert. Das Ergebnis ist eine
wachsende Kommunikationsfähigkeit im Team und eine Zunahme an
Selbstwerterleben. Diesen Raum zu schaffen, das ist die
vordringliche Aufgabe der gruppenanalytischen Supervision.
In diesem Buch wird der Unterschied zwischen Supervision und
Organisationsberatung deutlich herausgearbeitet. Aus den Beiträgen
von Georg Gfäller und Erhard Tietel wird zudem deutlich, dass
zusätzliches Wissen über Organisationspsychologie, aktuelles Wissen
um Veränderungen in Organisationen und betriebswirtschaftliche
Kenntnisse zwingend sind, um wirkliche Organisationsentwicklung in
der Wirtschaft leisten zu können.
Für gruppenanalytische Supervisions- und Organisationsberater/innen
– so das Fazit des Buches – ist es wichtig, sich der eigenen
Grenzen bewusst zu sein und nicht der Begeisterung zu verfallen,
dass der gruppenanalytische Ansatz anders und darum besser sei.
Begeisterung und Leidenschaft für die Gruppenanalyse allein reichen
nicht, vor allem deshalb nicht, weil der psychosozialen Abwehr eine
wichtige Bedeutung zukommt. Erhard Tietel verwendet in seinem
Beitrag »Vertrauen ist gut – Betriebsräte sind besser: über einen
eigenwilligen Dritten in der betrieblichen Arena« einen Begriff von
Kratzer, wonach die Organisation von heute eine »Organisation von
Unbestimmtheit« sei. Diese Unbestimmtheit zwingt zu einer
verstärkten psychosozialen Abwehr. Die Gruppenanalyse aber, die mit
dem unstrukturierten Raum arbeitet, um Unbewusstes bewusst werden
zu lassen, kann Gefahr laufen, gerade diese Abwehr zu verstärken.
wenn sie methodisch nicht entsprechend modifiziert wird. Rolf Haubl
betont denn auch im Nachwort, dass dieser Sammelband erst einmal
dokumentiere, wie weit sich die Praxis gruppenanalytischer
Supervisions- und Organisationsberatung entwickelt hat. Er zeige
aber auch auf, dass damit lediglich der erste Schritt zu einer
Konzeptualisierung gemacht sei. Dies kommt auch im Bemühen zum
Ausdruck. sich von anderen Methoden abzugrenzen. insbesondere von
der Tavistock-Tradition, die in vielen Beiträgen einleitend
beschrieben wird, was dann beim Lesen oft zum Eindruck von
Wiederholungen führt.
Zu hoffen ist. dass das Buch Interesse für das gruppenanalytische
Denken zu wecken vermag und auch außerhalb der eigenen Reihen auf
Resonanz stoßen wird. Empfohlen sei es deshalb all denjenigen. die
sich für die Arbeit in Organisationen interessieren. besonders aber
Leserinnen und Lesern. die sich mit dem Unbewussten in
Organisationen auseinandersetzen.